Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben, wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.
1. Joh. 5,12
Alle Menschen machen sich eine Vorstellung vom „wahren Leben“, die über ihr gegenwärtiges alltägliches Leben hinausgeht. Das beweist, daß sie ihr bisheriges Leben nicht als das wahre Leben ansehen, sondern das wahre Leben erst noch erwarten. Und so verschieden die Menschen durch Anlage und Erziehung geartet sind, so verschieden denken sie sich das wahre Leben. Die meisten träumen vom wahren Leben als von einem Genußleben. Recht viel materielle Lebensgüter besitzen, um sie recht ungehindert und ausgiebig nach Lust und Laune genießen zu können, das scheint den allermeisten Menschen das wahre Leben. „Wenn ich einmal viel Geld habe, dann . . . “ So beginnen sie den Traum vom wahren Leben. Sich alles erlauben zu können, was die Sinne begehren und sinnliches Behagen verspricht, das bedeutet recht eigentlich „leben“; So redet man von Genußmenschen als von „Lebemenschen“ im Gegensatz zu „Arbeitsmenschen“ oder gar „Arbeitssklaven“. Es ist das tatsächlich die niedrigste Vorstellung vom wahren Leben und auch die niedrigste Art zu leben; denn es ist das ausgesprochenste Selbstleben, wo das Ich eben nur seinen Lüsten lebt, ganz gleich, ob es sich dabei um die gemeinsten oder verfeinertsten Lüste handelt. Daß solches genußsüchtige Wohlleben nicht das wirklich wahre Leben ist, weil es nicht unserer inneren Bestimmung entspricht, weiß eigentlich jeder. Jedes bloße Genußleben erschlafft und verdirbt den Menschen nach Geist, Seele und Leib; denn es bringt unter die Herrschaft der Sinne und zerstört die geistige Kraft und Fruchtbarkeit. So ist die Vorstellung vom wahren Leben als ungehindertem Genußleben nichts als der Sehnsuchtstraum von voller Fleischesfreiheit, wie ihn die Menschennatur unter dem Druck des Arbeitsjoches oder in der Schwüle des Müßigganges eben gebiert.
Die entgegengesetzte Vorstellung vom wahren Leben ist die, ein Leben in nützlicher und einträglicher Arbeit sei das wahre Leben. Erst im Streben und Wirken, Können und Schaffen werde der Mensch zum Menschen und das Leben zum Leben. Es komme einzig und allein darauf an, irgend etwas Tüchtiges zu leisten, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden und es dabei für sich und andere zu etwas zu bringen. Wem das gelungen, der habe das wahre Leben gelebt. Zweifellos steht diese Auffassung vom wahren Leben schon sittlich höher als die erstgenannte, denn wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Aber das wahre Leben ist ein Leben in Arbeit noch lange nicht. Andernfalls hätte ja unsere heutige Kulturmenschheit das wahre Leben in Hülle und Fülle; denn was wird doch heute geleistet an menschlicher Arbeit! Und wie jammervoll sieht's im Menschenherzen und Menschenleben aus! Mag der menschliche Schaffensdrang zunächst befriedigen, mag es beglücken, für Familie, Volk und Menschheit tätig zu sein, mag es locken, Gewinn und Ehre als Lohn der Arbeit einzuheimsen, den eigentlichen Lebenssinn enthüllt uns all unser Wirken und Mühen doch nicht, noch bringt uns unser Tun den vollen Lebensgewinn.
Unsicher bleiben Gewinn und Besitz, unerreicht die höchsten Arbeitsziele, unvollkommen und brüchig unser bestes Tun; wahrlich töricht wäre der Mensch zu nennen, der im Rückblick auf sein erarbeitetes Lebenswerk zu sagen wagte, er habe das wahre Leben gelebt! Vielmehr sieht der nachdenkliche Mensch, je älter er wird, desto deutlicher ein, wieviel er verkehrt gemacht und ganz anders machen würde, wenn er es noch einmal zu tun hätte, und wie wenig er eigentlich von dem getan hat, was er hätte tun können, und wie selbst unser bestes Tun umsonst erscheint, wenn es unser Leben erklären und decken soll, und aller Gewinn und Besitz uns gerade dann verläßt, wenn wir uns einmal recht auf ihn verlassen wollen. Ja, nur denkträge, ichberauschte Flachköpfe können ihr Arbeitsleben das wahre Leben nennen! Ach, und wie vielen Arbeitssklaven möchte man heute Ausspannung wünschen! Wie viele von der modernen Arbeitswut Besessene möchte man gelöst sehen vom Rausch ihres Tatendranges, der sie zu jeder stilleren, inneren Einkehr unfähig gemacht hat. Ja, es sei ausgesprochen –: Mehr als je werden die Menschen von heute durch Arbeitszwang und Arbeitsfieber an der Erlangung des wirklich wahren Lebens gehindert. Es ist, als ob Satan mit der Geisel hinter ihnen her wäre, um sie unaufhörlich zu jagen und zu plagen und um das wahre Leben zu betrügen, einfach durch – Arbeit. Etwas von diesem fluchvollen Betrug verspüren denn auch bereits nicht wenige an Leib und Seele. Infolgedessen blüht immer wieder neu noch eine andere Vorstellung vom wahren Leben; es ist die vom idealen wahren Leben. Es ist der Traum vom höheren Kulturdasein des Menschen, wo Genuß und Arbeit vernünftig gegeneinander abgewogen sind, wo nach wissenschaftlich erkannten sittlichen Erziehungsgrundsätzen das Leibes- und Geistesleben des Einzelnen herangebildet und der Gesamtheit des Volkes und der Menschheit nutzbar gemacht wird und in allen Lebensbeziehungen Gerechtigkeit, Freiheit und Friede herrschen. Sei dieser Kulturzustand erreicht, so habe man endlich das wahre Leben, ja, diesem Kulturideal nachzustreben und nachzuleben, bedeute schon wahres Leben. Nun, es ist gut, daß der unbändige Drang, mit dem der Mensch auf Genuß ausgeht, und die gewaltige verzweigte menschliche Arbeitsbetätigung immer wieder eine ideale Zuspitzung erfahren, das Unvollkommene erkannt und das Vollkommene gesucht wird. Mit jedem Kulturideal, das die Menschen aufstellen, sprechen sie es ja aus: Unser bisheriges Einzel- und Gesamtleben war und ist nicht, wie es sein sollte, es war und ist nicht das wahre Leben. Gottlob, immer noch widersprechen Verstand und Gewissen sowohl dem menschlichen Genuß- als Arbeitsleben, indem sie beides als unzulänglich in Verruf bringen und Besseres, Wahreres fordern. Aber nun ist's eben die Frage, ob die Menschen ihr Kulturideal vom wahren Leben erreichen und verwirklichen können? Da sollte uns doch gerade das Kriegsdoppeljahr 1914/15 belehren, wie unfähig und untauglich die Kulturmächte sind, ihre Kulturideale zu verwirklichen und so etwas wie wahres Leben auf die Erde zu bringen. Alle wollten den Frieden, und nahezu alle bekamen den Krieg. Alle träumten von Völkerverbrüderung, und alle erlebten die blutigste Völkerentzweiung. Alles pries den Wert der Kultur und ihrer Werke, und nun besteht die hauptsächlichste Kulturtätigkeit in der massenhaftesten Herstellung von Munition zur Vernichtung von Kulturmenschen und Zerstörung von Kulturwerten. Bedeutet dies alles wohl eine Annäherung ans Ideal vom wahren Leben? Viele sind so berauscht und glauben es. Viele betrachten sogar den unvergleichlich gewaltigen Krieg selber wegen der außerordentlichen menschlichen Arbeitsleistung, die in ihm steckt, als kulturelle Höchstleistung, als größte Tat der neuesten Weltgeschichte, ja, als Ausdruck des eigentlichsten, wahrsten Lebens! Er bedeutet aber nichts anderes als die Unfähigkeit der Kulturmenschheit, über ihr eigenes Wesen hinaus zu wirklich wahrem Leben zu gelangen. Dennoch gibt es auf Erden ein Leben, das wahrhaft wahres Leben ist, ja, das allein Leben genannt zu werden verdient.
„Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben“, sagt klar und fest das eingangs gelesene Bibelwort. Welch ein fremder Klang! Steht das Wort nicht wider die ganze Welt und alles, was man Leben und wahres Leben nennt? Ja, das tut es. Die Menschen sagen: Wer den Geldbeutel hat, der hat das Leben! Unser Wort sagt: Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben. Die Menschen sagen: Wer etwas gelernt hat, etwas weiß und kann und etwas Tüchtiges zu leisten vermag, der hat das Leben! Unser Wort sagt: Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben. Die Menschen sagen: Wer dem Besten nachstrebt und an die kulturelle Höherentwickelung der Menschheit glaubt, der hat das Leben! Unser Wort sagt: Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben, und fügt schneidend scharf hinzu: Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. Welch ein Trutzwort! Es spricht einfach in einem Odem einer Welt von Menschen das Leben ab! Das ist stark, nicht wahr? Ja, das ist es! Die Menschen sagen: Wer kein Geld und Vergnügungen hat, der hat das Leben nicht! Unser Wort sagt: Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. Die Menschen sagen: „Wer nichts ist und es zu nichts bringt, der hat das Leben nicht!“ Unser Wort sagt: „Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. “ Die Menschen sagen: Wer hinter der Kultur zurückbleibt, der hat das Leben nicht! Unser Wort sagt: Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. Die Menschen sagen: „Wahres Leben“ und meinen damit Wohlleben oder Tatenleben oder Zukunftsleben. Unser Wort meint entschieden: „Wahres Leben“, aber es meint damit nichts anderes als das Leben des Sohnes Gottes.
Wahrlich, ich verstehe je länger desto mehr den Haß der Menschen gegen die Bibel! Sie entwertet dem Menschen einfach seine natürliche Meinung vom Leben. Sie weist einfach alles ab, was ein Mensch seiner Meinung nach kann und ist und hat. Je mehr du sie dem Neuen Testament entgegen und da wiederum dem Ende, nämlich der Offenbarung Johannes zu liest, desto deutlicher läßt sie nur eines gelten, nämlich den Sohn Gottes. Von niemand sonst, nur von ihm allein läßt sie zuletzt alle Welt sprechen: Du allein bist würdig! (Offb. 5,9-14) Sie nimmt allen Gewaltigen die Gewalt und läßt sie nur allein dem Sohne Gottes. Sie stürzt alle Throne der Könige und läßt nur einen Thron ragen, um den hier zuletzt alles in die Knie sinkt, den Thron des Sohnes Gottes. Sie nennt Naturleben „Dienst des vergänglichen Wesens“ (Röm. 8,21) und Kulturleben „Toben der Heiden und vergebliches Reden der Völker“ (Psalm 2) und läßt Himmel und Erde vergehen und nur eins bleiben, nämlich den Sohn Gottes und sein Wort. Sie nennt den Menschen „arg“ (Luk. 11,13) und die ganze Welt im Argen liegend (1. Joh. 5,19), taxiert das Menschenwesen als Fleisch vom Fleisch (Joh. 3,6) und „ehebrecherisches und sündiges Geschlecht„ (Mark. 8,38), wertet die irdischen Güter als Motten- und Rostfraß (Matth. 6,19), die menschliche Weisheit als Torheit (1. Kor. 1,20) und die sich für die Klügsten halten als Irrende (Matth. 22,29). So nimmt die Bibel dem Menschen Würde, Gewalt, Tugend, Besitz, Weisheit und Heimat. Das ist zu viel für den Menschen; denn das ist soviel wie sein ganzes Leben.
Darum, wenn es ihm noch obendrein geradeaus ins Gesicht gesagt wird: Ihr habt kein Leben in euch selbst (Joh. 6,53), nur „Wer den Sohn Gottes hat, hat das Leben, und wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht“, so stößt das tatsächlich dem Faß den Boden aus, das heißt –: Entweder wird da der Mensch fertig mit der Bibel oder die Bibel wird fertig mit dem Menschen. Ja, Gott sei Dank, daß das wahre Christentum noch um keinen Pfennig billiger geworden ist! Es kostet noch gerade so wie zu Jesu irdischer Lebzeit das Leben, nämlich die Preisgabe deines sogenannten Lebens, das ja eben in Wahrheit gar kein Leben ist. O, ich verstehe, wie diese Forderung die Menschen empören und ärgern muß! Ihr Wohlleben kein Leben? Ihr Arbeitsleben kein Leben? Ihr Weisheitsleben kein Leben? Ihr ideales Kulturstreben kein Leben? Nur wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben? Darauf soll ein Mensch eingehen? Das soll einer für wahr halten? Das soll einer annehmen? Dem soll einer nachkommen? O, ich sehe und verstehe, wie sich da der Mensch schüttelt vor Empörung! Und von hier aus verstehe ich auch das Feilschen und Markten der Menschen mit dem Evangelium, ja mit der ganzen Bibel. Der hohen Forderung muß die Autorität genommen werden. Der „Gottessohn“ darf nicht in solcher unerträglichen Ausschließlichkeit Gottessohn bleiben, Gotteswort nicht in solcher erdrückenden Schwere als Gotteswort gelten. Die Forderung muß „relativiert“, d. h. als nur bedingt gültig erklärt werden. Sie muß aus der Zeit ihrer Entstehung heraus, also nur „zeitgeschichtlich“ aufgefaßt werden.
Infolgedessen hat sie keine absolute starre Gültigkeit, sondern bedarf vielmehr der neuzeitlichen Erklärung, Übertragung und Läuterung. Muß also dividiert werden durch viel inzwischen reif gewordene Vernunft und Menschenweisheit, was wahrlich nicht leicht und einfach ist, sondern mindestens vier Semester Theologiestudium voraussetzt, also Privilegium einer Menschenkaste bleibt. So darf also das Evangelium nur noch in wissenschaftlich gegebenem Auszug und in wissenschaftlich gebotener Umdeutung an den Mann gebracht werden, und wer das am klügsten kann, wird der berühmteste Gottesgelehrte. Mittlerweile ist das Quellwasser des lebendigen Gotteswortes derart vertrampelt und verdreckt worden, daß niemanden mehr danach von Herzen gelüstet, und das zweischneidige Schwert des Wortes Gottes derart stumpf, schartig und rostig gemacht, daß niemand mehr davor sich fürchtet und zittert. Nun kostet das Christentum allerorts nicht mehr als die Kirchensteuern und die Sporteln1) oder noch weniger, und viele mögen noch nicht einmal mehr das dafür zahlen, weil's eine gar zu kraftlose Brühe geworden ist; und sie haben recht.
Um so mehr stolziert nun jeder als selbstbewußter Kulturträger auf dem so imponierend breit und sicher ausgebauten Weltweg, stopft sich die Taschen voll Bildung, Besitz und Ehre, glaubt an alles, was wissenschaftlich beglaubigt, in die Augen springend „enorm“, „kolossal“ und zahlenmäßig „erfolgreich“ ist, und am allermeisten an sich selbst und sein vollgültiges Leben. Beinahe ist er es los geworden, das so spottbillig gewordene Christentum, das ihm wie ein abgelegtes verlumptes Kleid oder wie eine umgestürzte Heufuhre oder wie ein Trümmerhaufe zerbröckelter Dogmen rückwärts im Graben zu liegen scheint. Da fährt's ihm von irgendwoher ins Ohr: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht!“ – Wie, lebt denn dieser vernunft- und kulturwidrige Unsinn doch noch? Und von neuem wütet die Empörung und beginnt das Feilschen und Markten mit der zähen Unerbittlichkeit des nicht tot zu kriegenden Gotteswortes. Völker stehen auf wider Völker. Krieg und Kriegsgeschrei herrschen wie nie zuvor. Hirne und Fäuste planen und wirken nichts als trotzige Macht zur gewaltsamen Vernichtung des Feindes. Es ist der wütende Kampf um die Oberherrschaft auf Erden. Zu nie gesehener gewaltigster Kraft spannt sich der Arm der Völker. Jedes Leben schnellt empor und reckt sich und ist mit dabei. Töten und Sterben wird kraftvollste Pflicht. Tote und Lebendige nennt man Helden. Heldentod, Heldenleben – schönstes Leben, wahres Leben! Menschenruhm schreibt die Gedenk- und Ehrentafel. Gotteswort darunter lautet: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. “ Welch ernüchternder Nachklang! – Nicht wahr, du verstehst, das so unbequem ernüchternde Bibelwort bezeichnet die Grenze zweier Reiche. Nicht etwa die Grenze zwischen Deutschland und seinem feindseligen Nachbarstaate, sondern die Grenze zwischen dem Reiche Gottes und dem Reiche dieser Welt, zu dem alle Reiche menschlicher Gewalt gehören.
Diese bedeutsamste aller Grenzlinien durchläuft und zerteilt alle Staaten, alle Völker, alle Familien. Sie scheidet Mensch von Mensch, Leben von Leben, Leben vom Tod, Tod vom Leben. „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. “ Nie ward auf Erden ein klareres, knapperes, schwerwiegenderes und weittragenderes Urteil gesprochen. Nie gab es eine bündigere Besitzanzeige, nie eine entschlossenere Besitzabsage; nie gab es eine sauberere Grenzbestimmung zwischen Haben und Nichthaben, zwischen Wert und Unwert des Menschenlebens!
Wie ein erster Posaunenschall zur Ankündigung des kommenden Weltgerichts ist es! Ja, selbst am gekommenen Tage des Gerichts kann es über die gesamte Menschheit hin keinen ernsteren und strengeren, keinen beseligenderen und erschrecklicheren Ausruf geben, als den: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. “
Ich sehe im Geiste die Menschen auf ihrer Erde, wie sie auf Kindesbeinen heranwachsen und gedeihen wie eine Frucht des Feldes, wie jedes Geschöpf aus dem Staube. Sie alle haben das natürliche Leben; denn der Odem des Schöpfers lebt in ihnen. Sie spielen auf den Märkten und an Wegen in der Sonne. Ihre braunen oder blauen Augen schauen die Welt, zu der sie gehören. Ihre Hände haschen das Nahe und suchen das Weite, und mit ihren Füßen haben sie es eilig. Aus ihrem Munde schallen Worte, in denen ihre Seele redet. So deuten sie die Welt nach ihrer Weise und füllen sie mit ihrem Werk. Sie essen und trinken, sie freien und lassen sich freien, sie bauen und pflanzen, kaufen und verkaufen –: ein wimmelnder, lärmender Haufe! Sie hasten alle wie unter einer Plage, und je älter die einzelnen werden, desto weniger lachen sie. Auch schallt allezeit viel tobender Streit aus dem Gewimmel, voll Fluchens und Drohens, bis ihr Blut fließt. Nur wenige stehen still und abseits. Noch wenigere schauen nach oben. Als wären sie fremd geworden dem Getriebe und Gedränge um sich her, reden sie längst mehr zum Himmel als zu den Menschen der Erde. Als widersprächen sie dem lärmenden Treiben, das sie umwogt, und das die Menschen „Leben“ nennen, so stehen und gehen sie. – Und unvergleichlich besser als ein Mensch einen wimmelnden Ameisenhaufen zu überschauen vermag, so schaut Gott herab auf die Menschenkinder und sieht und hört alles. Wie sie berauscht und begierig vom „Leben“ reden und träumen und sich mit wilden Stößen ins Treiben mischen oder taumelnd hineinziehen lassen und die Woge sie dann hinnimmt. „Leben!“ jauchzen, keuchen, winseln sie, „Leben!“, „Leben!“
Es tönt wie ein lustiges Haben und wie ein banges Zweifeln, und wie ein entsetzliches Verzweifeln. Das lustige Jauchzen stirbt als qualvolle Frage. – Da ruft jemand seine Antwort über sie alle hin, eine Antwort, die zugleich ein Kennwort und ein Scheidewort ist –: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben! Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht!“
Und ich sehe den größten aller Propheten, gekleidet in Kamelshaaren, und höre die Stimme eines Predigers in der Wüste. Die abgezehrte Hand von sich selber wegweisend, kennzeichnet einen anderen fremden, stillen Mann, und die Stimme kündet: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! – Nie war das bisher von einem Menschen gesagt worden. Darum folgt bald alle Welt dem so seltsam Bezeichneten nach. Er beginnt zu reden auf dem Wege, auf den Märkten, in den Schulen, im Tempel. Und alle, die genauer hören, bezeugen: Nie hat ein Mensch so geredet, wie dieser Mensch! Das glaube ich auch; denn er nennt sich – höre zu! – er nennt sich erstaunlicherweise –: „Das Leben“! Nie hat sich ein Mensch bisher so genannt. Was wunder, daß ganze Mengen der Menschen um seinetwillen vergessen, zu essen, zu trinken, zu freien und sich freien zu lassen, zu bauen und zu pflanzen, zu kaufen und zu verkaufen! Tagelang hängen sie ihm an den Lippen und nähren sich von seinem Worte. Denn er bietet sein Wort an als „lebendiges Wasser“, zeigt auf das Wasser des uralten, tiefen Jakobsbrunnens und verheißt: „Wer dieses Wasser trinket, den wird wieder dürsten; wer aber des Wassers trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“ (Joh. 4,13-14). Lebendiges Wasser, Wasser des Lebens, nach dem einen nie wieder dürstet? Wie, ist denn die Erde in ihren Quellen und Brunnentiefen tot? Vermag sie denn nicht mehr das dürstende Leben zu tränken? Oder gibt es noch ein anderes Leben mit einem Dürsten, das keine Spende der Erde zu stillen vermag? Und ist der Eine hier der Bringer solches dürstenden Lebens und zugleich der Spender seiner überströmenden Stillung? Denn er redet auch vom „Brot Gottes“, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt (Joh. 6,33). Und als sich gleich die Hände nach diesem seltsamen Brot ausstrecken und der Mund begehrt: „Herr, gib uns allewege solch Brot!“ spricht der Eine zu ihnen: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern … Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. “ Vom Himmel gekommenes, lebendiges Brot? Brot des Lebens? – Wie, liegt denn die rege, fruchtbare, bunte, reiche Welt brach und tot? Können die Menschen denn nicht mehr leben von der Ernte ihrer Mühe, die das Samenkorn in die Furche senkt und das Korn schneidet, das aus der Erde wächst, damit es Brot die Fülle gäbe? Wie spricht der Seltsame: Brot vom Himmel soll erst der Welt das Leben geben? Und er selbst sei dies Brot? Soll es denn ein Leben mit einem Hungern geben, das kein Wuchs, kein Ertrag und keine Ernte dieser Erde zu sättigen vermag? Und ist der Eine hier gekommen, dieses neue Leben mit seinem überirdischen Hunger in die Welt zu bringen, und ist er selbst die ewige Sättigung solchen Lebens? – Doch noch geheimnisvoller wird des Einen Rede, wenn er fortfährt: „Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt. “ Da zankten die Juden untereinander und sprachen: Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben? (Joh. 6,51-52).
Teurer Hörer, gestehe es, du hast eben auch so gedacht! Ach, was ist uns das doch für eine unerhörte Rede! Einer, der sich bald als Menschen- bald als Gottessohn bezeichnet, nennt sich „das Leben“, bietet sich den Menschen als „lebendiges Wasser und Brot des Lebens“ an, damit der Welt das Leben gegeben werde. Und obendrein sagt er noch, das Brot, das er gebe, sei sein Fleisch, das gegeben werde für das Leben der Welt. Ja, ist denn diese Welt tatsächlich tot und soll sie denn erst lebendig werden durch diesen Einen, der sich „das Leben“ nennt, das er den Menschen wie Wasser und Brot zu essen geben, ja, als sein Fleisch für das Leben der Welt geben will? – Ja; so ist es. Er selber sagt es: Höre! „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns eßt und sein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch!“ (Joh. 6,53) „Kein Leben!“: Welch ein unerhörtes Urteil; denn es wird ausgesprochen über atmende Menschen, ja über den Pulsschlag einer ganzen Welt! Dein Herz schlägt, deine Sinne sind tätig, du denkst, sitzest, stehst auf, wandelst, handelst, schreibst, telefonierst, ißt, trinkst, freiest oder läßt dich freien, baust, pflanzt, kaufst, verkaufst – und der Eine, der sich das Leben nennt, sieht dich an und stellt von dir fest: Kein Leben! – ja, kein Leben, solang du nicht sein Leben hast! Kein Leben, solang du dich nicht von ihm nährst! Kein Leben, solang du sein Leben nicht trinkst wie Wasser und ißt wie Brot! Kein Leben, solang du nicht von seinem Fleische und Blut lebst! Kein Leben in dir selbst! Kein Leben in deiner Familie! Kein Leben in der Kultur deines Volks! Kein Leben in der Menschheit! Kein Leben in der Welt! Leben nur aus dem und in dem, der das Leben ist und bringt –: Christus!
„Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht! Wer sich nicht von Christi Leben nährt, hat kein Leben!“ Du nährst deinen Leib mit wohlschmeckenden Speisen, deine Seele mit ausgewählten sinnlichen Genüssen, deinen Geist mit Bildung und Wissen, du fühlst dich gesättigt mit modernem Leben und Erleben, und der sich „das Leben“ nennt, schaut dich nur an und urteilt sofort: Kein Leben! Nicht wahr, du findest das empörend und verlangst Aufklärung wegen solcher Ungeheuerlichkeit. Sie soll dir werden. Siehe, die Menschen hatten jeden Maßstab für wahres Leben auf Erden verloren. Sie maßen ihr Menschenwesen am anderen Menschenwesen oder gar am Tier- und Naturwesen, und da kam immer noch recht Günstiges und Annehmbares, ja sogar Ruhmvolles für den Einzelmenschen und die Menschheit heraus. Miß dich an deinem Nebenmenschen, und du wirst herausfinden, dein Leben ist so ein gutes Leben wie das seine. Miß dich an der Menschlichkeit, und ihr Leben wird das deine tragen und rechtfertigen. Aber miß dich an dem, der mit dem unglaublichen Anspruch und Ausspruch: „Ich bin das Leben“ (Joh. 14,6) auf Erden auftrat, und du stehst vor einer ganz neuen Art von Leben, vor der dir, wenn du aufrichtig bist, um dein eigenes Leben bange werden muß. Siehe, du stehst da neben dem Urbilde wahrer Menschlichkeit und Göttlichkeit. Wie fällst du da ab, nicht wahr? Immer noch warst du geneigt, dein Leben doch irgendwie als „wahres Leben“ einzuschätzen, und dich dementsprechend vor Menschen zu bewerten und von Menschen bewerten zu lassen; aber, nicht wahr, neben Jesus vergeht dir dies Gelüste. Da siehst du den ungeheuren Abstand zwischen dem Urbild und dem Zerrbild, den unaufbringlichen Fehlbetrag zwischen Soll und Haben, den erdrückenden Unterschied zwischen wahrem und falschem Leben. Nirgends auf der weiten Erde, nur vor Jesus wirst du überwunden werden, deinem Leben das Todesurteil zu sprechen. Je mehr du ihn anschaust, desto mehr mußt du sagen: Sein Leben ist das wahre Leben und mein Leben ist – „kein Leben!“
Ah, diese bittere Erkenntnis wirkt lebenserschütternd, wirkt grundstürzend! Deshalb gehen die Menschen, besonders die „Lebemenschen“, in instinktiver Scheu dem Erleben Jesu aus dem Wege. Sie betrachten ihn als den Allerfernsten, Fremdesten, der sie stört, belästigt, richtet, sofern sie nur an ihn denken. Wie unerträglich würde er ihnen erst werden, wenn sie sich ihm einmal wirklich näherten, ja einmal ganz dicht an ihn heranträten und wirklich zu ihm kämen! Sie müßten vor ihm eine ganz neue Auffassung vom „Leben“ bekommen und völlig umdenken lernen. Und das wäre ja gleichbedeutend mit „Buße“ tun; denn eben vor Jesus, dem göttlichen Urbild wahren Lebens, urgründlich über das, was „Leben“, „wahres Leben“ ist, nach- und umdenken lernen, das ist ja Buße! Und eben solche Buße wollen die Allermeisten nicht, einfach, weil sie ihnen tatsächlich „das Leben“ kostet. Andererseits aber wollen sie durchaus als achtbare Leute gelten, die natürlich. „das Gute“ wollen. So müssen sie denn das allgemein beliebte, religiöse Gaukelspiel mitmachen, nämlich ihr Leben, das nach Jesu Worten „kein Leben“ ist, doch zum Leben umzustempeln versuchen. Wie machen sie das? O, sie wollen durch Aufbietung der in ihnen liegenden moralischen und religiösen Lebenskräfte es dem Leben Jesu Christi gleichzutun suchen und dadurch sich und anderen glaubhaft machen, sie hätten bereits Christi wahres Leben. Zu dem Zweck müssen sie die Unerfindbarkeit und Einzigartigkeit des Lebens Jesu bis zu einem gewissen Grade leugnen. Sie müssen sich bemühen, nachzuweisen, daß sein Leben, sein Denken und Tun nicht außerhalb der natürlichen Entwicklung der Menschheit liege, sondern durchaus geschichtlich bedingt und darum geschichtlich erklärbar sei, so daß es also einfach nur ideales menschliches Vorbild und daher nicht unerreichbar sei. Zu dem Zweck wiederum müssen sie alles Außerordentliche im Leben Jesu menschlich herunterdeuten, ja zum Teil als unechte Überlieferung streichen, und alles Sittlich-Religiöse im eigenen Leben göttlich hinaufdeuten, um es als seinem Leben gleichwertig, ja, sogar noch überwertig hinzustellen. Auf diese Weise scheint die Rettung des eigenen Lebens gesichert, die von Jesus ausgesprochene Entwertung des natürlichen Menschenlebens aufgehoben und die von ihm geforderte grundstürzende Buße, als Bewertung des eigenen Lebens umgangen. Nun brauchen sie nur ihr angeborenes Leben im gelegentlichen Hinblick auf Jesus als Vorbild zur Entfaltung zu bringen und sich in Selbstveredlung zu üben, so sind sie schon – wie sie meinen – Nachfolger und Jünger Jesu und Bürger im Reiche Gottes.
Aber da schaut sie der Gottessohn an und ruft ihnen noch einmal ins Angesicht: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns eßt und sein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch!“ Das soll heißen: Ihr habt mich nie erkannt; denn hättet ihr mich erkannt, so hättet ihr auch euch erkannt, und dann hättet ihr euer eigenes Leben gehaßt (Luk. 14,26), gelassen und verloren (Matth. 16,25) und hättet Leben begehrt aus mir, und ich hätte es euch gegeben. Nun aber wollt ihr euer eigenes Leben vor mir retten und sprecht: Wir leben, und wisset nicht, daß ihr tot seid in euch selbst! Denn ihr seid Fleisch, geboren vom Fleisch. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen (Joh. 3,5 u. 3). Siehe, ich gebe mein Leben zum Lösegeld für viele, auf daß auch ihr gelöst werdet von dem Tode eures falschen, sündigen Lebens! Ich gebe mein Fleisch und Blut für die Vergebung der Sünden (Luk. 22,19-20) und für das Leben der Welt (Joh. 6,51). „Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt (das heißt: wer fortan nicht mehr aus sich selbst, sondern aus meinem für euch dahingegebenen Leben lebt), der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. Denn mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinket, der bleibt in mir und ich in ihm. Wie mich gesandt hat der lebendige Vater und ich lebe um des Vaters willen, also, wer mich ißt, derselbe wird auch leben um meinetwillen“ (Joh. 6,54-57)
Das ist und bleibt das Todesurteil über alle die religiösen Leute, die sich von ihrem eigenen Wesen und Leben nähren, nie sich selbst vor der richtenden Einzigartigkeit Jesu Christi in biblischer Buße verworfen, nie vor dem Opfer seines Lebens am Kreuze von Golgatha Bankrott gemacht haben, sondern ichtrotzig weiter an sich glauben und fortfahren, ihr durch Christi Wort und Kreuz gerichtetes falsches, sündiges Leben Gott und Menschen als wahres Leben darstellen zu wollen. Gehörst auch du noch zu denen?
Du vermessener Tor! Nachdem Gottes Liebe darin gegen uns erschienen ist, daß er seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, daß wir durch ihn – höre! –: durch ihn! leben sollen (1. Joh. 4,9), wagst du noch an dich und dein Leben zu glauben, wagst du noch durch dich leben zu wollen?! Siehe, diese deine hochmütige Vermessenheit ist die eine große Sünde, die dich verderben wird! Entfalte du nur weiter dein eigenes Wesen, wolle nur weiter dein Leben retten und gewinnen, ehe du es verloren und hingegeben hast, übe dich nur weiter in allen stolzen Künsten der Selbstveredlung, gebärde dich nur weiter sittlich, moralisch, ethisch, religiös, „christlich“, nimm den Mund voll Bibelsprüche und fülle deine Hände und dein Herz mit „Recht und Gutestun“, rede dabei verehrend von Jesus und zeige dich in allen „Gottesdiensten“ –: schön mag dir dabei die sittlich-religiöse Ausschmückung deines Lebens geraten, aber dennoch ist es nicht wahres Leben; denn es ist nicht Christi Leben! Es ist nicht Leben aus dem Tod, nicht Leben aus der Buße, nicht Leben aus dem Kreuz und Grab Christi, nicht Leben aus seiner Auferstehung, nicht Leben aus der Neu- und Wiedergeburt, nicht Leben aus seinem Leben, sondern alles nur trotziges, törichtes, elendes Leben aus deinem durch Jesus Christus verurteilten und gerichteten Leben! – Noch mehr! Beteilige dich begeistert an allen Kulturbestrebungen, lebe den Wissenschaften, lebe den Künsten, dem Fortschritt, opfere den Kulturidealen der Menschheitsveredlung, opfere dem Vaterlande, laß dich hochheben von der gewaltigen Kriegstat, ja, lasse dein Leben für dein Volk auf dem „Felde der Ehre“ –: schön mag dir dabei geraten deine bedeutsame Kulturleistung, schön deine Tüchtigkeit, schön deine Tapferkeit, schön dein Heldentod; aber dennoch sproß, blühte und fruchtete da nur dein eigenes natürliches Leben, nützlich für die Erde; aber dennoch unbrauchbar für den Himmel! Denn es war und ist nur Leben aus dir, deinen Vätern und deinem Volke, groß und hoch entfaltetes menschliches Eigenleben; aber nicht Christi Leben, nicht Leben aus dem Tode, nicht Leben aus der Buße, nicht Leben aus dem Kreuz und Grab Christi, nicht Leben aus seiner Auferstehung, nicht Leben aus der Neu- und Wiedergeburt, nicht Leben aus seinem Leben, sondern nur trotziger Lebensversuch des alten Lebens, das ja nach Jesu Worten eben gar kein Leben ist! Und das auch in alle Ewigkeit nie Leben wird! Träume und rede du nur weiter von der großen Zukunft deines Volkes – dein totes Leben braucht ja solche Träume – hoffe du nur weiter auf die gerechte und freie Menschheit, die einmal aus aller Kulturbetätigung, aus allen Wirrungen und Irrungen des Menschenwollens und Menschentums hervorgehen soll –: die Offenbarung Jesu Christi im Gottesworte weiß nichts von solchen Träumen und Hoffnungen, kennt keine Veredlung der Menschheit durch Entwicklung und Entfaltung des Menschenwesens. Sie kennt nur eine Hoffnung für den Menschen, das ist die lebendige Hoffnung aus der Auferstehung Jesu Christi nach der Barmherzigkeit Gottes im Opfer von Golgatha, wo Gott den Eingeborenen für uns alle dahingab, damit wir aus dem in den Tod gegebenen Leben des Lebensfürsten neues, wahres, zukunftssicheres, ewiges Leben empfingen (1. Petr. 1,3; Römer 8,32). Das natürliche alte, falsche Leben, nicht aus Christus, sondern aus dem Fleische der gefallenen Natur stammende Leben der Einzelnen und der Völker, ist und bleibt zukunftslos, hoffnungslos, und gedeiht nur und reift aus zum Gericht.
Ei, wie dich das ärgert, nicht wahr? Ja, solche Wahrheit ärgert den ich- und kulturgläubigen Menschen heute noch geradeso wie damals, als Jesus in der „Schule“ zu Kapernaum zuerst solches Urteil über das Menschenleben fällte. Damals murrten die, die bis zu jener Stunde seine Jünger zu sein glaubten, und sprachen: „Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?“ (Joh. 6,60.) Er aber wandte sich den ungläubigen Geist- und Lebenslosen, die seine unerhörten, alles Ichwesen tödlich treffenden, alle unzulängliche Jesusnachfolge abschneidenden Worte nicht fassen mochten, mit der königlich großen und doch so wehtraurigen Frage zu: „Ärgert euch das?“ O ja, es ärgerte sie so sehr, daß von da an viele seiner Jünger zurückgingen, und wandelten hinfort nicht mehr mit ihm (Vers 66). Siehe, das war ihre Entscheidungsstunde! Entweder dir nach oder Jesus nach! Entweder dein Leben oder sein Leben! Entweder unseliger Ärger an Jesu „harten“ Worten oder selige Freude! Entweder durch Selbstgericht in biblischer Buße zum wahren Leben oder durch Selbstbehauptung in menschlichem Gedanken- und Tatendünkel zu weiterem Gericht und ewigem Tod! So wird es bleiben bis zum Tage Christi und bis zum Tage des Endgerichts.
„Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. “ So, nun wehre dich, nun krümme dich wie ein Wurm unterm Fuß, handle, markte, vernünftle, trotze, lästere! Der Eine, den Gott auch dir gesandt hat, damit auch du durch Ihn das Leben haben sollst, sieht und kennt dein so bezeichnendes menschliches Gebaren und fragt auch dich mit königlicher Hoheit und wehtraurigem Erbarmen: „Ärgert dich das?“ Ja, wehe dem Menschen, durch den Ärgernis kommt; ihm wäre besser, er wäre nie geboren! Aber Hosianna dem Sohne Gottes, der das Ärgernis seiner harten Rede zu unserer Errettung bringt! Gelobt sei der vom Himmel Gekommene, der zu denen, die sich vor ihm preisgeben, spricht: „Eure Sünden sind euch vergeben!“ und zu denen, die sich vor ihm behaupten wollen: „Ihr werdet in euren Sünden sterben!“ (Joh. 8,24.) Hosianna dem Einen, der sich nicht nur das Leben, die Wahrheit, den Weg, die Türe, den guten Hirten, den Weinstock usw. nennt, sondern auch der harte Stein ist, und zwar den Glaubenden der „köstliche Eckstein in Zion“, den Ungläubigen aber, die sich stoßen an dem Wort und den Eckstein zum Aufbau wahren Lebens verworfen haben, „ein Stein des Anstoßens und ein Fels des Ärgernisses (1. Petri 2,7-8), an dem zerschellen wird, wer auf ihn fällt, und zermalmt wird, auf wen er fällt. (Matth. 21,44.) Darum spricht dein Retter, als der Bringer wahren Lebens, ehe er als dein Richter der Bringer endgültigen Gerichtes wird, in großem Erbarmen zu dir: Selig, der sich nicht an mir ärgert! (Matth. 11,6)
Und wer ärgert sich nicht mehr an Jesus? Wer sich bis zur Selbstverwerfung an sich selbst geärgert hat, der hört auf, sich an Jesus zu ärgern und ihn zu verwerfen! Das aber sind die Glaubenden. Es sind die, die das wahre Leben haben. Sie wissen, was Jesus Christus meint, wenn er sagt: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3,16). Sie wissen, was Johannes, der Täufer, meint, wenn er bezeugt: „Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben. Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm“ (Joh. 3,35.36). Und sie wissen, was Johannes, der Apostel, meint, wenn er bestätigt: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht (1. Joh. 5,12).
So sind allein die Glaubenden die Habenden; denn das wahre Leben, das ewige Leben, wird nur denen gegeben, die an Jesus glauben. Aber was heißt denn: an Jesus glauben? Heißt das etwa, seine in den Evangelien überlieferte Lebensgeschichte für wahr halten? Ach, wenn's weiter nichts wäre! Millionen und Millionen halten die Evangelien mitsamt dem ganzen Neuen Testament, ja, die ganze Bibel für wahr, „glauben“ willig alledem, das „geschrieben steht“, und haben dabei keine Spur von wahrem Leben! Sie kennen Jesu Lebensgeschichte, sie kennen Jesu Lebenswert; aber sie haben ihn selber nicht! Sie haben eine Meinung von Jesus und sogar die rechte Meinung, aber sie haben ihn selber nicht! Es heißt eben nicht: Wer die richtige Meinung vom Sohne Gottes hat, der hat das Leben, sondern: Wer den Sohn Gottes selber hat, der hat das Leben. Wenn ich dir jetzt ein Fünfmarkstück vor die Augen halte und dich frage: Was ist das für ein Geldstück, so kennst du ganz genau Prägung und Wert und antwortest mit voller Sicherheit: Das ist ein Fünfmarkstück! Sehr richtig, aber hast du damit schon das Geldstück? Siehe, das sicherste Kennen ist noch kein wirkliches Haben! Oder heißt an Jesus glauben etwa gewissen Lehrsätzen zustimmen, die man aus seinen und den Worten der Apostel über ihn zusammengestellt hat, und die man sich nun als die sogenannten „unannehmbaren Dogmen“ wider Willen und Vernunft aufhalsen lassen muß, um wahres Leben zu erlangen? Ich sage wiederum: „Wenn's weiter nichts wäre!“ Unwillige oder willige Zustimmung zu sogenannten „Glaubensbekenntnissen“ als zusammengestellte Lehrsätze, bringt dir ebenso wenig wahres Leben wie die Speisekarte, auf der in schönster Reihenfolge die leckersten Speisen verzeichnet stehen, dir schon die Speisen selbst und die Sättigung bringt! Ja selbst, wenn du mit aller Gier die Speisekarte verschlängest, so brächte dir das ebenso wenig Nahrung und Leben, wie es wahres Leben bringt oder bedeutet, wenn man wütig um Glaubensbekenntnisse eifert. Tausende und Abertausende haben biblisch richtige Glaubensbekenntnisse; aber sie haben Jesus selber nicht und deshalb nicht das wahre Leben. Es heißt eben nicht: Wer ein papiernes oder mündliches Glaubensbekenntnis zum Sohne Gottes hat, der hat das Leben, sondern es heißt: Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben. – Oder heißt an Jesus glauben, sich zu den Gläubigen halten? Schön, wenn du das tust! Aber sieh einen Straßenbahnwagen an! Er steht auf dem rechten Gleise, Zuleitungsstange nach oben, und - bewegt sich doch nicht! Was fehlt?
Der Strom fehlt! – So befinden sich viele in der Mitte der Gläubigen, meinen „auch zu glauben“, und doch der Strom fehlt! Jesus selber fehlt! Das wahre Leben fehlt! Es heißt eben nicht: Wer eine Kirchen- oder Gemeinschaftszugehörigkeit hat, der hat das Leben, sondern: Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben. – Oder heißt an Jesus glauben, religiöse Gebräuche und fromme Gewohnheiten pflegen? Gut, wenn du die religiöse Anregung und Betätigung suchst; aber damit hast du noch kein wahres Leben in dir. Wenn eine Uhr ohne Gewichte oder ohne Federkraft oder ohne sonstigen dauernden Kraftantrieb an der Wand hängt, und du gibst ihrem Pendel einen Stoß; oder drückst für Augenblicke an ihrem Räderwerk, so macht sie auch „Tick, tack“, ja, es bewegt sich sogar ihr Zeiger vorwärts und kann die rechte Zeit zeigen, und doch sobald die Wirkung des augenblicklichen Anstoßes verebbt, steht die Uhr wieder still. So machen viele in der Welt ihr frommes „Tick, tack“! Jede religiöse Anregung suchen sie und lassen sich von ihr in äußerliche Bewegung setzen. Aber sie „funktionieren“ immer nur solange, als der Anstoß nachwirkt, von dem sie immer abhängig bleiben; denn sie haben Jesus als wahres Leben nicht in sich. Es heißt eben nicht: Wer übliche religiöse Antriebe hat, der hat das Leben, sondern es heißt unerbittlich: Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben. Wahrhaft biblisch an Jesus glauben, heißt wahrhaft biblisch Jesus haben; da ist Glauben – und Haben eins!
Wer glaubt und hat so? Antwort: Jeder Mensch, der in bußfertiger Selbstverwerfung vor Jesus das eigene Leben preisgibt und damit aufhört, mit sich selbst zu rechnen und damit anfängt, nur noch mit Jesus zu rechnen. Ich erläutere „glauben“ durch „rechnen“. Glauben ist heute ein heillos entwertetes, unbeliebtes Wort, „rechnen“ dagegen ein hochmodernes. Also rechne mit Jesus! Das verstehst du ja. Schalte dich aus und ihn ein. Zähle nicht mehr auf dich, sondern auf ihn. Mißtraue dir und vertraue ihm. Laß dich los und greif nach ihm. Entsage deiner Weisheit und bewerte und verwerte die seine. Erwarte nichts mehr von dir, aber alles Heilsame von ihm. So wirst du hilflos in dir, aber stark in ihm. So verlierst du dein Leben und gewinnst sein Leben.
Weißt du, was das ist?
Das ist Bekehrung! Nämlich die grundsätzliche, unbedingte Abkehr von dir selbst, von deinem eigenen Leben, das du ja als gar „kein Leben“ erkannt hast und preisgibst, und die grundsätzliche, unbedingte Hinkehr zu Jesus, den du als „das Leben“ erkannt hast und annimmst. Mag diese deine Bekehrung sich nur in einem Augenblick oder in Jahren vollziehen, jedenfalls hat sie immer das als Voraussetzung, was ich vorhin als „Buße“ bezeichnete, nämlich das vor Jesus, dem Urbilde göttlichen wahren Lebens, erlernte urgründliche Umdenken über das, was „wahres Leben“ ist. Und immer wird der Inhalt wahrer Buße und Bekehrung sein: Ichverneinung und Jesusbejahung. Verstehe recht, keine Ichverneinung als sittliche Übung in der landläufigen, sogenannten Selbstverleugnung! Von solcher Selbstverleugnung ist ja die Welt voll. Das ist ja die bekannte sittlich religiöse Leistung, in der man sich sogar gegenseitig zu überlisten sucht.
Das beweist ja am besten, daß es sich da gar nicht um eine wirkliche Verneinung des Selbst handelt, sondern nur um die verfeinertste Form des Selbstlebens. Man verleugnet sich selbst, das heißt, man gibt von seinem Lebensbesitz preis, opfert Geld, Zeit, Kraft für die bekannten „guten Sachen und Zwecke“, gibt diese und jene Lebensgewohnheit auf, läßt das und jenes fahren; aber sich selbst gibt man nicht preis! Aber sich selbst gibt man nicht auf! Aber sich selbst läßt man nicht fahren! Und wenn man gleich Gesundheit und Leben hingibt, so meint man doch damit nur sich selbst, geht von sich selbst aus und sucht wiederum nur sich selbst, setzt sich ein, um sich zu gewinnen in Selbstschätzung und Selbstbewertung bis über den Tod hinaus! Der arme Mensch kann eben nicht durch sich selbst über sich selbst hinauskommen, er mag machen, was er will. Erst wenn Jesus das Ziel und zugleich das Mittel zur Selbstverneinung geworden ist, wird die Selbstverneinung wahrhafte, ernsthafte, tatsächliche Selbstverneinung. Wir setzen dann keinerlei Hoffnung mehr auf uns; wir erwarten nichts mehr von uns. Ja, noch nicht einmal die Kraft zur Loslösung von uns erwarten wir durch uns, sondern alles durch ihn, den Erlöser. Wir sind nichts, können nichts; er ist alles, kann alles. Das ist Ichverneinung und Jesusbejahung. Solche Buße, Bekehrung und Ichverneinung entspricht allein dem Glauben an Jesus, nämlich dem alleinigen Rechnen mit Jesus.
Das allein ist auch der Glaube, den Jesus in uns anfangen und vollenden will. Es ist Glaube von seinem eigenen Glauben. Es ist der Glaube des Sohnes Gottes in uns (Gal. 2,20). Diesen Glauben hatte Jesus seinem Vater gegenüber, als er es bezeugte, er könne nichts aus sich selber tun, sondern alles nur aus seinem Vater (Joh. 8,28).
Allein in dieser glaubensgehorsamen Abhängigkeit von seinem Vater hat er uns Leben bringen können, und allein in solcher glaubensgehorsamen Abhängigkeit von ihm, die weiß, was er meinte, als er sprach: Ohne mich könnt ihr nichts tun! (Joh. 15,5) können wir das Leben von ihm empfangen und behalten. So ist die wahre Jesusbejahung die praktische sekündliche, glaubensgehorsame Abhängigkeit von Jesus. In dieser glaubensinnigen, glaubenstätigen Abhängigkeit von ihm empfangen wir sein Leben als „wahres Leben“, wie die Rebe ihr Leben empfängt vom Weinstock (Joh. 15). Der Augenblick, die Stunde, der Tag, die Zeit, wo du, verzweifelt am Werte deines Lebens in der unseligen Ichbejahung, dich aufgibst, loslässt, fahren, fallen lässt und Jesus hingibst, fortan ihm glaubst, allein mit ihm rechnest, bringt dir die Neugeburt, die Wiedergeburt, nämlich den Beginn der Innewohnung des Geistes und Lebens Jesu in dir, den Empfang neuen, wahren Lebens, nämlich des Lebens aus Gott in Christus durch den Heiligen Geist. Von da ab hast du dein Leben nicht mehr in dir, sondern in Christus. Du lebst noch, ja; aber dennoch lebst nicht mehr du, sondern Christus lebt in dir, und du kannst nur noch leben in Ihm (Gal. 2,20). Durch ihn mit Gott versöhnt und mit dem Vater wieder eins gemacht, bist du nun geworden ein Kind Gottes, dem Vater angenehm gemacht in dem geliebten Sohn, an welchem du nun hast die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung deiner Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade (Eph. 1,6-7). Nun schmeckst du das neue, das allein wahre Leben; denn „ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung, eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden! (2. Kor. 5,17) Dieses neue, allein wahre Leben kann ich dir nicht beschreiben, das mußt du selbst erleben. Wenn du erst aufjauchzen wirst: „Christus ist mein Leben!“ (Philipper 1,21), dann weißt du in Freude und Frieden des Heiligen Geistes den Inhalt des wahren Lebens.
Willst du dies Leben?
Siehe, das Evangelium ist wunderbar! Es nimmt dem Menschen alles. Es will dir „große Freude“ (Luk. 2,10) verkündigen und sagt dir doch aus dem Munde Jesu: Ändere deinen Sinn! Sieh ein, daß dein Leben gar kein Leben ist! Hasse und lasse dein Leben! Sage allem ab, was du bist und hast, und komme zu mir! Ich gebe dir neues, wahres Leben! Ich gebe dir mein Leben! Komm, folge mir nach und bleibe bei mir, bleibe in mir! Wie wird da der ganze Mensch zu Boden geworfen und sein Herz kurz und klein geschlagen! Wie wird er da mit allem, was er hat und liebt, entwertet und zertrümmert! Wie groß muß da der Gegengewinn sein, wenn der Mensch zu solchem Verlust bereit werden soll! Und er ist groß, geliebter Hörer! Unnennbar groß! Unvergleichlich groß! Er übersteigt alle Vernunft und alles Gefühl! Vor dem unausforschlichen Reichtum des neuen Gewinnes verwandelt sich aller bisheriger Besitz in Schaden und Kot. Der Gewinn ist das ewige und wahre Leben als Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott in Christus Jesus durch den Heiligen Geist. Zu diesem ewigen und wahren Leben bist auch du berufen. Jesus steht vor dir und spricht zu dir: Ich lebe, und du sollst auch leben. Komm, mache dich auf und empfange ewiges, empfange wahres Leben!