In der Bergpredigt hatte der Herr Jesus mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, dass er durchaus nicht als derjenige angesehen werden wolle, der Gesetz und Propheten auflöse, dass er vielmehr sie zu erfüllen da sei. Demgemäß ist es ihm vor allem ein Anliegen, dass seine Jünger ihm darin nachfolgen und sich in der echten Gottesgerechtigkeit, wie sie dem Geiste der Schrift entspricht, finden lassen möchten. Diese Gottesgerechtigkeit wird vor allem dadurch im Menschen begründet, dass von ihm jedes Wort im Gesetz und in den Propheten gewürdigt und ihr bleibender Wert in der Welt geltend gemacht wird. Diese Stellung im Worte Gottes führt in nächster Folge zur rechten Frömmigkeit. Wie die Gerechtigkeit der Jünger Jesu bezüglich der Haltung zum Worte Gottes eine bessere sein muss als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so soll auch demgemäß die Äußerung dieser Gerechtigkeit, die Frömmigkeit eine bessere, wahrhaftigere und zweckentsprechendere werden. Sie soll einen wirklichen Wert bekommen, als ein Gottesdienst, der auch seinen Lohn hat.
Der Herr nennt dreierlei Betätigung der Frömmigkeit, das Almosengeben, das Beten und das Fasten. Man kann sagen, dass derjenige, der in diesen drei Stücken recht ist, das ganze Gebiet der Frömmigkeit recht ausfüllt, d.h. ein ganz frommer Mensch ist. Als Mittel- und Höhepunkt der Frömmigkeit stellt sich das Gebet dar. Dieses wird in der ganzen Schrift vor allem anderen von den Kindern Gottes gefordert, und auch der Heiland legt einen besonderen Nachdruck auf die Worte, welche uns beten lehren sollen. Darum wollen wir sie besonders beherzigen, um so mehr, da auch menschliche Triebe zum Beten in uns sich finden, so dass alle Welt betet, selbst die Heiden. Aber gerade da gilt es aufzumerken, dass nicht Menschliches, ja Heidnisches in uns betet, sondern Göttliches. Auch das Beten will Gott selbst in der Hand behalten und regieren, damit es in der Wahrheit geschehe und er solche Leute habe, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.
Auf dreierlei Unsitten beim Beten, die immer wieder sich hervordrängen, macht der Heiland aufmerksam, indem er vom Beten im allgemeinen spricht: Merk auf, dass du es nicht heuchlerisch machst; merk auf, dass du es nicht aufs Öffentliche abhebst; merk auf, dass du nicht viel Worte machst wie die Heiden.
Demgemäß beginnt der Herr mit den Worten in der Bergpredigt (Matth. 6):
V.5 „Und wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gern stehen und beten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf dass sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin.“
Der Herr hat sein Augenmerk auf die Pharisäer, welche eben die waren, die überall vor den Leuten als Beter erscheinen wollten und denen es seine Jünger nicht nachmachen dürfen. In den Schulen oder Andachtshäusern erhoben sie sich gerne als Beter. Sie beteten wohl auch in sehr feierlichem Tone, mit beweglicher Stimme und mit eigentümlichen Gebärden, welche eine innere Erregung anzeigen sollten. Wie viel wurde da doch auch den Zuhörern zugemutet, welche diesen Gebeten im Geiste nachfolgen sollten und es doch nicht so ganz vermochten, zumal wenn meist mehrere Beter sich hören ließen! Die anderen standen ebenso da, als die Gedankenlosigkeit selber, obwohl etwa dennoch an den Betern hinaussehend. Etwas Bestimmtes hatten wohl die Beter auch nicht im Auge; sondern es mögen nur so allgemeine Redenswarten gewesen sein, da es außerordentlich fromm lautete und doch mit allem nichts gesagt war, nichts, das den Zuhörern eine Erbauung bot. Bei uns gibt es auch je und je Christen, die allzeit fertig sind zum Beten und es erwarten, dass man nur immer sie zum Beten auffordere, die aber auch ohne Aufforderung in Versammlungen, und wo sonst viele der Ihren beieinander sind, auch in öffentlichen Lokalen, auf einmal auftreten und sagen: „Wir wollen miteinander beten,“ ob’s nun den Anwesenden passe oder nicht passe, da sie doch nicht alle jetzt gerade zum Beten aufgelegt sind. Dreinreden aber darf man nicht. Das wäre ja unfromm; und wer will’s wehren, wenn man beten will? Sind alle einig, so ist’s schon recht. Aber oft hat man auf Nebenpersonen eine Absicht, die nicht zum Kreise gehören und auf die man einen Eindruck machen will, was indessen doch dem Pharisäischen sehr nahe kommt. Dass oft nicht viel daran ist, kann man an dem sehen, dass alle hintennach gar nicht aussehen, als ob gebetet worden wäre. Bewegung, Rührung, Andacht hat’s nicht leicht zur Folge. Ist’s aus, so ist’s wie wenn nichts gewesen wäre.
Die Pharisäer hatten auch den Brauch, an die Ecken auf den Gassen hinzustehen und zu beten, oft stundenlang, dass sie allen Vorübergehenden in Sicht waren, die dann eine fromme Verneigung machen sollten, wenn sie die fromme Haltung und die Bewegung der murmelnden Lippen der Beter sahen und hörten. Ob wohl Gott selbst, an den die Gebete gerichtet waren, zuhörte, möchte man fragen? Ich meine, nicht; und wenn man überhaupt denken muss, der Herr werde sich nicht herbeilassen, zuzuhören, da sollte man lieber stille sein. Viel Wesen machen viele auch mit den Tischgebeten, an Orten, wo sie damit auffallen. Frei stehen sie hin, laut oder leise betend, damit es jedermann sehe, wie man auch zu Tisch beten solle, meinen dann auch, nur die seien rechte Leute, die zu Tisch beteten, und je freier, desto besser, weil es dann ein Bekenntnis sei. Oft mag sich’s ungezwungen machen. Aber sind’s nur einzelne Personen, habe ich schon gedacht, ob man nicht an fremden Orten auch stille, sitzend, bescheiden, unmerklich, beten dürfte, um wirklich Segen für die Speise zu empfangen. Denn um diesen Segen handelt es sich, nicht darum, dass mich andre beten sehen. Den Segen aber habe ich doch nur gewiss, wenn ich wirklich und still, nicht vor den Leuten, mit dem Herrn rede und nicht Nebenabsichten mit meinem Beten habe.
Solch ein andren Leuten vorgerücktes Beten nennt der Heiland Heuchelei, und er scheut sich gar nicht, ohne weiteres alle, die mit dem Beten prunken, Heuchler zu nennen. Und er hat recht; denn der Mensch, der so betet, hat mehr sich selber im Auge und stellt sich selber den Leuten vor, anstatt den Herrn und seine Ehre. Hüten wir uns also vor solcher Heuchelei!
Der Heiland gibt noch eine Weisung, wie man beten soll:
V.6. „Wenn aber du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene siehet, wird dirs vergelten öffentlich.“
Steif gesetzlich darf man diese Worte nicht nehmen, als ob nur im Kämmerlein gebetet werden dürfe. Oft muss man öffentlich beten. Öffentlich kann’s nötig werden in allerlei Versammlungen. Öffentlich ist auch das Gebet, das der Hausvater mit den Seinen verrichtet. Je und je beten ihrer zwei oder drei, auch mehrere miteinander; und da kanns auch wie im Kämmerlein sein, weswegen der Heiland verheißt, in deren Mitte zu sein, oder desto gewisser zu erhören (Matth. 18, 19. 20). Oft sollte freilich da das Beten mehr ein erbaulicher Verkehr mit einander sein, als ein Hersagen von Gebetsworten nach gelernten Redensarten. Es kann auch sonst seine Bedeutung haben, dass du vor anderen betest, weil ein Anrufen des Herrn auch ein nötiges Bekenntnis in sich schließt, wie bei Salomo (1. Kön. 8, 14. 15. 54), und wiederum bei Daniel (6, 11). Auch darf eine Erhörung solchen gemeinschaftlichen Betens erwartet werden, wie eben angedeutet und wie es dort war (Apg. 4, 31), da die Stätte sich bewegte, als sie beteten, und damals als sie für Petri Befreiung beteten (Apg. 12, 5. 11). Wie lieblich, wenn wirklich aller Herzen dabei sind und alle einmütiglich sind, wie die um die ersten Pfingsten. So ist’s ja eigentlich ein Beten wie aus Einem Munde, kein Beten vor den Leuten, ja ein Beten wie im Kämmerlein.
Wenn aber nun der Herr das Beten im Kämmerlein so sehr betont, so will er damit sagen, dass Gott seinen Verkehr mit denen, die ihm nahe stehen oder nahe treten wollen, überhaupt im Verborgenen halten wolle. Gott ist ein verborgener Gott und wer’s mit ihm zu tun haben will, muss aus der Weltöffentlichkeit hinaus in das Verborgene, wo Gott ist. Aber auch der Inhalt der Gebete fordert häufig die Einsamkeit und wohl immer die Verborgenheit. Dies ist schon der Fall, wenn man bezüglich seines inneren Menschen, seiner Sünden der Ablegung seiner Unarten und Gebrechen beten will. Auch gibt es Kämpfe, die der einzelne hat mit dem Feinde, wie sie auch der Herr in der Einsamkeit und im Verborgenen gekämpft haben mag. Überhaupt kann man für besondere Anliegen, auch für Freunde oder Feinde, in leiblichen und geistlichen Nöten, doch nur einsam mit rechtem Ernst beten. Vieles bekommt nur dadurch eine Bedeutung vor Gott, weil man’s nur in der Einsamkeit brünstig vor Gott bringen kann, wie man’s nicht kann, wenn oft auch nur eines dabei ist. Diese Gebete können sehr wichtig werden und viel, auch für die Sache des Herrn, ausrichten; und eben weil mit ihnen das Herz wirklich vor dem Herzen Gottes steht, sind’s Gebete im Verborgenen, die einmal öffentlich vergolten werden. Wer nicht in der Einsamkeit zu beten weiß, ist eigentlich kein Beter und sammelt sich mit allem feinem sonstigen Beten nichts für drüben. Wenn Kornelius nicht einsam gebetet hätte, wie man aus dem Fasten ersieht, wäre ihm gewiss der Engel nicht erschienen (Apg. 10, 30). Soll dein Gebet Früchte tragen, namentlich auch für andere und für das Reich Gottes, so muss das nach den Worten des Herrn ein verborgenes sein, weil alles Verborgene des Rechts wegen dort offenbar werden muss. Dort muss es schon denen, für die du im Stillen und Verborgenen mit priesterlichem Geiste gebetet hast und die du vielleicht damit aus den Klauen der Finsternis gerissen hast, öffentlich von dir gesagt werden. Auch was du im Verborgenen dem Herrn in die Hände gearbeitet hast, dass seine Feinde unter seine Füße kämen, der seufzenden Kreatur zu gut, wird dort dir eine öffentliche Vergeltung bringen. Du siehst hier, wie es allein mit dem verborgenen Beten gemeint sein kann. Aber deine oft ungeschickten und eigenliebigen Andächteleien, bei denen du nur immer selige Gefühle haben und herbeten willst mit überaus vielen Worten, die doch der Heiland ausdrücklich verbietet (V. 7), haben keinen Wert vor Gott, dass ihrer im Himmel sollte wieder gedacht werden, ebenso wenn du so viel unnötiges Stürmen und Ringen und Kämpfen um Frieden, um Gefühle der Kindschaft und Vergebung der Sünden hast, darunter dir’s, wie wenn du am Rande der Verzweiflung stündest, immer düsterer zu Mut wird, je mehr du dich abarbeitest. Denn da betest du im Unglauben, als ob der Heiland unerbittlich wäre, und nicht in dem Glauben, dass der Heiland da ist und erhört, auch wenn du augenblicklich kein Gefühl davon hast, wie du denn zum Fühlen dir immer selbst im Wege stehst. Wie sollte dergleichen einmal rühmend von dir erwähnt werden können?
Noch einen weiteren Fehler, den viele beim Beten haben, berührt der Herr mit den Worten:
V. 7 f. „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern, wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr euch ihnen nicht gleichstellen. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.“
Unter dem Plappern, wie es die Heiden machen, versteht der Herr das gedankenlose, stets wiederholte, bis zu unverständlichen Tönen verzerrte Hersagen irgendwelcher Gebetsworte. Heiden wissen ja nichts von einem Gott, zu dem sie einen Zugang durch Christum gewonnen haben, und meinen, wenn’s nur durch den Mund gehe, so reiche das hin zu einer Erhörung, namentlich, wenn’s auch viele Worte seien. Jünger des Herrn sollen es nun nicht nur nicht so gedankenlos machen wie die Heiden, sondern auch nicht so wortreich, wie es die Heiden in einer Art Verzweiflung machen. Wie dürften doch viele der Beter unsrer Tage sich das besser zu Herzen nehmen! Denn was haben sie von ihren vielen Worten? Gewiss nichts anderes als immer größere Unruhe und Beängstigung, die bis zur Störung des Geistes sich steigern kann. Wo Unglaube und Verzagtheit, oft auch ein heißes Verlangen nach süßen Gefühlen solchem Wortemachen zu Grund liegt, kann auch Gott nicht sehr darauf achten. Seine Bedürfnisse aber darf man denn doch alle vor Gott aussprechen, wie auch in dem Wort liegt: „Ehe denn ihr ihn darum bittet“, also doch bittet, aber nur, damit man sich’s selbst bewusst werde, dass man ihretwegen sich an Gott wende, nicht damit er erst erfahre, was wir bedürfen. Aber die Sachen so breit mit umständlichen Worten vor Gott auseinanderzusetzen, ist darum einfältig, weil es dann aussieht, als ob man das tun müsse, damit es Gott ja recht wisse, wie es mit allem stehe. Freilich sehnen wir uns auch nach einer Zeit, in welcher die Erhörung wieder völliger und handgreiflicher ins Licht treten möchte, als wir im allgemeinen es erfahren, da Gott häufig als der erscheint, der sich von unsren Gebeten abwende, was viele in ihren Gebeten fast so verlegen macht, als es die Heiden sind. Aber andrerseits könnten wir bei größerer Einfalt und völligerem Glauben auch in jetziger bedrängter Zeit viel weiter mit unseren Gebeten kommen. Harren wir des Herrn!
Der Herr will seinen Jüngern ein Mustergebet geben, nachdem er einige allgemeine Mahnungen über das Gebet gesagt hatte. Wir nennen es das Vaterunser, sollten’s aber vielmehr seinem Inhalt nach das Reichsgebet nennen. Er muss dieses Gebet mehrmals seinen Jüngern gesagt haben; oder hat es Matthäus hier von sonst hereingetragen, wenn er mit der Bergpredigt etwas Zusammenfassendes aller Vorträge des Herrn geben wollte. Lukas nämlich (11, 1-4), der auch das Vaterunser anführt, sagt, die Jünger hätten einmal, nachdem der Herr aufgehört hatte, abgesondert zu beten, ihn aufgefordert, sie beten zu lehren, wie auch Johannes der Täufer seine Jünger gelehrt hätte. Es war ihnen wirklich um ein Mustergebet zu tun, oder um ein Gebet, in welchem ihnen das Wichtigste, das sie auf dem Herzen zu tragen hätten, gesagt wäre, für Zeiten und Augenblicke, da sie beten wollten und doch nicht gerade um etwas sonst Besonderes zu beten veranlasst wären, damit sie wenigstens das Wichtigste betend vor Gott aussprächen. Ein solches Gebet hatte schon Johannes seinen Jüngern gegeben, wie Lukas sagt, welches wohl nicht minder kurz und bündig gewesen ist, als das Vaterunser. Der schwache Mensch hat das Bedürfnis, für sein Gebet, wenn es eine Bedeutung haben soll, etwas Bestimmtes zu haben, damit er nicht in ein ungewisses und inhaltleeres Wortemachen hineinkomme. Hat sich der Herr dazu hergegeben, ein solches Gebet zu sagen, so dürften viele Beter sich das merken, je und je ganz einfach, selbst wenn mehrere bei einander sind, es bei einem andächtigen Vaterunser als dem eigentlichen Reichsgebet, wenn auch nicht mechanisch gleich, sondern mit wenigen Zusatzworten erweitert oder in etwas umgesetzt, bewenden zu lassen, zumal bei Lukas der Herr sagt: „Wenn ihr betet, so sprechet,“ und bei Matthäus: „Darum sollt ihr also beten.“ Ungeschickt ist es, wenn da und dort in Versammlungen aller Art das Vaterunser oder Reichsgebet von den Redenden und Betenden gar nie gehört wird; und ich gestehe, dass mir wenigstens häufig etwas fehlt, wenn ich nicht mit dem Vaterunser schließe, namentlich wenn es größere Kreise und Versammlungen sind, in welchen die Reichssachen doch immer obenan stehen sollten. Man merkt es auch den Zuhörern an, dass sie gleich in eine gehobenere Stimmung und andächtigere Haltung kommen, als fühlten sie beim andren, namentlich freien Gebet weniger. Viele tun’s nicht, um das Vaterunser nicht durch Mechanismus herabzuwürdigen; aber völlige Unterlassung ist doch eine größere Herabwürdigung, ja ein Abbruch am Reiche selber. Der Vortragende kann doch auch dafür sorgen, wenn er’s recht vorträgt, dass das Vaterunser den Zuhörern immer wieder neu wird. Es hat das eigentümlich Hohe und Göttliche an sich, dass es nie alt, nie sozusagen abgedroschen wird und immer wieder mit höherer Empfindung vorgetragen werden kann, weil es ganz aufs große Ziel hin gerichtet ist.
Matthäus nun, der das Gebet in die Bergpredigt verflicht, knüpft es an die Worte des Herrn an: „Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.“ Für einen eigentlichen Umgang mit Gott scheint da der Herr die kleinen irdischen Bedürfnisse, welcher Art sie seien, weil sie keine Stelle im Vaterunser einnehmen, ziemlich auszuschließen, weil sie zu wenig Bedeutung für sein Reden mit dem Herrn haben, sofern der Vater doch alles, was wir bedürfen, vorher weiß, und wir ob dem Unsern das des Herrn nicht hintansetzen sollten. Es sollte da mehr nach dem Worte gehen: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch das Übrige alles zufallen.“ Das andere sollte nicht so gar die Hauptsache ausmachen, wie bei vielen, die eigentlich außer dem, was sie für sich und ihre Angehörigen zum irdischen Leben zu erbitten haben, so gut als nichts mehr zu beten haben und an die Reichssache gar nie recht kommen.
Wenn der Herr mit den Worten anfängt:
„Darum sollt ihr also beten“
so legt er doch ein Gewicht auf das Gebet als solches und gibt ihm eine besondere Weihe. In Zeiten, da wir keine Worte haben zum Beten, überhaupt nicht wissen, wie wir beten, wie wir ausdrücken sollen, was uns bewegt, weil wir’s oft gar nicht verstehen, will er uns Mut machen, uns des Mustergebets oder Reichsgebets, das alles umfasst, zu bedienen. Wir treten doch mit diesem Gebet vor das Angesicht Gottes; und weil es Jesus uns gelehrt hat, dürfen wir versichert sein, Gott sehe uns freundlich darum an und erhöre uns auch in sonst Unausgesprochenem. Namentlich, wenn jemand schwere innere Anfechtungen hat, wie vom Feind sich umgetrieben fühlt, in Schwachheit des Leibes und der Sinne sich befindet, auch Sorge, Ärger, Gereiztheit, wie das so kommt, ihn keine Worte nach dem Herzen finden lassen, kann er mit nichts mehr innerlich zurechtkommen, als wenn er das Vaterunser einfach und langsam hersagt. Auch wenn er’s ganz im Stillen betet, hat’s eine Wirkung, oft mehr, als wenn er’s laut betet, besonders auch Geisteskranken gegenüber und wenn er Unheimliches um sich verspürt, da er in lauter Verlegenheit sich befindet, gar keine Worte hat und doch beten will. Ziehe dich zurück und bete dein Vaterunser mit seinen großen Reichsanliegen; es wird dir viel geben. Zu mir kam einmal eine Frau, die schrecklich jammerte, dass sie nicht beten könne, weil der Feind ihr alles wegnehme. Ich führte sie in eine Kammer bei mir und sagte: „Probier’s und bete hier ein stilles Vaterunser, und komm dann wieder zu mir; du wirst sehen, es geht.“ Bald kehrte sie zurück. Ich fragte: „Hast du beten können?“ „Ja“, antwortete sie ganz vergnügt; „es ist mir wohler.“ – Seien wir doch dem Heiland dankbar für seine Gabe! Denn wahrlich, das Vaterunser ist eine große, unschätzbare Gabe Gottes, die uns Jesus hinterlassen hat, in unsere viele Bedrängnis und Armut hinein. Wie oft kümmert man sich mit einem Durcheinander von Gebetsworten ab, wenn die Not brennt, bis man fast von Sinnen kommt. Bleib doch beim Vaterunser, als dem festen Reichsgebet. Mit ihm gibt sich dir dein Heiland, weil er mit den Worten: „Also betet,“ doch auch einen besonderen Segen und besondere Kraft darauf gelegt haben muss. Er hat’s getan, du kannst’s erfahren! Unser Reichsherr ist dabei!
„Unser Vater in dem Himmel“
Hinauf, in den Himmel hinein, wo der Vater wohnt, soll der Geist sich schwingen, wohin auch das Himmelreich zielt. Merk dir’s, dass du wie über der Erde, wie in den Himmel versetzt, vor den Thron Gottes gestellt, dich zu nehmen hast. Oft stehst du mit deinen Gedanken gar zu sehr auf Erden; und da will’s schwer mit dem Beten gehen. Der Vater im Himmel aber ist nicht weit weg von dir. Wie hoch oben ist er auch tief unten bei dir, wenn du betest. Er ist dir nahe, so nahe, als ob du mit einem Freunde neben dir redetest. Könntest du’s doch im Glauben so nehmen!
Du denkst vielleicht, solche Nähe könntest du leichter vom lieben Heiland dir denken; und es sei dir darum gemütlicher, zum Heiland zu beten. Du darfst das wohl auch tun; aber warum nicht auch zum Vater mit gleicher Gemütlichkeit, wenn er doch Vater ist? Es gibt Christen, die meinen, das Vaterunser habe mehr den Jüngern für die Zeit vor seiner Verklärung gegolten. Nach dieser sollte es anders lauten, weil wir ja im Namen Jesu beten sollen, von dem im ganzen Gebet gar nicht die Rede sei. Besinn dich aber! Wie kommst du dazu, Gott deinen Vater zu nennen? Hat dir nicht Jesus die Kindesrechte zu ihm erworben? Ferner, wenn du ihn Vater heißt, musst du dann nicht gleich an ihn als den Vater unsers Herrn Jesu Christi denken? Nenne ihn so, so ist’s auch ein Gebet zum Heiland und ein Gebet im Namen Jesu. Dieser Jesus sitzt auch im Himmel zur Rechten seines Vaters. Wie kannst du in den Himmel hinein dich denken, ohne Jesum dort zu finden? Überblicke das ganze Vaterunser, ob du nicht in jedem Worte den Heiland hast, der alles zurechtbringen will. Du heiligst den Namen Gottes, wenn du an Jesum glaubst. Das Reich, das kommen soll, macht der Herr Jesus. Dass Gottes Wille auf Erden geschehe, macht der Heiland, der ja muss alle Feinde zum Schemel seiner Füße legen, bis kein Wille durch die ganze Schöpfung mehr ist, außer dem des lebendigen Gottes. Du bittest um Brot, dass du lebest; wem verdankst du aber dein Leben, wenn nicht dem Heilande, der für dich gestorben ist, dass der Fluch des Todes dich nicht treffe? Wer vergibt die Sünden oder hat die Möglichkeit der Vergebung ausgewirkt? Wer hilft wider die Versuchungen? Wer befreit endlich von allem Übel und reisst aus den Klauen des Bösewichts? Du siehst, wie Jesus überall im Gebet, das so ganz Reichsgebet ist, zu finden ist. Bei jedem seiner Worte muss der Heiland vor dir stehen; und abgesehen von ihm kannst du gar kein Vaterunser beten. So stehst du auch in der Gegenwart Jesu wie des Vaters, wenn du das Vaterunser betest; und Jesus ist’s ja, der gesagt hat: „Wenn ich erhöhet sein werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.“
Dass der Herr aber dich heißt beten: „Unser Vater,“ hat die Bedeutung, dass du eigentlich nie allein solltest vor den Vater treten, sondern immer in Gemeinschaft mit andern, die etwa gleiche Bedürfnisse haben wie du, ja mit allen Menschen zusammen, die auf die Hilfe Gottes und seiner Erlösung warten. Dein Gebet soll stets der Ausdruck der ganzen seufzenden Kreatur sein, dass du als deren Repräsentant dastehst. So ist’s das Rechte, und so betest du als ein Reichskind. Aber wie viele bleiben immer allein bei sich und ihren Angehörigen stehen; und Heilandskinder sollten doch auch ein so weites Herz haben als der Heiland selbst, der für alle sein Leben gelassen hat, um alle zusammenzubringen in Eins. Wohl haben sie schon auch etliche Redensarten gelernt, die scheinbar auf ein weiteres Herz zielen; aber diese lassen sie in ihrem Gebet nur so nachhinken, ohne dass das Herz mittut. Lernen wir’s am Vaterunser besser machen! Ach was wäre es, wenn wir allezeit ein rechtes Vaterunser beten und mit ihm die Reichssachen kräftig fördern könnten!
Matth. 6, 9. 10
Wir wollen nun die Bitten des Reichsgebets, deren wir sieben zählen, ein wenig besprechen. Die drei ersten Bitten gehen den Vater selbst an; denn für seinen Namen, für sein Reich für seinen Willen beten wir. Wir beten also für den Vater selber, dass er sich seines Namens und seines Reiches und seines Willens annehmen wolle. Dass das, was Gottes ist, zu seiner vollen Geltung komme, ist ja das Wichtigste auch für uns. Denn wir bitten für den Vater doch nur um unsertwillen. Es ist also auch unsre Sache, was wir da bitten, weil es uns zugut kommen soll. Denn mit uns bleibt’s übel bestellt, wenn Gottes Name nichts gilt, sein Reich nicht besteht, sein Wille missachtet wird. Sein Name soll auch zunächst bei und von uns geheiligt werden, sein Reich soll zu uns kommen, und sein Wille soll bei uns geschehen. Eben darum werden auch die Bitten uns in den Mund gelegt, da es sonst seltsam herauskommen könnte, dass wir für den lieben Gott etwas bitten sollen, als ob er auf das hin, dass ihm werde, was ihm gehört und was er allein nur machen kann, unser bedürfe und unsres schwachen Gebets.
Indessen haben wir es doch näher zu besprechen, warum wir solcherlei Bitten auf dem Herzen tragen sollen. Eben weil alles, was wir da bitten, uns zugut kommen soll, legt Gott nicht Hand an, dass sein Name geheiligt werde, sein Reich komme, sein Wille geschehe, wenn nicht zugleich das alles den Menschen ein Anliegen ist, oder wenn wir es nicht wichtig genug finden, dass sein Name etwas gelte auf der Welt, dass alle Kreatur in ein Gottesreich zusammengeschlossen werde, dass überall aller Wille, der nicht von Gott ausgeht und so viel Meisterschaft auf Erden ausübt, aufhöre. Da lässt Gott es so gehen, wie es geht, und wie es die Menschen wollen. Gibt es doch unzählige Menschen, die nichts nach dem Namen Gottes fragen und um nichts auf Gott Bezügliches sich kümmern. Wieder andere wollen alles lieber, als in ein Gottesreich eingesammelt werden; und wie viele gibt’s, die durchaus nur ihren Willen kennen oder nur vom Willen der Finsternis sich leiten lassen! Da will aber Gott nicht Gewalt brauchen und die Kreaturen zu dem zwingen, was ihr Heil wäre. Sie sollen denn auch das haben, was dabei herauskommt, sollen haben all das viele Elend, in welches sie sich ohne Gott und getrennt von Gott, und wider Gott stehen gestürzt haben. Gott erwartet also mindestens einen Wunsch und ein Verlangen von Seiten der Kreaturen zu dem, was Gott ihnen sein soll; und dazu gibt uns der Herr Jesus sein Gebet, das wir Reichsgebet nennen, in welchem uns das Richtige und Wichtige in den Mund gelegt werden soll vor dem Vater, damit er, je nachdem wir uns innerlich dazu anschicken, das Nötige tue, um zu der Anerkennung zu kommen, die allein das Glück aller geschaffenen Wesen ausmacht. Je ernstlicher wir nun den Vater bitten, desto geneigter wird er auch sein, darauf zu wirken, dass die drei ersten Bitten erfüllt werden.
Vor Christus hat freilich zuletzt fast niemand mehr in der Weise gebetet, wie es die drei Bitten aussprechen. In Israel übrigens, wie die Psalmen und Propheten bezeugen, waren sie nicht ungekannt; und wären sie ihm doch nicht allmählich fremd geworden, so würde wohl vieles, auch in Israel ganz anders gegangen sein, als es ging, würde wohl auch des Herrn Mund, wie er einst durch die Propheten sich kund tat, nicht gar verstummt sein. Nur die wenigen, die zur Zeit Christi auf das Reich Gottes warteten, waren die einzigen Vertreter der großen Bitten, welche aus des Menschen Brust zu Gott aufsteigen sollten, damit er selbst versuchte, sich wieder Recht zu verschaffen. Diese wenigen wurden auch damit erhört, dass der Vater endlich wirklich seinen Sohn sandte, durch welchen nun die drei Bitten allein ihre Verwirklichung finden können, wie aus dem erhellt, dass er der Verkündiger des Anbruchs des Himmelreichs war.
An Jesus hat die Menschheit den ersten und vollkommenen Beter der drei ersten Bitten des Reichsgebets gehabt. Wenn er für sich betete, war’s sicher immer nach dem Inhalt dieser Bitten. Er war dabei der Mund und Stellvertreter der ganzen Kreatur; und ohne seine, des Menschsohns, Bitten, die er im Namen aller aussprach, wäre das Große alles nicht geschehen, was seit seiner Erscheinung die Welt gesehen hat zur Heiligung des Namens Gottes, zum Kommen des Reiches Gottes und zum Werden des Willens Gottes auf Erden. Ihm nach aber sollten nun auch seine Jünger beten lernen; und wenn er zu ihnen sagte, sie sollten allezeit beten und nicht laß werden, so denkt er dabei nur an die großen Reichsbitten, die ihnen unaufhörlich vor der Seele stehen sollten, Sie nun können dabei nicht anders, denn an die Seite Jesu, des ersten Beters, sich stellen, gleichsam seine Bitten unterstützend und im Glauben an ihn und seine Fürbitte und Macht sich haltend. Wie Jesus auf Erden den Namen Gottes offenbarte und verklärte, wie er das Reich Gottes fördernd dastand, und wie er durchaus nur seines Vaters Willen tat und dann, um den eigentlichen Grund zu allem zu legen, gehorsam war bis zum Tod am Kreuze, so bitten wir im Reichsgebet, obgleich das an den Vater gerichtet ist, eben ihn, sein Werk fortzusetzen, damit je länger je mehr alles zur Wollendung komme, da ja ihm jetzt auch alle Gewalt dazu im Himmel und auf Erden gegeben ist.
Das Beispiel Jesu aber zeigt uns zweierlei. Erstlich sehen wir an ihm, was er, der Einige, mit seinen Bitten zuwegebrachte. Dies kann uns in Zeiten, da der rechten Beter nur wenige sind, nur trösten und aufrichten. Diese wenigen, gesetzt, sie schmölzen je und je bis auf zwei oder drei herunter, in deren Mitte ja Jesus, und wenn es sein muss, der ganze Jesus, zu sein verheißen hat, können Großes auch fürs Ganze ausrichten, zu einem Anfang, der sich dann wieder ins Weite ausbreitet. Darum sollen wir uns nie an dem stoßen, dass nur wenige ernstlich dran wollen. Sehe nur jeder darauf, seine Schuldigkeit zu tun und alle zu vertreten, als wäre er der einzige, der sagen müsste: „Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu.“ Untreu aber sind alle, denen die Reichsbitten nicht voller Ernst sind. Denn irgend welche Anknüpfung auf Erden – so forderts die Reichssache Gottes für die Menschen, weil „die Heiligen es ausrichten sollen“ (Dan. 7, 22), - muss Gott haben, um seine Gedanken und Pläne zur Erlösung aller Kreatur zum Vollzug zu bringen. O, wie wenig wird das bedacht.
Das Zweite, was Jünger ihrem Heiland abzulernen haben, ist, dass er nicht bloß betete, sondern selbst auch für das, um was er betete, mit seiner ganzen Person einstand. Wir wissen ja das zur Genüge. In ähnlicher Weise haben wir mit all unsrem Tun als solche uns zu bezeigen, die selbst auch sich als Werkzeuge nach Gottes Willen brauchen lassen zur Verwirklichung der Bitten, die uns der Herr in den Mund legt, als die, welche mit Geduld und Glauben und Ausdauer Aufgaben annehmen, durch welche unter dem Beistande Jesu alles befördert wird, was zur Verwirklichung des Ganzen erforderlich ist. Wie wir beten, so sollen wir auch glauben und im Glauben wirken, wie es der Herr uns auferlegt. O dass die Zahl solcher Jünger zunehmen möchte in unserer ernsten und bedürfnisvollen Zeit!
„Dein Name werde geheiligt!“
Bei wem, fragen wir zunächst, soll Gottes Name geheiligt werden? Wir antworten: „Bei aller Welt, bei aller Kreatur im Himmel und auf Erden und unter der Erde.“ Der Betende wird vorausgesetzt als ein solcher, bei dem bereits der Name Gottes geheiligt ist; aber sein Schmerz ist es, dass es noch Geschöpfe gibt, die ihn nicht heiligen. Denkt sich auch der Betende in der Gemeinschaft mit vielen, weil er ja sagt: „Unser Vater,“ so weiß er, wie gering geschätzt im Grunde doch noch in der ganzen Schöpfung der Name Gottes ist, und weiß auch, dass in der Schöpfung keine Ruhe werden kann, solange noch eine Zunge ist, die Gottes Namen nicht heiligt. Dazu fühlt der Betende die große Wohltat, die ihm damit widerfahren ist, dass bei ihm Gottes Name geheiligt sein darf; und darum gönnte er es allen Geschöpfen, ja, dass ich so sage, auch dem liebenden Vater selber, dass doch sein Name, der es so gar sehr verdient, über alle Namen gesetzt und damit geheiligt zu werden, nicht länger hintangesetzt und geschmäht werde. Geheiligt ist aber immer das, was man als das Höchste von Andrem und Gemeinem absondert. So soll denn Gottes Name von allem abgesondert und insofern geheiligt dastehen, als er allen Kreaturen so über alles geht, dass ihnen andres eigentlich so gut als gar nichts mehr gilt. So sehr soll allen der Name Gottes und was er besagt, alles sein.
Die nächste Frage wäre, was unter dem Namen Gottes, der geheiligt werden soll, verstanden sei. Da ist die einfachste Antwort: „Sein Vatername.“ Wenn der Betende anfängt, zu sagen: „Unser Vater im Himmel,“ so seufzt er dazu: „Ach, dass dich alle Vater nennen können!“ Darum betet er gleich: „Geheiligt werde dieser dein Name!“ Alle Kreatur, so meint’s der Beter sollte wieder Vatergefühle gegen Gott bekommen, und zwar so, dass sie einerseits die väterliche Liebe und Zuneigung Gottes gegen die Menschen anerkennt und schätzt und Gott ihren Vater nennt, und dass sie andererseits zu einer kindlichen Unterwerfung unter Gott kommt, ihn als Vater zu lieben und ihm als einem Vater untertan zu sein, dem sie gerne in allem zu Willen ist, an den sie sich auch vertrauensvoll hängt und auf den sie alle ihre Hoffnung setzt. Von dem allen ist namentlich die Menschheit ganz abgekommen; und das ist ihr Elend und Jammer, dass sie in Gott keinen Vater mehr sieht, so sehr Gott sich ihr täglich als einen Vater erzeigt. Sie nimmt zwar alles aus Gottes Hand hin, was sie bedarf zu ihrem Bestehen, aber macht’s wie ungeratene Kinder auf Erden, die alles von ihren Eltern ansprechen, ohne im geringsten ihnen zu danken oder nach ihnen zu fragen. So muss der liebe Gott allen der Gutgenug sein; und mit dem Herzen stehen sie nicht nur ferne von ihm, sondern sogar wider ihn. Das ist wieder ein Schmerz für den betenden Jünger; und ihn bewegt’s Tag und Nacht, dass doch endlich möchte alle Kreatur wieder zu Gott als ihren Vater zurückkommen, indem einfach nur sein Vatername wieder bei ihr geheiligt wäre.
Das Kindesgefühl der Menschen wurde am Anfange schon von der Schlange im Paradies angetastet, als diese fragte: „Ja sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allerlei Bäumen im Garten?“ d.h. „Sollte er wirklich euch etwas verwehrt haben, und vollends gar die edelste und beste Frucht, die Gott gleich macht? Ist das eine väterliche Gesinnung Gottes gegen euch?“ Klar und deutlich gibt sich da ein Fremdes wider Gott zu erkennen, von dem sich die Menschen raten lassen sollen. Diese ließen sich betören und kamen seitdem unter die Gewalt eines Fremden; und der rechte Vater kam ihnen ferne. Jenes Fremde, Satan und alles, was zu ihm gehört, ist ihr Gott geworden, indem sie meinten, selbst Götter zu werden. Er maßt sich nun Rechte an sie an, die nur der Vater hatte. So verfielen sie in Abgöttereien und Zaubereien und andres Widergöttliche, immer gleichsam gegen Gott Front machend und ihm erklärend: „Ich bin, was du bist.“ Denn hierauf hin zielte die Versuchung der Schlange. Um was nun die Finsternis hoch kommt im Menschen, um das kommt der Name Gottes bei ihm herunter. Nun aber soll Gottes Name wieder bei ihm geheiligt werden, was nur dadurch möglich ist, dass der Mensch sich aus dem Bereich der Finsternis herausbringen lässt, um Gott wieder allein zu haben. Wer soll da helfen? Da muss gebetet werden, Gott möge doch alles tun, um den Menschen willig und fähig zu machen, die Kräfte der Finsternis fahren und den Namen Gottes allein gelten zu lassen, d.h. zu heiligen, weil sonst der Zwiespalt zwischen Gott und der Finsternis nie aufhört. In Christo aber ist der Schlangentreter gekommen, der nach vollbrachter Versöhnung der Menschen den Heiligen Geist schenkt, der wieder beten lehrt: „Abba, lieber Vater!“ Wenn alle Kreatur, los vom Fürsten der Finsternis, wieder beten kann: „Abba, lieber Vater!“ dann ist unsre Bitte: „Dein Name werde geheiligt“, vollkommen erfüllt.
Unter Gottes Namen kann man auch Gottes Wesen verstehen; und unter der Heiligung seines Namens die Anerkennung und Lobpreisung seiner erhabenen Eigenschaften. Wie aber machten es die Menschen hierin? Sie erkannten wohl Gott in seinen Werken; aber was machten sie aus ihm, statt ihn zu preisen und ihm zu danken? Wir wollen von dem schweigen, wie’s die Heiden machten, welche „die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in Bilder von vergänglichen Menschen und Tieren verwandelten“ (Röm. 1, 20 bis 23). Wir erwähnen nur das, wie die Menschheit sonst sich beträgt bis heute, auch die, welche es besser wüssten und erkennten. Sie betragen sich so, als hielten sie nichts auf die göttlichen Eigenschaften, als wäre ihnen Gott nicht allmächtig, nicht allwissend, nicht allgegenwärtig, nicht heilig, nicht gerecht. Sie nehmen ihn als einen Gott, der keine Bitte höre, der nach den Menschen nichts frage, viel zu hoch über den Menschen stehe, als dass er um sie sich bekümmern könnte. Sie schreiben ihm auch nichts zu, wenn er je und je sich zu erkennen geben will durch besondere Gnaden und besondere Gerichte, lassen alles Zufall sein und denken sich Gott hinweg aus aller Geschichte der Menschen. Wie schätzen sie auch seine Offenbarungen gering, trauen es ihm schon nicht zu, dass er sich kund gebe! Auch Werke Gottes und Wunder aller Art, wie wir sie erzählt finden, sind vielen geradezu ein Ärgernis. Wenn sie je ans Unsichtbare sich halten wollen, so tun sie’s vermittelst des Aberglaubens und missbrauchen ob dem noch den Namen Gottes aufs abscheulichste. Wie sollte es doch mit dem allem anders werden! Wie sollte es den Jünger nicht auch ein Anliegen sein, dass es anders werde! Dass nun Gott möchte Hand anlegen und namentlich, was er zur Rettung der Menschen durch Christum eingeleitet, möchte zur Vollendung bringen, das soll Reichskindern ein beständiges Reichsanliegen sein; und anders wird’s erst überall, wenn Gott dem Menschen wieder gilt und alle seine Eigenschaften hoch gehalten werden, sein Name wieder geheiligt wird bei aller Kreatur.
Aber auch gläubige Christen, die sonst durch den Glauben an Jesus den Namen Gottes heiligen, laufen Gefahr in besonderer Weise die Heiligung des Namens Gottes zu versäumen. Gott hat nämlich gegen Mose, der ihm hintennachsehen durfte, von seinem Namen gepredigt oder gesagt, wie er genannt und angesehen werden wolle, mit den Worten (2. Mose 34, 6): „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue!“ Wenn man nun Gott für das in weitestem Umfang hält, heiligt man seinen Namen; und wer von seiner Gesinnung, wie er sie in seinem Namen ausspricht, ihm etwas abzieht, der entheiligt seinen Namen. Nun aber ist je und je die gläubige Welt viel mehr geneigt, den Namen Gottes in dem zu heiligen, dass sie seine Heiligkeit und Gerechtigkeit wider seine Barmherzigkeit, wie sie in Christo erschienen ist, setzt und meint, seine Heiligkeit erfordere es, dass er gegen Ungehorsame und Abgefallene lauter Härte und Strenge zeige, sei’s auch, dass dadurch die Hölle mehr als der Himmel gefüllt wird. So trauen sie es ihm nicht zu, dass er noch eine Liebe übrig haben könne, um die entarteten Christen wieder durch erneuerte Gnaden zu seinem Wohlgefallen heraufzuheben. Unerbittlich, glauben sie, halte er mit den Gnaden und Gaben des Heiligen Geistes zurück, nachdem sie einmal da gewesen sind und nicht zum Ziele geführt haben. Nun sollen die Menschen ohne den Heiligen Geist, wenn auch noch etwas von ihm beeinflusst, werden, was sie sein sollen; und wenn nicht, so ist ihnen der Abgrund gewiss. Über hingegangene Geschlechter, die nicht völlig im Glauben gewesen sind, senkt sich eine gewisse gläubige Theologie ohnehin alles Erbarmen Gottes erloschen, dass er am Jüngsten Tage nichts mehr für sie bereit hat als die Verdammnis. Damit wird der Name, wie ihn Gott haben will, nicht geheiligt; denn der Name Gott, ja selbst der Name Jesus wird von vielen nach manchen Seiten den Sündern zu dem Schreckenswort gemacht, trotz der tröstlichen Versicherungen des Gegenteils von seiten Gottes und Jesu, und trotzdem, dass Jesus die Gnade und Freundlichkeit Gottes persönlich dargestellt und mit bitterem Leiden und Sterben besiegelt hat. Aber nur wenn wir dem lieben Gott die äußerste Barmherzigkeit und größte Sorge, es womöglich über viele oder alle zu gewinnen, zutrauen, wie die Schrift es genugsam lehrt, heiligen wir seinen Namen und machen wir der seufzenden Kreatur Mut zu ihm. Möchten doch Jünger des Herrn unter allem Hersagen des Reichsgebets nicht diejenigen sein, die im Grunde noch am wenigsten den Namen Gottes geheiligt wissen wollen, sofern sie die Vaterliebe Gottes in Christo für sich wohl in Anspruch nehmen, aber für andere, die ihrer am meisten bedürften, gänzlich fallen zu lassen geneigt sind. Wie soll hiebei auch unser hoch erhöhter Heiland Jesus Christus mit seinen Wundenmalen das Zusehen haben, wenn er fast um nichts sollte bis zum Tod am Kreuze gehorsam gewesen sein? O Vater im Himmel, dass doch dein und deines Sohnes Name voll Huld und Gnade nach allen Seiten angenommen und geheiligt werden möchte! Dürfte es auch bald geschehen, da fast äußerste Not es erheischt!
Wir kommen zur zweiten Reichsbitte, die das ausspricht, was die Folge der Erhörung der ersten Bitte ist. Sie lautet:
„Dein Reich komme!“
Das Reich, für das wir bitten, heißt sonst auch das Himmelreich, weil es nicht nur die Erde, sondern alle Himmel umfassen, also nicht als ein Erdenreich sich darstellen soll, wie Paulus redet vom „Geheimnis des Willens Gottes“, den er uns hat wissen lassen, nämlich
(Eph. 1, 10) „Dass alle Dinge zusammen unter Ein Haupt verfasset würden in Christo, beide, das im Himmel und auch auf Erden ist, durch ihn selbst.“
Fertig ist solches Reich, wenn „Gott sein wird alles in allen“ durch die ganze Schöpfung. Das aber ist damit geschehen, wenn die ganze Schöpfung Gottes Namen anerkennen oder heiligen wird. Das Reich Gottes ist also Folge von diesem. So lange noch Kreaturen sind, welche, den Namen Gottes missachtend, sich Gott nicht unterwerfen, ist er nicht Herr, wenigstens nicht ganz Herr, steht er auch immer gleichsam im Kampfe mit andern Mächten, die Herren sein und das Kommen seines Reiches verwehren wollen. Gott könnte sich nun wohl mit seiner Allmacht helfen, indem er alle seine Feinde niederschlüge und in die Verdammnis würfe. Das will er aber nicht; denn sein Vatergefühl verbietet ihm das, freien Wesen gegenüber.
Wenn Gott nun nicht mit Gewalt sich helfen und zum Oberherrn sich machen will, wie soll ihm das Reich werden? Seine Gedanken sind, es dahin zu bringen, dass alle Kreaturen freiwillig zu ihm zurückkehren, wie jener verlorene Sohn zum Vater; und darum hat er Geduld. Von sich aus, aber allein vermag die Kreatur das nicht, weil sie von gewaltigen Oberherren so umgarnt und gebunden ist, dass sie, auch wenn sie wollte, es nimmermehr vermocht hätte. Auch mit gewaltsamer Unterdrückung der Obrigkeiten der Finsternis konnte der Vater es nicht versuchen, teils weil auch diese nach Recht behandelt werden müssen, teils weil durch sie so viel Geist des Ungehorsams den Geschöpfen eingehaucht ist, dass diese gebunden und geknechtet bleiben, auch wenn sie etwa frei von jenen Obrigkeiten geworden wären. So war denn kein anderer Rat, als dass Gott selbst in Mittel trat und das Wort, das im Anfang bei ihm und Gott war, Fleisch werden ließ, damit es der Menschensohn werde, der den Anfang einer freiwilligen Umkehr zu ihm machte.
Dieser heißt deswegen „der Erstgeborene aller Kreatur.“ Darum sagt Paulus:
(Kol. 1, 19. 20) „Denn es ist das Wohlgefallen gewesen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte und alles durch ihn versöhnet würde zu ihm selbst, es sei auf Erden oder im Himmel, damit, dass er Frieden machte durch das Blut an seinem Kreuz durch sich selbst.“
Wer nun an Jesum sich hält, mit dem Glauben, dass durch ihn und an seiner Hand die Rückkehr zum Vater möglich sei, der kommt mit einer Freiwilligkeit zu Gott zurück, wie solche Gott noch seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit von der abgefallenen Kreatur erwarten musste. Bis das geschehen ist, bleibt gleichsam der Vater in der Ruhe, wie seine Majestät den Sündern gegenüber es erfordert, und lässt als Herr und König den Sohn, den Menschensohn, Jesum Christum, den Repräsentanten der ganzen Kreatur, die Sammlung der Abgefallenen zu ihm vollbringen. So ist das Reich, für dessen Kommen wir bitten, zunächst das Reich Christi, das aber sein Absehen darauf hat, dass es zugleich ein Reich Gottes sei, wie ja zuletzt, „wenn alles wird Jesu untertan sein, der Sohn selbst dem Vater wird untertan sein, auf dass Gott sei alles in allen“ (1. Kor. 15, 28).
Der Anfang nun zu diesem Reich ist gemacht worden durch die Erscheinung Jesu auf Erden. Bis dahin konnte von einem Fürsten dieser Welt gesprochen werden, der wider Gott überall herrschen wollte und so viel Boden in aller Kreatur hatte, dass er bereits alles als ihm zugehörig ansah (Matth. 4, 8. 9). Fort und fort war es sein Bestreben, die ganze Schöpfung vom rechten Vater ab in das Netz der Finsternis zu ziehen und unter seine Herrschaft zu bringen. Dieser Anmaßung stellte sich Jesus entgegen, der als Menschensohn, wie alle anderen Menschen, von ihm angegriffen wurde, aber ihm keine Macht über sich ließ, sondern unerschütterlich und unbeugsam seinem Vater treu und gehorsam blieb bis zum Tod am Kreuz. Dieser sein Tod, zu welchem er von der Finsternis gewaltsam gedrängt wurde, war eben darum ein Sieg, weil Jesus selbst unbeugsam blieb; und das Wohlgefallen seines Vaters machte ihm zum Herrn und König auch nach seinem Tode durch seine Auferstehung.
Denn der Vater gab ihm alle Macht im Himmel und auf Erden, um das durch sein Blut Versöhnte an sich zu ziehen. So ist denn die Bahn gebrochen zur Herstellung des Reiches Gottes, weswegen gleich die erste Ankündigung des Evangeliums dahin lautete: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen,“ obgleich zunächst nur der neue König da war und der Untertanen, die ihm angehörten, es nur sehr wenige wurden. Der Herr selbst wurde entrückt; und natürlich war’s damit nicht gemacht. Wohl konnte Jesus sagen (Joh. 16, 8. 11): „Der Heilige Geist wird die Welt strafen um das Gericht, dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.“ Wenn aber dieser auch gerichtet ist, so ist er damit noch nicht abgetan; vielmehr ist es nun dem Glauben der Jünger möglich gemacht, es bis zum Vollzug des Gerichts zu bringen. Es erforderte daher Zeit, und erforderts noch, bis alle Reiche eingenommen, alle Obrigkeiten und Herrschaften wider Gott gestürzt und weggeräumt sind und alle Seelen, soweit das möglich ist, der Finsternis in Wirklichkeit entrissen und in die Gemeinschaft mit Jesus und seinem Vater zu einem Reiche gebracht sind. Daher die stets bleibende Bitte: „Dein Reich komme.“
Wir lesen nämlich wohl, dass Jesus zur Rechten Gottes sitze, bis er alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt habe. Aber das kann keinen Fortgang haben, wenn nicht auf Erden die Jünger Jesu oder die Gläubigen und Auserwählten ihm gleichsam an die Hand gehen. Deren Anliegen muss es vor allem sein, dass Jesus das Reich einnehme, damit die Freiwilligkeit der Rückkehr zu Gott auch in der Menschenwelt selbst vertreten wäre. Ohne Menschen, die mit sehnsüchtigem Bitten und Flehen dabei sind, kann’s nicht vorwärts gehen zum Ziele. Wenigstens darf solch Bitten nicht gar fehlen. Daher die große Bedeutung der Bitte der Jünger: „Dein Reich komme.“ Von den Jüngern wird’s gefordert, es zu Herzen zu nehmen, dass Gott noch nicht Regent und Alleinherrscher ist, wie er es jetzt durch Christum werden könnte. Sie wissen es auch, wie viele Übelstände es nicht nur für die gesamte Kreatur, sondern auch für jeden einzelnen nach sich zieht, namentlich wenn jeder unvermerkt, bei seiner großen Sorglosigkeit und Verblendung, in die Gewalt falscher Mächte kommt aus welcher er sich selbst nicht mehr heraushelfen kann und selbst durch Bekehrung schwer herauskommt, weil er in der Regel an die Bande, die ihn umschlungen haben, gar nicht denkt, also auch nichts im Geist, mit Buße und Glauben, dazu tut, um solcher Bande los zu werden.
Dass es nun mit der Einnahme aller gottwidrigen Reiche, namentlich im Unsichtbaren, immer rascher vorwärts gehe, bis allein nur das Reich Gottes in der ganzen Schöpfung besteht, das sollte vorzügliches Gebetsanliegen für uns sein. Das soll uns durch die Vorschrift der Bitte: „Dein Reich komme“, nahegelegt werden. Der rechten Beter aber gibt es allezeit nur wenige. Die Meisten glauben, es mache sich alles von selber und es könne nicht an ihnen und ihrem Glauben und Bitten liegen, und bleiben so in sorgloser Ruhe, ohne im mindesten, trotz all ihres sonstigen Betens, zur Förderung des Kommens des Reiches Gottes etwas zu tun. Erfordert wird’s aber, dass wir’s gleichsam mit dem Vater im Himmel fühlen, wie es ihm ein Schmerz ist, so viele seiner Kinder von sich ferne zu wissen und noch nicht über alle seine Vaterhände ausstecken zu können, als gesammelt in ein gemeinsames Reich. Dieser sein Schmerz soll uns über alles gehen, was sonst uns etwas drückt, zumal sein Schmerz auch unser Schmerz ist, indem wir nie zur Ruhe kommen, nach vielem Betracht selbst jenseits nicht, wenn nicht überall er Herr geworden ist. Zunächst wächst nun freilich auch sein Reich, wenn viele zum Glauben an Jesus kommen und damit aus der Finsternis ins Licht hereingeboren werden. Da ist viel in unsere Hand gelegt, indem wir, neben dem Bitten, auch alles versuchen sollen, um die Ausbreitung des Evangeliums immer weiter zu bringen, die ja von uns besorgt werden soll, weil ja nicht zu Engeln, sondern zu Menschen gesagt ist: „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur.“ Wenn daher der Herr sagt: „Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen,“ so müssen wir mit unseren Bitten und mit tätigem Glauben nachhelfen, damit es als unser Anliegen erscheine; und geschieht das nicht, so sind keine Seile da, an welchen der Herr nach Wunsch zu sich emporziehen kann.
Zuletzt besteht freilich das Kommen des Reichs, um das wir bitten, in der Offenbarung der Herrlichkeit der Kinder Gottes, auf welche das ängstliche Harren der Kreatur gerichtet ist (Röm. 8, 19), wie sie mit der Wiederkunft Christi eintreten wird. Möchten wir es uns ernstlicher angelegen sein lassen, als es gewöhnlich ist, mit Eifer und Herzenswärme auszurufen: „Dein Reich komme!“ Endlich wird die Bitte der Auserwählten, die Tag und Nacht rufen, erhört, und dem Heilande es gelingen, alles zu seiner Vollendung zu bringen. Wie wird’s uns dann freuen, wenn wir das Zeugnis überkommen, auch in unsrem Teile mit Herz und Gemüt, Eifer und Selbstaufopferung mitgewirkt zu haben, dass endlich mit dem Kommen des Reiches Gottes das Sehnen der Kreatur gestillt worden ist!
Wir kommen zur dritten Reichsbitte, die also heißt:
„Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel!“
Wenn der Heiland beten heißt: „Wie im Himmel,“ so setzt er voraus, dass da der Wille Gottes bereits geschehe; und dann ist unter Himmel der Raum zu verstehen, da Gott sozusagen thront und um sich her lauter willige Diener hat, die in einem Kindesverhältnis zu ihm stehen und nichts anderes kennen als seinen Willen, auch mit Freudigkeit sich senden lassen, den Willen Gottes auszurichten. Wie nun da lauter Harmonie zwischen Gott und seiner Umgebung ist und nichts von einem fremden Willen sich zeigt, so soll es auch auf Erden werden; und als ein besonderes Anliegen sollen’s Jünger des Herrn bittend vor Gott bringen. Gott läßt’s liegen, wenn die, die sich ferne von ihm gestellt haben, nach seinem Willen nichts fragen, bis sie sich zum Gericht reif gemacht haben, es sei denn, dass aus ihrer Mitte selbst bittende Stimmen vor ihm laut werden.
Übrigens ist wohl zu beachten, dass unter Himmel sonst auch der ganze Schöpfungsraum über der Erde verstanden ist, wie schon in den Worten: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Nach Andeutungen der Schrift nun ist es in diesem unermesslichen Himmelsraum keineswegs so, dass darin überall Gottes Wille gälte oder zur vollen Geltung käme. Paulus sagt (Kol. 1, 20): „es sei Gottes Wohlgefallen gewesen, dass alles durch Christum und sein Blut sollte versöhnt werden, es sei auf Erden oder im Himmel.“ Eben darum soll es dazu kommen, „dass in dem Namen Jesus ich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Da stehen also Himmel und Erde und was unter der Erde ist, gewissermaßen in gleicher Linie. Überall bedarf’s eines Versöhners, der Widerwärtige und gegen Gott ungehorsam Gewordene wieder in Ordnung zu bringen hat. In dem ungeheuren Himmelsraum, der Tausende von Welten in sich schließt, müssen viele Welten sein, in welchen erst Gottes Wille geschehen soll, wie er noch nicht geschieht, und erst geschehen wird, wenn sie sich, wie die auf Erden, Jesus, der alle versöhnt, untertan gemacht haben, „zur Ehre Gottes, des Vaters.“ Dass wir auch hierauf zu bitten hätten, scheint die dritte Bitte nicht direkt zu sagen, weil auch dazu weitere Belehrung gehörte, die jetzt der Herr nicht geben wollte, der zunächst bei dem, was uns unmittelbar angeht, bleibt. Wenn man aber will, kann man’s doch in die Bitte hineinlegen, als hieße diese: „Dein Wille geschehe durch die ganze Schöpfung wie im Himmel so auch auf Erden.“ Dass man sich gedrungen fühlen kann, so zu bitten, lässt sich auch aus den Worten Petri entnehmen, da er sagt (Apg. 3, 21): „Der Herr Jesus Christus muss den Himmel einnehmen“, d.h. sich untertan machen, „bis auf die Zeit, da herwiedergebracht werde alles, was Gott geredet hat durch die Propheten“, womit Petrus auf die Wiederkunft Jesu zielt. Diese kann also nicht eintreten, ehe die Himmel Jesu untertan sind (Kol. 1, 19. 20). Ob nun unsre Bitte hierauf wirken werde, kann man fragen. Aber ohne Bedeutung mag sie nicht sein, wenn wir erwägen, dass wir uns aus dem Überirdischen her die satanischen Kräfte und Wesen, die bei uns alles verderbt haben, hergeflossen denken müssen. Schon unser Kämpfen und Bitten wider die Kräfte der Finsternis sind gleichzeitig Bitten zu Gott, dass doch der Herr Jesus bald alle seine Feinde, sowohl im Himmel als auf Erden, sich möge zum Schemel seiner Füße legen, um auch bald als Sieger wiederkommen und alles vollenden zu können. So bekommt freilich die dritte Reichsbitte eine Bedeutung von außerordentlichem Umfang.
Die Bitte setzt voraus, dass viel fremder Wille in der Schöpfung herrscht, der uns aber mehr nur auf Erden bemerklich wird. Dieser fremde Wille, beziehungsweise Eigenwille, zu dem der Mensch vermöge der ihm gegebenen Freiheit kommt, ist wider Gott gerichtet, stellt sich durch Widerspenstigkeit gegen Gottes Sinn und Recht in einen Gegensatz zu ihm und will selbst herrschen und bestehen ohne Gott. Mit Gewalt will Gott solchem fremden oder Eigenwillen nicht entgegentreten. Er will keine Kinder haben, die er mit Gewalt zum Gehorsam gegen sich zwingen muss, will aber auch nicht ohne weiteres sie hinwerfen in die Verdammnis. So kommt es, dass er alles, was wider ihn ist, sich selbst überlässt und machen lässt; und wie viel dadurch in der ganzen Schöpfung anders und verderbt worden ist, lässt sich gar nicht ausdenken. So namentlich in der Menschenwelt, da wir’s vor Augen haben. Da haben die Kräfte der Finsternis, die in jeder Weise sich mächtig gemacht haben, durch alles hindurch für diese und jene Zeit namenlos viel Verderbnisse hereingebracht, die nur in dem Grade vermindert werden, als doch einzelne unter Seufzen sich zu Gott halten, um deren willen Gott nicht so gar den fremden Willen walten lässt. Aber Jammer und Elend muss doch unendlich viel eintreten, wenn alles aus der rechten Gemeinschaft mit Gott kommt. So bleibt’s immer als Schlimmstes, wenn der fremde Wille seine Herrschaft behält. Wie soll es anders werden? Vermöge seiner Majestät muss Gott es darauf ankommen lassen, dass der Wille der Schöpfung ihm wieder geneigt wird; und auch hierauf kann er nicht im Großen wirken, wenn nicht aus der Mitte der unter der Knechtschaft Seufzenden Bitten, dringende Bitten zu Gott emporsteigen. Jesus, der Menschensohn, ist hierin vorangegangen; und Jünger Jesu haben es nun als ihren Beruf anzusehen, den Vater im Himmel anzurufen, dass er doch, nun auch um Jesu willen, darauf wirken möchte, dass der fremde Wille allerwärts seine Macht verliere oder gar aufhöre und namentlich auf Erden gebrochen werde. Hieraus geht hervor, wie nötig unsre Bitte ist: „Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel!“
Der nächste Wille Gottes wäre also, dass alles sich ihm wieder untertan machte; und damit kommen wir einem besonderen Willen Gottes entgegen, nämlich dem, dass „er nicht will, dass jemand verloren werde, sondern will, dass sich jedermann zur Buße kehre.“ „Er will,“ heißt’s jetzt im Neuen Bunde, „dass allen Menschen geholfen werde, und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Gottes erster Wille ist also, dass seine Liebesabsichten erreicht werden möchten, wodurch eine völlige Unterwerfung unter allen seinen Willen von selbst sich ergeben würde. So kommt es, dass Jesus sagen konnte (Joh. 6, 40): „Das ist aber der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, dass, wer den Sohn siehet und glaubet an ihn, habe das ewige Leben.“ Solches nennt auch Paulus (Eph. 1, 9 f.) das Geheimnis des Willens Gottes, das gepredigt werden soll. An diesen Willen Gottes denkt Jesus vornehmlich bei der dritten Bitte. Er legt es uns nahe, wie es uns soll ein Anliegen sein, dass doch möglichst alle Kreatur den Weg zu Christus finde, was der barmherzige Wille Gottes ist. Ohne Aufhören sollen wir das auf dem Herzen tragen, dass doch werde, was er wolle. Machen kann’s ja doch nur Gott selbst, jetzt durch Jesus Christus, den der Heilige Geist in den Herzen der Menschen verklären soll. Er bedarf aber dabei unsres Anliegens, wie wir das mit Bitten aussprechen. Liegt keinem Menschen etwas daran, so betrübt’s den Vater und er stellt sein verborgenes Wirken stille. Sind wir aber mit brünstigem Eifer dabei, dass wir auch nichts in dem versäumen, was sonst in unsre Hände gelegt ist, um den Willen Gottes zur Erkenntnis aller zu bringen, so eilt der Vater, das Seligmachen der Kreatur nach seinem Willen zu vollbringen. Übel machen’s die, die immerdar meinen, alles mache sich von selber, ohne dass ein Mensch darnach frage; und noch übler die, welche zu denken scheinen, dem Vater sei es gleichsam nicht recht ernst, jedermann selig zu machen, und er sei viel eher bereit, den Strengen und Harten zu machen, als den Gnädigen und Barmherzigen, ob dadurch auch viele zur Verdammnis fahren oder nicht. Sie nehmen den lieben Gott gerade wie sich selbst, als mache es ihm nicht so viel aus, wenn die Mehrzahl verloren gehe. So denken sie sich auch die dritte Bitte mehr als eine Herausforderung Gottes, mit seiner Allmacht durchzufahren wider die Feinde Gottes, denn als eine Bitte, die Widerspenstigen, diesseits und jenseits, dadurch zur Seligkeit zu führen, dass er’s über sie gewinne, sich der Liebe Jesu, somit auch dem Willen Gottes zu unterwerfen. Jünger des Herrn aber haben Jesu Priesterherz in sich, das sich für aller Welt Sünde hat durchbohren lassen, und bitten in seinem Namen alle Tage ernstlicher, dass sein Wille, möglichst jedermann zur Erkenntnis Christi und Unterwerfung unter seinen Namen zu bringen, möge erfüllt werden. Sie bitten, dass der Vater doch möge alle Hebel ansetzen, dass sein Wille auf Erden geschehe, in weitestem Umfange selig zu machen durch den Glauben an Jesum. Möchte es solcher Beter mehr geben, als es gibt!
Sonst aber ist nicht zu übersehen, dass auch Jünger des Herrn oder Gläubige acht darauf haben müssen, dass von ihnen in allem Gottes Wille geschehe. Der Arge ist darauf aus, womöglich auch die Auserwählten auf Abwege zu bringen und in Netze des Ungehorsams zu verstricken. Wenn es daher heißt (1. Thess. 4, 3): „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung,“ ferner (Röm. 12, 2): „Stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen möget, welches da sei der gute, der wohlgefällige und der vollkommene Gotteswille;“ auch wenn es heißt (Hebr. 10, 36): „Geduld ist euch not, auf dass ihr den Willen Gottes tut und die Verheißungen empfanget,“ namentlich wenn der Herr so ernst sagt (Matth. 7, 21): „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel,“ – so zeigen diese und andre Worte der Schrift, wie nötig es ein jedes für sich hat, den Vater zu bitten, er möchte ihm helfen, um in allem nach seinem Willen zu sein. Engeln im Himmel gleich sollten Jünger des Herrn lauter Willigkeit und Folgsamkeit sein in allem, wovon sie wissen, dass es und wie es nach dem Willen Gottes ist, damit es auf Erden sei und werde, wie im Himmel, da der Herr wohnt. An solches hätten wir denn auch zu denken, wenn wir beten: „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel!“
Matth. 6, 11 – 13
Die weiteren Bitten gehen den Beter selbst näher an, weswegen wir sie nicht mehr Reichsbitten nennen wollen. Freilich darf man auch bei ihnen den Blick auf die vielen nicht vergessen, welchen dieselben Bitten am Herzen liegen, auch nicht den Blick auf das Reich Gottes, innerhalb dessen den Reichskindern das Übrige zufallen soll.
„Unser täglich Bot gib uns heute!“
Der Herr hat einen Beter im Auge, der für heute noch nichts hat, und sein Nötiges erst erbitten muss. Wer gerade nicht so bedürftig steht, soll, wenn ihm’s auf heute gegeben ist, wenigstens an die vielen denken, die es nicht haben wie er, und dazu noch hungrige Kinder um sich haben. Nicht unwichtig ist es, dass jeder, dem’s gut geht, mit Teilnahme an die vielen Hungernden denkt, die morgens beim Erwachen nichts vor sich sehen, davon sie nur auch auf heute sich nähren könnten. Sind wir so gesinnt, so fällt uns vielleicht manches ein, für das wir heute etwa zu sorgen hätten. Jedenfalls wird durch die Bitte, wie sie der Herr uns beten heißt, unser Mitleiden für andre wach erhalten und unsre etwaige Sorge für sie angeregt. Wer so die Bitte aussprechen lernt, wird den Sinn des Heilandes treffen. Außerdem soll die Bitte diejenigen, die besser stehen, zur Dankbarkeit treiben, auch zu dem Gedanken führen, dass auch für sie andre Zeiten kommen könnten und sie etwa heute nur ihres Brots versichert sind, morgen vielleicht nicht mehr. Sonst ist nicht zu übersehen, dass es eigentlich Jünger Jesu sind, die beten lernen möchten. Mit Rücksicht auf sie lautet daher zunächst die vierte Bitte. Denn sie, wenn sie in alle Welt auszogen, waren nicht jeden Tag ihres Brots gewiss. Mitnehmen und voraussorgen sollten sie nicht; und somit mussten sie täglich der besonderen Hilfe und Güte des Herrn warten. Keinen Tag hatten sie von sich aus, was sie bedurften. Da sollten sie nicht sorgen und Unruhe haben, sondern einfach beten: „Gib uns, lieber Vater im Himmel, auch heute das tägliche Brot.“ Wenn sie allezeit gläubig sich an den Vater im Himmel hielten, fehlte es ihnen auch nie. Schon zu Lebzeiten des Herrn hatten sie’s so. Da sagte er zu ihnen:
(Luk. 10, 7. 8) „Wenn ihr in ein Haus kommt, bleibet da, esset und trinket, was sie haben. Denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.“
Später sagte der Herr zu ihnen:
(Luk. 22, 35) „So oft ich euch gesandt habe, ohne Beutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr auch je Mangel gehabt? Sie sprachen: Niemals.“
Hienach haben namentlich Arbeiter des Herrn nicht zu sorgen, wenn es ihnen scheint kümmerlich zu gehen und ihnen gar das tägliche Brot fehlen will. Für sie gilt die vierte Bitte vornehmlich. Sie hauptsächlich haben dabei den andern Spruch im Glauben zu beherzigen:
(Matth. 6, 33) „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit; so wird euch solches alles zufallen.“
nämlich was zum Essen und Trinken und zur Kleidung gehört.
Nehmen wir aber die Bitte doch allgemeiner, weil ja allen das Vaterunser gegeben wird, so denkt sich also der Heiland den Beter im äußersten Grad der Bedürftigkeit; und ihm macht er mit der Bitte Mut, auf den Vater im Himmel vertrauensvoll aufzublicken, dass er’s am Nötigsten, wenigstens heute, nicht fehlen lassen werde, und so auch morgen, wenn der Beter noch lebt, da er wieder ebenso bitten darf. Nehmen wir’s so, so liegt in der Bitte auch eine Verheißung, wie Luther zur Erklärung des schließlichen Amens sagt: „Amen, Amen, d.h. Ja, ja, es soll also geschehen.“
Wer in der äußersten Not mit kindlichem Glauben bittet, tut nie eine Fehlbitte. Nur denken sich viele zu bald in der äußersten Not, hätten oft wohl das Nötige auf heute und morgen, sorgen aber weiter hinaus; und das will der Heiland verwehren, schon darum, weil keiner weiß, wie lange er lebt, und jeder sich nur des angetretenen Tages einigermaßen gewiss ist. Heute, da du noch lebst und leben sollst, sollst du’s ganz gewiss haben; aber für morgen schließe deine Augen zu. Die Sorgen ums Brot gehen bei den meisten Menschen, wenn sie zu sorgen haben, zu weit hinaus. Mindestens wollen sie einen gesicherten Nahrungsstand haben. An und für sich nimmt ihnen der Heiland auch das nicht übel. Im Gegenteil verlangt er nach dieser Seite auch eine Treue vom Menschen, dass er nicht gedankenlos in den Tag hineinlebt, auch nicht, was ihm Gott an die Hand gibt zu weiterem Hinaussehen, leichtfertig und mutwillig oder träge und faul versäumt. Auch darf der Mensch wohl seinen Verstand brauchen und sich besinnen, wie er’s am besten unter Gottes Segen für die Zukunft mache. Wenn er aber gar zu sehr sich abhärmt, auch gar zu sehr sich überarbeitet, damit es ihm nicht fehle, überhaupt wenn er immer sorglich und ängstlich rechnet, mit Hintansetzung jedes Opfers, das er Bedürftigen bringen sollte, so ist das direkt gegen den Sinn der vieren Bitte. Immer wieder muss sich der Mensch, auch wenn’s knapp werden zu wollen scheint, damit beruhigen, dass er denkt: wenn ich’s nur auf heute habe.
Aber eben die, welche keinen gesicherten Nahrungsstand vor sich sehen, will der Heiland mit der vierten Bitte richtig stellen und trösten. Es darf ihnen nicht bange werden, zu verhungern, wenn sie über den heutigen Tag nicht hinaussehen. Sie sollen nur die Bitte zum Vater im Himmel tun. Ganz Arme verstehen’s oft ein wenig, getrost zu bleiben, auch wenn sie auf den nächsten Tag nichts vor sich sehen, weil sie gewohnt sind, von der Hand in den Mund zu leben. Mittleren Leuten wird’s oft sauer, und besonders solchen, die’s schon besser gehabt haben und durch Missgeschick aller Art aufs Äußerste gekommen und nun auch verschämter sind als ganz Arme. Der Heiland lehre sie kindlich die vierte Bitte beten: und besser gestellte Beter mögen doch eben an solche arg gewordene mitdenken, wenn sie die Bitte aussprechen. Denn diese verdienen’s in besonderem Grade; und wer an sie denkt, glaube ja nicht, dass er mit Bezug auf sie eine Fehlbitte tue. Dein mitleidiges Bitten für andre gilt!
Darf denn auch der Sünder die vierte Bitte beten und hoffen, Erhörung zu finden? Freilich, ja! Denn merke: erst nach, nicht vor der vierten Bitte kommt die Bitte um Vergebung der Sünden. Also auch wer die Vergebung der Sünden noch nicht hat, darf ums tägliche Brot bitten. Weil wir indessen alle Sünder sind und Sorge haben könnten, der Herr möchte uns um unsrer Sünden willen das Brot versagen, kann uns die Stellung der Bitte an das Wort Jesu erinnern: „Er lässet seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und lässet regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Darum heißt es sonst auch (Luk. 6, 35): „Er ist gütig über die Undankbaren und Bösen.“ Das tägliche Brot darf jeder ansprechen, sei er, was er wolle; und wenn jemand vertrauensvoll bittet, so hat das eine versöhnende Wirkung, und schaut das Vaterauge auf ihn herab, wie auf Hagar mit ihrem Sohne Ismael, welcher der Herr in der Wüste die Augen öffnete, dass sie einen Wasserbrunnen sah, aus dem sie den Knaben tränken konnte (1. Mose 21, 19). Auch wenn Gott den Raben gebot, um den Propheten Elia zu versorgen (1. Kön. 17, 4), und wenn er der Witwe sagen ließ: „Das Mehl im Kad soll nicht verzehret werden, und dem Ölkrug soll nichts mangeln“ (1. Kön. 17, 14), und wenn der Herr mit wenigen Broten Tausende speiste, damit sie nicht in der Wüste verschmachteten, auch wenn er in der Wüste Manna vom Himmel fallen ließ, damit Böse und Gute ihr täglich Brot hätten, so sind das Geschichten, die uns mit Mut die vierte Bitte beten lehren; denn wir sehen es: „Weg hat er allerwegen, an Mitteln fehlt’s ihm nicht.“ Es kann auch Wunder tun, wenn es nottut und keinen Verzug leidet, weiß es jedenfalls zu richten und zu leiten, dass seine wunderbare Hand recht erkennbar wird. Wer hat nicht Geschichten dieser Art schon vernommen?
Oben haben wir schon angedeutet, dass der Herr schon deswegen uns eben für heute anweise, ums Brot zu bitten, weil wir unsres Lebens auf morgen oder ferner gar nicht gewiss sind. Der Heiland denkt in allem gleich recht tief, wir nicht. Wir tun gerne, als hätten wir hienieden eine Ewigkeit durchzuleben; und alte Leute sind oft damit angefochten, dass es ihnen noch ausgehe, ehe sie sterben. Arme Toren, die wir alle sind, dass wir auf morgen um Brot sorgen und doch so unsicher gestellt sind mit unsrem Leben! Denke täglich, selbst wenn du ums Brot bittest, an deinen Tod, und blicke schon darum nicht sorgend auf den folgenden Tag und die Zukunft. Für heute hast du noch Lebensfrist mit einiger Sicherheit vor dir; und hast du sie, so kannst du auch zum Vater im Himmel sagen: „Weil ich lebe, gib mir, was nottut zum Leben.“ Dann gibt es auch Leute, die das Brot auf heute hätten und doch verzweifeln, weil sie denken, morgen oder übermorgen oder in einigen Wochen hätten sie nichts mehr zu leben. Da lassen sich viele vom Feind betören, selbst mit dem Brot in der Hand, das heute sie noch nährte, sich das Leben zu nehmen, weil sie meinen, es morgen nicht mehr zu haben. So hat’s jene Witwe zu Zarpath, eine Heidin, nicht gemacht. Die hat doch wollen ihr Letztes noch „zurichten und essen und dann erst sterben“ (1. Kön. 17, 12), d.h. den Hungertod erwarten. Man hat bei Verzweifelten, die sich aus Sorge das Leben nahmen, noch viel Geld gefunden. Diese haben die vierte Bitte nicht gekannt oder nie zu beten verstanden.
Wenn man’s genau betrachtet, enthält die vierte Bitte auch eine Bitte um Lebensfrist. Wie wir nämlich das Vertrauen, zum täglichen Brot zu kommen, nicht wegwerfen dürfen, so sollen wir auch die Bitte ums Leben festhalten. Vom Brot lebt der Mensch; und fehlt das Brot, wie die Nahrung überhaupt genannt wird, so steht das Leben in Gefahr; und dieses sollen wir also alle Tage, solange wir merken, dass es sein soll, mit der vierten Bitte uns herausbitten, auch wenn wir’s schwer haben. Das Leben muss uns wichtig bleiben. Wer in der Krankheit nicht essen kann, darf auch ums Brot bitten, d.h. um Erquickungen, die seinem Leben wieder aufhelfen. So leicht sterben wollen, um etwa aller Trübsal zu entgehen, darf uns nicht einfallen. Manchem kann freilich das Leben entleiden, denkt man, der jeden Tag brotlos sich sieht, dann aber auch wieder nicht, weil ihm’s Gott jeden Tag gibt. So kümmerlich übrigens lässt’s Gott auch wieder keinem Menschen gehen, der ihm vertraut. „Ich bin jung gewesen,“ sagt David (Ps. 37, 25), „und alt geworden, und habe noch nie gesehen den Gerechten verlassen, oder seinen Samen nach Brot gehen.“ Nur je und je hält der Herr besonders karg, um den Glauben auf die Probe zu setzen. Dann kommt’s auch wieder besser. Wie leicht aber kann jeder sein Leben mit Gott erhalten, ganz ohne Sorge. Denn zuletzt, wenn er nicht mehr sorgen kann, sorgt desto gewisser der Herr, wenn man nur ihn zu bitten versteht. Für Hungrige, Durstige, Elende aller Art hat der Herr, dass ich so sage, gar ein gutes Gehör, namentlich wenn’s auf dem Äußersten ist. O dass wir nur nach allen Beziehungen mehr Kinder wären des lieben Vaters im Himmel!
Wir haben bei der vierten Bitte es schon angeführt, dass der Mensch ums Brot bitten darf, noch ehe er sonst mit Gott ins Reine gekommen ist, weil Gott Bösen und Guten das Brot geben, auch Gerechte und Ungerechte mit viel Nachsicht am Leben erhalten will. Deswegen kommt die Bitte um Vergebung der Sünden erst nach der Bitte ums Brot.
Sie lautet:
„Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben,“ (eig. vergeben haben). – Bei Lukas (11, 4) heißt es: „Und vergib uns unsere Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind.„
Vergessen wir nicht, dass Jesus seine Jünger zunächst beten lehrt, welche einerseits nicht mehr sollen so beladen mit Sünden, wie das unbekehrte Menschen sind, vor Gott kommen, und andrerseits gegen niemand, der sich an ihnen verschuldet hat, etwas auf dem Herzen tragen dürfen. Jenes tritt bei Matthäus, nach welchem wir das Vaterunser beten, etwas feiner hervor als bei Lukas, wiewohl auch dieser daran anstreift. Matthäus nämlich spricht nicht von Sünden, sondern von Schulden, Verschuldungen, Versäumnissen, mit denen man sich vor Gott schuldig gemacht hat. Lukas spricht von Sünden, aber doch auch im zweiten Gliede von solchen Menschen, die uns schuldig sind, dem Worte des Matthäus wieder gleich. Eigentliche Sündenvergebung haben die Jünger des Herrn schon, als die durch ihn in ein Gefühl der Seligkeit Gekommenen. Bei ihnen sollte in ihren Gebeten nicht mehr von wirklichen, schweren Sünden die Rede sein müssen. Für sie ist es ein Fehler, wenn sie, nachdem sie die großen Reichsbitten gesprochen haben, hintennach sich sollten schwerer Sünden vor Gott anklagen müssen. Darum ist fein nur von Schulden bei Matthäus die Rede; und wenn Lukas von Sünden redet, müssen wir das als minder genau wiedergegeben nehmen, und so, dass auch bei ihm unter Sünden mehr Fehltritte, Verschuldungen durch Versäumnisse, verstanden sind, wie sie bei Jüngern Jesu, die ja noch mit Schwachheit umgeben sind, auch vorkommen können. Wenn man so gar sehr die Schulden wollte als Sünden, auch schwere Sünden nehmen, so hätten die ein wenig Recht, welche meinen, kein Vaterunser beten zu können, weil das gläubigen und darum gerechten und seligen Christen, die bereits volle Vergebung der Sünden haben, nicht gelte. Es sind das die nämlichen Christen, welche teilweise auch zu keiner Beichte mehr gehen wollen, weil das Beichtgebet mit den Worten anfängt: „Ich armer Sünder bekenne.“ Ihnen hätte man sagen können, der Heiland rede ja nicht von Sünden, sondern von Schulden. Freilich hätten sie auch dann nicht unerwogen lassen sollen, dass Schulden und Versäumnisse wirklich noch vorkommen und somit stete Bitte um Vergebung auch für Wiedergeborene nötig bleibt.
Ein rechter Jünger Christi wird doch so stehen, dass er nur Übereilungs- und Schwachheitssünden sich zuschulden kommen lässt, oder Unachtsamkeiten, durch welche er zu Versäumnissen aller Art kommt bezüglich dessen, was er Gott und den Mächtigen schuldig ist. Dergleichen Verfehlungen werden ihn auch beugen; und er kann sie im Gebet vor Gott nicht unberührt lassen, weil sie sonst den Charakter von schweren Sünden bekommen könnten. Verfehlungen, die wir nicht beachten, können ein schweres Gewicht vor Gott bekommen, während Gott sie den Aufrichtigen leicht vergibt, ohne dass sie sich an ihnen so sehr abgrämen dürfen. Begegnet es indessen einem sonst gläubigen und bekehrten Christen, der sich in der Gotteskindschaft fühlt, dass er in eine schwere Sünde hineingekommen ist, so kann er mit einem einfachen Vaterunser es nicht vor Gott abmachen. Er hat eine ernstere Buße nötig, ja auch Bekenntnis seiner Sünde, damit sie nicht als ein verborgener Bann auf ihm liegen bleibe.
Namentlich kann uns der Beisatz bei der fünften Bitte: „Wie wir unsren Schuldigern vergeben“ darauf aufmerksam machen, dass wir die Sündenvergebung nicht so ohne weiteres als erlangt ansehen dürfen, wenn nur wir für uns etwa Buße tun. Solche Buße kann ohne Wirkung der Vergebung bleiben, wenn mein Herz im Verborgenen ungeneigt bleibt, diesem oder jenem Schuldiger ganz zu vergeben. Solches tritt oft erst an den Tag, wenn uns der Schuldiger begegnet, während wir unsre Bitterkeit vergessen, so lange wir ihn nicht sehen. Solches sei nur gesagt, um zu zeigen, wie diese fünfte Bitte es sehr ernst nimmt mit unsren Sünden und nicht den Eindruck geben will, die Vergebung habe unter allen Umständen gar keinen Anstand. Fordern schon leichtere Verschuldungen eine Abbitte, wie viel mehr ist es mit wirklichen Sünden ernst zu nehmen. Nur nicht flugs weg über Schulden, Versäumnisse und Sünden!
Andrerseits darf man auch nicht verzagen, wenn man in einer versuchungsvollen Welt im Unbedacht in Verschuldungen sich sieht. Die Vergebung entzieht sich uns nicht, wenn wir nur die Verschuldung ernstlich ins Auge fassen, als solche gefährlich nehmen und gegen sie uns mannhaft stellen mit der Bitte: „Vergib uns, lieber Vater, unsre Schulden.“ Solchen Aufrichtigen, die nichts Böses neben Gutem laufen lassen, wird leicht vergeben. Denn der Herr ist barmherzig. Die fünfte Bitte hat den Zusatz: „Wie wir unsern Schuldigern vergeben“ oder „vergeben haben“. Mit diesen Worten soll kein Recht ausgesprochen werden, mit dem Sinn, dass uns Gott vergebe, weil wir auch vergeben. Nehmen wir’s so, so wär’s, als ob wir’s als verdient ansähen, dass uns Gott vergebe; und dann liefe es auf eine schnöde Selbstgerechtigkeit hinaus, mit der wir das Vaterunser beteten. Der Beisatz will nur sagen, dass wir’s gar nicht wagen dürften, Gott um Vergebung zu bitten, wenn wir nicht selbst auch ein vergebendes Herz hätten. Denken wir uns, wir hätten einen Groll gegen jemand im Herzen und beteten für uns um Vergebung sonstiger Sünden! Müsste da nicht Gott unwillig sich von uns abwenden, als von Leuten, die er Lust hätte nur gleich empfindlich zu züchtigen, dass wir so frech etwas von ihm fordern wollten, dass doch wir unsrerseits nicht an andern tun? O wie viele nichtssagende Vaterunser werden doch täglich gebetet, weil in den Herzen so viel Ärger Zorn, Rachsucht, Bitterkeit, Feindschaft ist, während wir beten! Hüte dich doch, kein Vaterunser zu beten, das dich vor Gott nur noch schlechter macht, als du etwa schon bist!
Merke aber wohl, dass der Heiland nicht uns beten heißt, wir wollten erst nachher vergeben, gleichsam Gott zum Dank, wenn er uns vergeben habe. Vielmehr ist der Sinn der Bitte, wie auch aus der genaueren Übersetzung erhellt, der, dass wir sagen, wir hätten schon vergeben, stehen ganz frei da von aller Feindschaft und Bitterkeit, tragen nichts auf dem Herzen gegen irgend jemanden, der sich auch gegen uns verfehlt hat. Wird dir’s schwer, von widrigen Empfindungen gegen deinen Nächsten frei zu werden, so kannst du ja, statt: „Wie wir vergeben,“ beten: „Hilf uns, dass wir’s ganz aus dem Herzen bringen können, was wir gegen andre haben, wie es unser ernstlichster Wunsch und Wille ist.“ Wenn du beim Vaterunser, besonnen und andächtig es hersagend, so etwas nur denkst, so wird dich gewiss der Vater im Himmel freundlich ansehen und dir deine eigene Verschuldungen nicht nachtragen.
Wie wichtig der Herr unser Vergeben nimmt, zeigt er damit, dass er nach dem Schluss des Vaterunsers, eben zur fünften Bitte, noch etwas weiteres sagt, mit den Worten:
V. 14 f. „Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.“
Hier heißt’s Fehler, Fehltritte, Übertretungen. Andern sollen wir die Sünden nicht so hoch tarieren und ihre Versündigungen lieber glimpflicher benennen, als sagten wir auch mit dem Heilande: „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Bei Jüngern Jesu aber soll Schweres gar nicht vorkommen. Ach dass es so wäre! Begehen wir aber Versündigungen, sei’s in was es wolle, so können sie uns nicht vergeben werden, wenn wir selbst die Harten und Unversöhnlichen bleiben gegen Mitmenschen. Der Barmherzige allein wird wieder Barmherzigkeit empfahen. Die Barmherzigkeit aber erscheint in nichts größer, als wenn wir Mitleiden haben mit Menschen, die sich an uns versündigt haben. Diese fühlen oft gleich ihre Schuld gegen uns und sind unglücklich darüber. Sollten wir sie nicht beruhigen und trösten wollen? Fühlen aber unsre Schuldiger etwa ihre Schuld nicht und wir kommen dennoch ihnen liebreich entgegen, wie können wir da feurige Kohlen auf ihr Haupt sammeln, dass sie in Liebe zerfließen, wie sie zuvor in Hass steinhart gewesen sind? An jenem Tage aber wird immer, wenn da jemand als armer Sünder vor Gott steht, zuerst nachgesehen werden, ob er habe Beleidigern vergeben oder sie Rache fühlen lassen. Da kann’s uns leicht und schwer werden, je nachdem wir’s gemacht haben. Wären doch die Menschen, besonders die Jünger des Herrn, alle klug!
„Und führe uns nicht in Versuchung!“
Das Verbindungswort „und“, welches je und je zufällig beim Hersagen ausgelassen wird, nehmen viele mit Nachdruck wichtig, es denen verdenkend, die es nicht zu sagen gewohnt sind. Sie denken sich wohl dabei, und nicht mit Unrecht, eine nähere Verbindung der sechsten mit der fünften Bitte und sagen, wie die fünfte Bitte begangene Schulden gut machen soll, so solle die sechste vor weiteren verwahren. Allerdings muss uns bei jeder Abbitte von Sünden zunächst auch daran liegen, dass doch die gleichen Sünden sich in der Zukunft nicht wiederholen, also die Versuchung zu ihnen ferne bleibe. Die Versuchung ist um so größer, wenn man einer Sünde bereits gedient hat, nach dem Wort „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht,“ d.h. der ist an sie gebunden und wir wie unwillkürlich zu ihr hingezogen. Namentlich mit sogenannten Gewohnheitssünden muss man es beim Bitten um Vergebung ernst nehmen, mit dem Blick auf die Zukunft. Merken wir uns denn das Wichtige, das uns schon das Wörtlein „und“ sagt, bei der Bitte: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Übrigens hat die Bitte noch einen viel tieferen und weiteren Sinn und bedarf sonst sehr der Auslegung. Unwillkürlich fällt uns bei ihr der Versucher ein, als hieße es: „Führe uns nicht dem Versucher entgegen,“ oder: „Gib uns nicht in die Gewalt des Versuchers.“ Wir können dabei auch an den Heiland denken, wie der versucht wurde. „Vom Geist,“ heißt es, „ward er in die Wüste geführt, auf dass er von dem Teufel versucht würde.“ Wir können es uns nicht wünschen, in ähnlicher Weise dem Versucher entgegengeführt zu werden. Der Heiland musste es erproben, dass auch der Teufel ihn nicht zu Fall bringen könne. Wir würden darüber erschrecken, weil wir denken, mit uns wäre der Versucher bald fertig. Das hat seinen Grund daran, dass der Versucher bereits ein Räumlein in uns inne hat, darin er gleichsam schläft. Wir nennen das die natürliche Verderbnis. In diesem Räumlein liegen als Keime Satans die bösen Stücke verborgen, als da sind (Mark. 7, 21 – 23): „Böse Gedanken: Ehebruch, Hurerei, Mord, Dieberei, Geiz, Schalkheit, List, Unzucht, Schalksauge, Gotteslästerung, Hoffart, Unvernunft,“ wie dergleichen bei allerlei Gelegenheit aus dem Herzen hervorgehen. Diese bösen Stücke waren bei Jesus nicht, wie bei uns, verborgen da, weswegen es Gott, dass wir so reden, mit ihm schon wagen konnte, ihn dem Versucher auszusetzen. Bei uns ist’s etwas anderes. Da darf der Versucher nur an die bösen Stücke in uns anschlagen, und im Nu sind sie lebendig. Auch bei Wiedergeborenen nämlich dürfen wir diese Keime der Finsternis oder Satans nicht als ausgelöscht und völlig ausgemerzt uns denken. Es sind Satanskräfte, die selbst den Charakter von Persönlichem bekommen können, wie es Paulus nimmt, der will, dass wir sie nicht herrschen lassen, ihnen nicht Gehorsam leisten oder zu Knechten uns hingeben sollen (Röm. 6, 12. 13. 19). Sie erscheinen als ein Otterngezüchte, eine Schlangenbrut, eine Art heimlicher Dämonenwelt im Menschen, dass ich so sage; und ich sage gerne so, weil nur bei dieser Anschauung völlige Wachsamkeit über sich selbst möglich ist. Immerhin können Jünger Jesu über diese Schlangenbrut in sich Herr werden, dass sie ihnen nicht schaden, sie nicht verderben kann, selbst wenn sie innere Erregungen verursacht. Wenn sie aber durch den Versucher außer ihnen wie zu einem Leben erweckt und entzündet wird, dann ist leicht vieles für sie zu fürchten. Daher die Bitte wider die Versuchung, dass diese doch nicht zu stark werden und über unsre Kräfte gehen möge.
Hienach lässt sich auch der scheinbare Widerspruch auflösen, in welchem das Wort Jakobi mit der sechsten Bitte steht. Diese bittet, Gott möge uns nicht in Versuchung führen; Jakobus aber sagt, Gott versuche niemand. Die Worte Jakobi sind:
1, 13 – 15 „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen; und er selbst versucht niemand. Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod.“
Jakobus setzt hienach die Lust als schlafend im Menschen voraus; denn wenn der Mensch von ihr gereizt und gelockt wird, was ja nicht immer ist, so ist’s eine Versuchung und steht die Sünde vor der Tür. Die Reizung entsteht bei einem Jünger Christi nicht leicht, sondern in Folge eines Anlasses; und diesen Anlass gibt irgendwie der Versucher. Es ist also, wie wenn Jakobus sagte: „Ein jeglicher wird versucht, wenn seine eigene, d.h. die in ihm schlafende Lust vom Versucher, wie der nun komme, gereizt und gelockt wird.“ Wenn der Feind dem schlafenden Dämon der Lust nahe kommt, wird dieser wach und regsam. Ist dem aber so, so hat die sechste Bitte eine große Bedeutung und enthält eine bitte um Abwendung der Annäherung des Versuchers, damit in dem Beter kein Sturm erwache, sondern Ruhe und Friede bleibe. Weil auch der Beter in einer Welt, die im Argen liegt, lebt und sich zu bewegen hat, kann er unter dem Wandel leicht dem Versucher nahe kommen, in eine Falle geraten, die der Versucher gelegt hat. Darauf bezieht sich noch deutlicher der Wortlaut der Bitte: „Führe uns nicht, lass uns nicht unvermutet kommen in eine Versuchung.“ So gefasst, ist die Bitte besonders wichtig, weil sie mahnt, es mit dem Wandel in der Welt ernst zu nehmen, dass man nicht sorglos und arglos, ohne sich innerlich zu wappnen und unter den Schutz Gottes zu stellen, überallhin sich begebe, wie es einst Dina, Jakobs Tochter, nicht überlegt hat, in welche Netze der Versuchung sie sich begebe, als sie einen Ausgang machte, „die Töchter des Landes zu sehen“ (1. Mose 34, 1. 2).
Die Bitte bekommt eben bei dem, welcher einer Sünde schon erlegen ist; eine besondere Bedeutung. Denn da, wo’s der Versucher schon einmal gewonnen hat, sei’s fein oder grob, macht er sich gerne wieder her, weil er sich den Boden zur Sünde gelockert denkt. Es erfährt’s auch jeder, wie er immer leichter der Versuchung erliegt, je öfter er in die Sünde fallt. Geht es das erstemal schwer, so ist fürs zweitemal schon einiger Zug dazu da, weil der innewohnende Sündenkeim belebt worden ist. Darum ist immer und immer wieder der Versucher da, gleichsam seinem Vasallen im Menschen zu rufen, der im Menschen selbst nicht mehr in festen Banden liegt. Der Versucher kann direkte Einwirkungen machen. Er kann auch durch Menschen kommen, die den Sündenkeim anregen. Er kann ferner durch erschreckende oder erfreuliche und darum lockende oder überhaupt frappante Ereignisse im täglichen Leben sich nahe machen, und Zorn, Ärger, Geiz, Unzucht, Unvernunft jeder Art im Menschen aufwecken. Geht alles um den Menschen her friedlich zu, so schläft alles in ihm und steht ihm wirkliche Sünde ferne. Der Versucher aber kann schnell allerlei in Flammen setzen und machen, dass die bösen Stücke alle, die im Herzen sind, hervorkommen.
Wenn uns also der Heiland bitten heißt: „Führe uns nicht in Versuchung,“ so ist’s im Grunde auch eine verstärkte Bitte um Sündenvergebung und Äußerung einer gründlichen Buße und Erkenntnis seiner selbst. Wer Sünde getan hat, soll die Sünde auch fürchten, soll daran denken, dass der Versucher ihm näher ist, als ehe er gesündigt hat. Die sechste Bitte weist ihn darauf hin. Völlig vergeben ist in der Regel eine Sünde nur, wenn Gott auch den Versucher ferner abwendet und dem nicht erlaubt, Anlass an der geschehenen Sünde zu nehmen, um wieder mit harter Versuchung zu kommen. Man mag aber denken, wie tief die Sünde eines Menschen, wie groß die Angst vor der Sünde und wie völlig die Erkenntnis der Sünde sein muss, um wirklich es herausbitten zu können, dass Gott nicht in die Versuchung führe, den Versucher ferner nicht zulasse oder ihn selbst dem Versucher nicht entgegenkommen lasse. Wer’s aber mit der Bitte ernstlich meint, darf immerhin auf Erhörung rechnen. Übrigens bemerke man da, wie leicht es viele nehmen. In großem Selbstvertrauen gehen sie überall hin, auch an gefährliche und versuchliche Orte; und sie nehmen’s auch dem, der sie warnen will, übel, dass er ihnen nicht besser traue. Daneben besehen sie sich alles, lesen auch alles, selbst Unzüchtiges und Schamloses, geschweige denn, dass sie einen gefährlichen Umgang meiden wollten, immer meinend, das sei ja keine Sünde. Keine Sünde? Lockst du nicht damit den Versucher aus der Ferne? Und weckst du nicht damit den Dämon der Lust in dir auf? Dennoch betest du, Schalk, ganz sorglos, selbst andächtig: „Führe uns nicht in Versuchung!“
Die Bitte kann auch heißen: „Lass mich nicht in Lagen kommen, die mir zur Versuchung dienen könnten!“ Ist einer zu reich oder zu arm oder zu krank oder sonst zu unglücklich, dass es ihm ist, als gehe es über sein Vermögen, - zu wie viel Sünden wird er da versucht, namentlich auch mit böser Selbsthilfe verschiedener Art. Gerne denkt er: „Was tut man nicht, wenn man in der Not ist,“ oder: „Helfe, was mag,“ wie namentlich die sagen, die zu Zaubereien oder sonst verbotenen Künsten ihre Zuflucht nehmen. Andere kommen auf Betrug oder Spiel oder sonst Schwindel, wieder andere auf Gedanken wider ihr Leben. Es hat aber immer einen Grund, wenn die Versuchung so stark wird. In der Regel liegt eine Schuld in der Vergangenheit, da man nicht versäumt hat, bei viel geringeren Anlässen alles zu tun, nur nicht das, was recht ist. Da führt Gott den, der etwa nun bekehrt sein will, noch tiefer hinein, um zu sehen, ob er seine Leichtfertigkeit, seinen Unglauben, seinen Leichtsinn, seine Verzagtheit und dergleichen verlernt habe und jetzt Gott vertraue. Insofern ist der Wortlauf der Bitte: „Führe mich nicht in Versuchung,“ als könnte es Gott selbst tun, genau zu nehmen, weil man ihn bitten soll, Vergangenes nicht mehr in Rechnung zu bringen. Weil oft eine Schuld vor Gott da ist, ist’s eine Strafe von Gott, wenn der Versucher kommen oder der Mensch ihm in die Hände fallen darf; und so führt Gott selbst in die Versuchung, als der Rächer alles Bösen. Dass er es aber nicht tue, darf man bitten; und danken wir dem Heiland, der uns Anleitung dazu mit der sechsten Bitte gibt. Wir beten aber zu einem erhörenden Gott. Klar ist indessen so, was oben schon gesagt wurde, wie nötig es sei, völlige Vergebung der Sünden zu haben, und wie überhaupt die sechste Bitte nichts anderes sei als eine Bitte um völlige Vergebung der Sünden, dass Gott auf seine Weise die Sünden weiter heimsuchen möge, auch damit nicht, dass er zur Probe wiederholten Versuchungen aussetze und dem Versucher etwas zulasse. Ach dass wir’s lerneten, mit aller Sünde es recht ernst zu nehmen, aber auch uns völlig und rein zu machen im Blute Jesu!
Wir kommen an die letzte Bitte des Vaterunsers, welche lautet:
„Sondern erlöse uns von dem Übel!“
Wenn’s heißt: „Führe uns nicht in Versuchung,“ so liegt darin eine Bitte um Bewahrung vor den Angriffen des Versuchers, wobei aber der Versucher bleibt, der er ist. Sagen wir sodann: „Erlöse uns von dem Übel,“ so liegt darin die Bitte um völlige Beseitigung des Versuchers, mit welcher erst ganz und für immer geholfen ist, womit dann auch alle Versuchung aufhört. Wer Griechisch versteht, kann erkennen, dass nicht von einem Erlöstwerden die Rede ist, das sich immer wiederholen soll, so oft das Übel den Menschen erfasst hat oder die Versuchung an ihn kommt; sondern die eigentümliche Zeitform drückt’s aus, dass ein für allemal etwas geschehen soll, eine Tat, durch welche wir vom Übel ganz befreit werden. Wir sehen, wie so die siebente Bitte wieder eine Reichsbitte wird, bei der es uns als höchstes Anliegen bei jedem Gebet dastehen soll, dass die Zeit herbeikommen möchte, in welcher ein dauernder und durchschlagender Sieg wider das Übel eintreten dürfte.
Das Wort Übel nämlich drückt nur notdürftig aus, was eigentlich die Bitte meint; und besser wiedergegeben wäre das Wort, wenn es hieße: „Von dem Argen.“ Wer aber nach der Schrift der Arge ist, das wissen wir. Wer soll denn im Gleichnis gemeint sein, wenn es heißt (Matth. 13, 19): „Wenn jemand das Wort nicht versteht, so kommt der Arge und reisst es hin.“? Markus (4, 15) setzt dafür den Satan und Lukas (8, 12) geradezu den Teufel. Wer soll ferner unter dem Argen verstanden sein, wenn Paulus sagt (2. Thess. 3, 3): „Der wird euch bewahren vor dem Argen,“ oder wenn Johannes (1. Joh. 5, 18) sagt: „Der Arge wird ihn nicht antasten,“ oder (V. 19): „Die ganze Welt liegt im Argen.“? Die letzte Bitte erinnert also wieder daran, dass schließlich dem Teufel, der sich als Fürst dieser Welt benimmt, die Herrschaft genommen, alle seine Macht zertrümmert, er selbst durch Gottes Macht unter unsre Füße getreten werden muss (Röm. 16, 20).
Solange Satan oder der Arge gleichsam am Ruder sitzt und als Verkläger und Verderber dasteht, ist das Reich Gottes nicht fertig, gibt’s auch keine Ruhe und keinen Frieden durch die ganze Schöpfung. Christus aber hat den Kampf wider ihn begonnen, ist als der Stärkere über ihn gekommen und hat zuletzt ihn auch durch seinen Tod gerichtet, jedoch ihn noch nicht aus dem Mittel getan, was erst durch nachfolgende Kämpfe seiner Jünger geschehen soll. Christus ferner hat sich zur Rechten gesetzt, um zu herrschen, bis dass er alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße lege (P. 110,. 1). Demgemäss wird er auch, wie der Glaube seiner Jünger darauf hinführt, aufheben alle Herrschaft und alle Obrigkeit und alle Gewalt mit einem Worte, alles, was sich wider Gott und die Erlösten gesetzt hat, sich untertan machen (1. Kor. 15, 24 ff.). Dass das geschehe, muss auch uns, wie wir früher schon dargelegt haben, ein Anliegen bleiben. Wir dürfen des Teufels Herrschaft nicht ruhig ihren Weg gehen lassen, sondern müssen mit Bitten und Flehen anhalten, dass es endlich durch alles hindurch mit ihm und aller seiner Macht ein Ende nehme. Wir haben dann freilich auch die Aufgabe, unsrerseits wider die Angriffe des Teufels uns zu wehren; und nur, wenn wir das mit Glauben tun, unter Anrufung Jesu, des Siegers, geht’s auch vorwärts mit der endlichen Erlösung der Schöpfung von dem Argen und allem Übel. Wäre die Christenheit mehr darauf bedacht gewesen, als sie’s war, so wäre wohl schon längst der Arge abgetan. So aber bleibt heute noch das meiste für uns erst in der Zukunft. Aber mit einemmale wird, unter verborgenen Kämpfen seiner treuen Jünger, der Herr hervorbrechen mit seiner Macht und schnelle Hilfe bringen aller seufzenden Kreatur, bis Gott sein wird alles in allem, da denn die Bitte um Erlösung von dem Übel zur vollständigen Erhörung gekommen ist.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Wie die letzten Bitten den Betenden wieder ganz hineinführen in die große Reichssache Gottes auf Erden, indem sie an die Kämpfe erinnern mit dem Argen, von dem auch die Versuchungen ausgehen, so schließt das ganze Gebet in Worten, durch welche der Betende seiner zuversichtlichen, sicheren Stellung zum Vater im Himmel Ausdruck verleiht, welcher der Reichssache in seinen Kindern gewissen Verstand und Sieg verschafft. Solche siegesgewisse Stellung zum Vater im Himmel gibt auch allein die Berechtigung, die sieben Bitten vor Gott zu bringen und in ihnen gleichsam zu leben. Es muss einer das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit des Vaters erfahren haben, wie sie die Jünger Jesu an dem Herrn Jesus gesehen und erkannt und in sich aufgenommen hatten, wenn er will das Reichsgebet zu seinem eigenen Gebet machen. In vollkommener Weise betet es eigentlich nur der Heiland; die sieben Bitten sind so recht die Seufzer des Heilandes auf Erden, der sich unter die von Gott getrennten Sünder und in ihr Elend hineinstellt und mit ihnen seufzt. Ein Jünger Jesu rechter Art betet und seufzt ihm nach, und das um so mehr, je mehr er schon vom Heiland aus Einblicke in das Reich und in die Kraft und in die Herrlichkeit des Vaters bekommen hat. Es hieße deswegen sich vom Heiland trennen, wenn man wollte das Vaterunser nicht mehr beten, wie es etliche schon tun wollten in der Meinung, sie seien als vollkommene Christen darüber hinaus. Aber je vollkommener du bist, desto mehr bist du ins Seufzen gestellt um das Reich Gottes; denn es werden dir die Weltreiche zum Kampf.
„Dein ist ja das Reich, lieber Vater im Himmel! Das weiß ich gewiss, es kann niemand den Anspruch auf Herrschaft über die Menschen erheben, als du allein, und solange ich sehe, dass die Welt und der Teufel und das eigene Fleisch noch Herrschaft ausüben, solange bin ich in die Reichsbitten gestellt, und es bleibt meine höchste Lebensaufgabe, mit diesen Bitten zuversichtlich den Heiland auf Erden zu vertreten,“ so denkt ein Jünger Jesu. Oder soll es uns einerlei sein, wenn der Name Gottes entheiligt wird, weil irdische Dinge und andere Namen bei den Menschen wichtiger genommen werden? Ist’s doch lauter Selbstbetrug, wenn wir uns noch beherrschen lassen von irgend etwas anderem als vom Vater im Himmel, wie wenn unser Lebensglück auch von anderswoher käme. Und gesetzt, ich bin unter Gottes Obhut gekommen, soll mir’s dann einerlei sein, wenn andere Menschen noch unter dem Betrug der Sünden und Weltherrschaft stehen? Ist nicht das Reich Gottes, des Vaters, allein zu Recht bestehend? Ja, es wird uns ganz unleidlich, noch ein anderes Reich zu sehen. Das lehrt uns beten: „Dein Reich komme. Ja komm, Herr Jesu, denn dein ist das Reich zur Ehre Gottes des Vaters, und mache anderen Reichen ein Ende!“ Ohne ein Kommen Gottes wird es ja nicht anders auf Erden, und deswegen enthält das glaubenssichere Wort: „Dein ist das Reich“ die Sehnsucht und das Warten auf das Kommen Gottes und seines Reiches. Dann geschieht auch der Wille Gottes vollkommen auf Erden wie im Himmel. Es hört damit das eigenmächtige und eigenwillige Benehmen der Menschen auf, und alles fügt sich in den Willen des Vaters, der alles beherrscht mit väterlicher Liebe. Und so soll es werden; denn „Dein ist das Reich, lieber Vater im Himmel!“ O höre unsre Bitten, die wir als des Heilands Bitten und Gebet vor dich bringen!
Und „Dein ist ja auch die Kraft,“ heißt es weiter. Wir beten nicht vergeblich, denn wir wissen, dass dem Vater im Himmel alle Dinge möglich sind. Er kann alles herrlich hinausführen, was wir in der rechten Gesinnung bitten als Reichsleute, die dem Heiland dienen. Dem Vater im Himmel fehlt es nicht an Kraft, sein Reich geltend zu machen und uns auch voraus zu versorgen mit allem Notwendigen, dessen wir täglich bedürfen sowohl an Brot als an Abwehr unsrer Verschuldungen als auch an Bewahrung vor Versuchung und endlich an Erlösung von dem Argen. Gehen wir doch durch den Heiland hinein in die Kraft des Vaters, wie sie jetzt auf Erden sich offenbar macht und jedermann dienen will zur Seligkeit durch Jesus Christus. Ist nicht Jesus der Sieger geworden in allen Dingen? Sollen wir nun zweifeln und zaghaft werden, ob er’s auch hinausführen könne zum völligen Sieg des Reiches des Vaters im Himmel? Mitnichten! Wir wissen die Kraft Gottes und haben sie gesehen und deswegen lassen wir uns mit Freuden in das Gebet des Herrn hineinstellen und machen die großen Sachen zu unseren Herzensanliegen und wissen, es muss alles erfüllt werden und kann erfüllt werden durch die überschwängliche Kraft Gottes, des Vaters.
„Dein ist auch die Herrlichkeit“ heißt es endlich in dem Betenden, dass er sicher beten kann. Ruhm und Preis und Ehre sind dem Vater eigen, und alle Kreatur, die in ihm lebt und webt, verkündet diese Herrlichkeit Gottes. In der Sündenwelt ist es vielen Kreaturen abhanden gekommen, und sie verherrlichen nicht mehr in sich den Vaternamen Gottes. Ungekannt von ihnen ist sein Name, ja fast beschimpft. Sie danken ihm nicht, sie loben ihn nicht, sie rufen ihn nicht an. Sie verherrlichen sich selbst, so lange es geht, und werden dann zuschanden, wie an ihnen die Herrlichkeit Gottes nicht anerkannt wird und bei ihnen deswegen nicht gesehen wird. Kann das so bleiben? O nein! Das wäre unerträglich. „Dein, lieber Vater, ist die Herrlichkeit in allem, was lebt. In dir leben, weben und sind wir mit allen Kreaturen.“ Das wissen wir, das soll wieder an den Tag kommen, und darum beten wir das Gebet des Heilandes, des Erstgeborenen von allen Kreaturen, in welchem alle neu werden sollen durch eine Wiedergeburt im Glauben an ihn, damit die Herrlichkeit Gottes aus allen Kreaturen wieder herausstrahle und der Vatername herrlich töne in der ganzen Welt. So ist das Wort: „Dein ist die Herrlichkeit“ aus dem Bewusstsein heraus gesprochen, wie es zuletzt auf die Offenbarung der Herrlichkeit des Vaters über die ganze Schöpfung hinauslaufen werde. Ein Blick auf diese Herrlichkeit, der wir entgegengehen, kann erst das Gemüt des Beters, der noch in so vielen und schweren Kämpfen steht, ganz zufrieden stellen, zumal er sich’s dann denken darf, dann sei es „in Ewigkeit“ gut. Welch ein Trost ist es im Hinblick auf den Vater im Himmel, auf sein Reich und auf seine Kraft und auf seine Herrlichkeit, denken zu dürfen, das alles, was so gut und köstlich ist, ist und währt „in Ewigkeit“. Dagegen steht auch das Größte und Prunkendste von Reich und Kraft in der Welt als etwas Armseliges ab. Denn von jeher hat man alles Dings ein Ende gesehen, ja ein Ende mit Schrecken, je weiter etwas von der Vaterherrlichkeit Gottes gestellt war. „Mag die Welt auch untergehn, bleibt der starke Gott uns stehn.“
So kommt der Betende mit innerer Ruhe zum „Amen“, welches heißt: „Wahrlich, so wird es!“ Luther übersetzt es: „Ja, ja, es soll also geschehen!“ Ja, ja, es wird geschehen, was die treuen Jünger Jesu täglich mit brünstigem Herzen vor Gott bringen zur Verherrlichung des Vaters. Alles, auch die seufzende Kreatur, jauchzt mitten unter ihrem Seufzen der zukünftigen Herrlichkeit entgegen, die Gott entfalten wird und die auch ihr soll geoffenbart werden.