Blumhardt, Christoph - 2. Die bessere Gerechtigkeit (4. Trin.)

Mat. 5, 17-48

Jesus steht da als Einer, der das Himmelreich ankündigt und damit etwas Neues bringt. Sollte denn damit, konnte man fragen, die bisherige Offenbarung durch Gesetz und Propheten aufgehoben werden? Das schien für Gesetzeseiferer eine bedenkliche Sache zu sein. Er aber sagt, daß Er ganz auf dem Boden der bisherigen Offenbarung stehe, daß also nichts von Allem, was Gott durch das Gesetz und die Propheten geoffenbart habe, durch Ihn aufgelöst, vielmehr Alles durch ihn erst in vollem Sinne erfüllt werde (V. 17 f.); und wer ihn anders auffasse und es anders lehre, heiße der Kleinste in dem Himmelreich, das Er bringe, was auch heißen kann, werde gar von demselben ausgeschlossen werden (V. 19). Allem nämlich, was das Gesetz und die Propheten lehren, auch wenn es auf Aeußerliches, und Ceremonielles sich bezieht, liegt etwas ewig Geltendes zum Grunde, um das es eigentlich Gott zu thun war. Dieses, haben wir uns zu denken, muß bleiben, wenn auch von der äußeren Schale Vieles, ja nahezu Alles, in der Folge fiel. Des Jüngers Jesu Aufgabe bleibt es, jedes Wort im Gesetz und in den Propheten zu würdigen und des heiligen Gottes tieferen Sinn und ewig bleibende Gedanken daraus herauszufinden, so daß alles früher Gegebenen seinen Werth auch im Neuen Bunde, der durch Jesum nun kommt, behält, und namentlich nichts als irrig und verkehrt darin geringgeschätzt und unbeachtet bleiben darf.

Der Herr führt Solches nicht näher aus, und bleibt zunächst bei den Hauptgeboten stehen, wie sie in den sogenannten zehn Geboten enthalten sind. Da waren die Schriftgelehrten und Pharisäer ganz beim Buchstaben geblieben, ohne den vollen Willen Gottes darin zu erkennen, so daß sie, wenn sie sich auch etwa hüteten, keine Mörder, Ehebrecher, Diebe, Meineidige im eigentlichen Sinne zu sein, doch vor Gott, durch Mißachtung des umfassenderen Sinnes der Gebote, Mörder, Ehebrecher, Diebe, Meineidige, überhaupt Uebelthäter verblieben. Diese Mißachtung des göttlichen Sinnes und Willens soll bei Jüngern Jesu mit ihrem Charakter als geistlich Armen aufhören; und so legt's der Herr an einzelnen Geboten aus, wie sie dieselben in vollem Sinne zu nehmen haben, um zu besserer Gerechtigkeit zu gelangen, und nicht am Gesetz schuldig zu bleiben, wenn sie nicht ein zarteres Gewissen bekämen. Beachten wir's aber, daß der Herr mit Jüngern redet, die bereits gläubig sind, und durch den Glauben, wie in der Folge bestimmter gelehrt wurde, Gerechtigkeit überkommen haben (vergl. 6). Er will also jetzt nicht lehren, daß man durch die bessere Gerechtigkeit, die gefordert werde, das Himmelreich zu erwerben habe; sondern Er will nur darlegen, wie die bereits Gerechtfertigten, um nach dem Ausdruck der gewöhnlichen Lehre es zu nehmen, ihrerseits einer besseren Gerechtigkeit, als der Frucht der zugerechneten, sich zu befleißen haben, und wie sie, wenn sie dieser nicht nacheiferten, doch noch des Eingangs in das Himmelreich verlustig werden könnten (V. 20). Andern sollte es auch dazu dienen, hungernd nach der Gerechtigkeit in Christo zu machen.

Zuerst sagt Er, wer außer den eigentlichen Mördern auch von Gott als Mörder angesehen und behandelt werde. In der That, wer seinem Bruder zürnt, zürnend begegnet, wer ihn Racha, d. h. einen nichtswürdigen Menschen schilt, wer ihn als einen Narren ausschreit und behandelt (V. 22), hat etwas von einem Mordsinn in sich; und wie leicht kann sich ein Bruder über einer solchen Mißhandlung zu Tode kränken, daß der Scheltende wirtlich an ihm zum Mörder wird! Auch wer seinen Bruder beleidigt hat (V. 23 ff.) und das nicht wieder gut zu machen gesonnen ist, als ob er dessen ungeachtet betend vor Gottes Angesicht treten, Ihm wohlgefällige Opfer darbringen könnte, gilt als ein Kain vor Gott, bis er sich ausgesöhnt hat. Was den Ehebruch betrifft, so nehmen's Viele leicht, mit lüsternem Blicke zu reizen und zu locken, oder verfänglichen Verkehr zu pflegen, daß es gegenseitig im Stillen geschlechtliche Erregungen gibt, welche vor Gott den Charakter von wirklicher Hurerei und wirklichem Ehebruch haben (V. 28.). Davon soll der Jünger Jesu, welcher, als geistlich arm, reines Herzens zu sein hat, so fern sein, daß er, selbst unwillkürliche Erregungen, dazu zunächst nur das Auge oder die Hand ärgert (V. 29 ff.), zu unterdrücken und an sich und Andern unschädlich zu machen, das Aeußerste thut, koste es auch gleichsam das Auge oder die Hand, um nicht zu stillen und sündlichen Aergernissen Anlaß zu geben. Wie sehr wird vollends der zum Ehebrecher, der aus nichtigen Gründen oder gar aus Lüsternheit gegen Andere von seinem Ehegemahl sich scheidet, und das durch auch diesen und Andere zum Ehebruch treibt (V. 31. 32). So gibts denn auch Meineidige, außer denen, die man gewöhnlich so nennt, indem Viele im täglichen Leben ihre Versicherungen und Zusagen mit Schwören besiegeln, meist in unlauterer und trüglicher Absicht, als ob's kein Eid wäre, den man zu halten nöthig hätte, wenn man nicht einen gerichtlichen körperlichen Eid schwöre, oder wenn man nur bei geringeren Dingen, als Gott ist, schwöre (V. 34 ff.). Wie sollten sich dessen geistlich Arme und Barmherzige, welche die Jünger Jesu sind, schuldig machen können?

Merkwürdig sind die weiteren Reden des Herrn, um die bessere Gerechtigkeit zu schildern, welche der haben soll, der als Sein Jünger ein Genosse des Himmelreichs sein will, und bei welchem nur die geistliche Armuth den Grund legen kann. Jede Wiedervergeltung gegen erfahrene Unbill im täglichen Leben außer dem Gericht, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Schlag um Schlag (V. 38 ff.), gilt vor Gott als ein Frevel, der verwerflich vor Ihm macht, weswegen man lieber von dem, der sonst als Bruder gelten könnte, sich wiederholt schlagen, wiederholt berauben, wiederholt mißbrauchen lassen sollte (V. 40 ff.), als auf eine Weise widerstehen, daß man selbst mit bösem Reden und Benehmen sich versündigt, womit man offenbar aufhörte, geistlich arm zu sein. Ja es kann den Charakter eines Diebstahls bekommen, wenn man dem nicht gibt, der bittet, dem nicht leiht, der etwas borgen will (V. 42), weil man dem Bruder, denn von Brüdern und die als Brüder genommen werden müssen, nicht von Räubern und Gaunern, redet der Herr, - die Rettung aus Noth und Bedrängnis in so hohem Grade schuldig ist, daß derselbe als ein Recht an das Eigenthum des Bruders es ansprechen kann, daß dieser ihm damit helfe. Demgemäß kann vor Gott nicht nur der, der stiehlt, sondern unter Umständen auch der, der sich, ohne zu zürnen, nicht stehlen läßt, als ein Dieb angesehen werden. Denn, was ist alles Zeitliche, das ohnehin nicht dem Menschen, sondern Gottes ist, gegen das Erbtheil im Himmel? O, wie tief geben doch solche Worte! und wer wagt's zu sagen, da fordere der Heiland zu viel und mehr, als von einem Menschen, oder, daß ich's besser sage, von einem in Christo selig gewordenen Menschen zu fordern recht sei? Nachkommen nämlich können dem Gesagten doch nur die, welche den Character von Armen, denen nichts in dieser Welt etwas gilt, als was sie in Jesu finden, an sich tragen.

Indessen geht der Heiland noch weiter, indem Er auf die Feindesliebe zu reden kommt. Wie hat doch Er ein Recht, davon zu reden, Er, der für die Gottlosen gar in den Tod zu gehen entschlossen war? Feinden Liebe erweisen, Fluchende segnen, Hassenden wohl thun, für Beleidiger und Verfolger bitten (V. 44), sieht der Herr als etwas an, das unerläßlich ist für Jeden, der Ansprüche an das Himmelreich, Anspruch an ein Kindesrecht bei Gott machen will, bei dem Gott, der auch Sonnenschein und Regen den Bösen wie den Guten zukommen läßt (V. 45). Eine Liebe, die nur liebt, wenn man auch geliebt wird, gilt dem Herrn, wenn sie einen Werth haben soll, rein nichts; denn neben ihr kann man noch durch sonstiges Hassen und Neiden ein fluchwürdiger Sünder bleiben, wie man sich auch durch sie von den ärgsten Sündern nicht unterscheidet (V. 46. 47).

Vollkommen sollen wir sein, dem Vater im Himmel gleich (V. 48), d. h. hier nach dem Zusammenhange, in nichts uns gleichsam aus der Schlinge ziehen wollen, als dürfte man's gegen Diesen und Jenen wohl in der Liebe fehlen lassen, dürfte man in diesem oder jenem Falle wohl anders sein, als liebend. Vollkommen sollen wir in dem Sinne sein, daß es immer bei uns mit Allem, was wir thun und denken, auf Heiliges, Lauteres, Reines hinausläuft, ohne den geringsten Zug von dem zu haben, was Haß und Feindschaft verräth, oder eine bittere Wurzel voraussetzt. Denn jede dahin ausschlagende Ader im Menschen ist vom Widersacher, der ein Mörder von Anfang ist (Joh. 8, 44), nicht vom Vater im Himmel, der ja gesonnen ist, auch den Gottlosesten, so dieser sich's gefallen ließe oder es begehrte, noch in seine Vaterarme zu schließen. Aber wie Viele jetziger Zeit, die mitunter dazu noch rechte Jünger Jesu sein wollen, sind fast grundsätzlich anders, als der Herr hier sagt!

O Christ, thue dein Auge, dein Ohr, dein Herz auf! Jesus redet! Erkenne, wo dir's fehlt. Denk auch nicht, du vermögest es nicht, wie Er's meint. Als ein durch Christi Blut Gereinigter, durch den heiligen Geist Erleuchteter, der Ernst machen will mit der Armuth des Sinnes und mit der Reinheit des Herzens, kannst du's, im Aufblick zu Ihm, willst du nur dran gehen. Der Herr erbarme sich über uns, uns zu bessern, zu der besseren Gerechtigkeit zu verhelfen, uns, die wir, statt arm dem Geiste nach zu sein, trotz eines angenommenen Glaubens, so oft mehr nur schlaffen, trägen, saumseligen, hitzigen, widerwilligen, herrischen, störrigen Leuten, ja Gaunern und Mördern, ähnlich sind, als welche wir wenigstens bei unserer gewöhnlichen Art vor Gott erscheinen müssen! Amen.