„Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir Gottes Kinder sollen heißen!“
1. Joh. 3,1
Es muß eine eigene Sache sein, wenn ein Schiff den Äquator passiert. Sobald es die Linie überschreitet, ist es, von Norden kommend, auf die südliche Halbkugel der Erde gelangt. Damit ist es unter einem neuen Himmel und unter neuen Sternen. Vielleicht entsinnt sich da ein Mitreisender des schönen Sternbildes am südlichen Himmel, das man das „Kreuz des Südens“ nennt, und fragt – überschreitet man den Äquator bei klarer Nacht –, wo dieses Sternbild zu finden sei. Eine kundige Hand reckt sich nach oben und zeigt es.
Nun schaut das Auge zum ersten Male das schöne Sternbild, das es niemals auf der nördlichen Hälfte der Erde hätte sehen können. Es mußte erst die Linie überschritten sein, ehe das „Kreuz des Südens“ gesehen werden konnte! – Es muß auch ein eigen Ding gewesen sein, als die „Kreuzfahrer“ im Jahre 1099 nach schrecklich mühevoller, kampf- und entbehrungsreicher Wallfahrt endlich Jerusalem, die ersehnte Stadt, mit ihren Augen sahen. In heiliger Andacht fielen sie auf die Knie, vergossen Tränen der Freude und priesen Gott mit Lobgesängen. – Und was muß es gewesen sein, als Christoph Kolumbus bei seiner unbestimmten Fahrt nach Westen endlich jene zum amerikanischen Erdteil gehörige Insel gewahrte, die man fortan San Salvator nannte, Erlöserinsel, und deren Anblick ihn vor der Meuterei seiner Schiffsmannschaft rettete! Auch da fiel man nieder, dankte Gott und betete an. – Und um auf Moderneres zu kommen, es muß auch ein seltsames Ereignis gewesen sein, als das belgische Professorenehepaar Curie das dunkle Strahlvermögen, die sogenannte „Radioaktivität“ des Radiums entdeckte, des geheimnisvollen Leuchtstoffes, von dem heute so viel die Rede ist.
Und was für ein Augenblick mag es gewesen sein, als der dänische Forscher Amundsen im Dezember 1911 auf weiter öder Schneefläche, die man zuletzt nur noch mit Hundeschlitten durchquert hatte, endlich einen Punkt als Südpol der Erde bezeichnen konnte!
Lauter „Entdeckungen“! Um sie machen zu können, bedurfte es vieler Mühe und Arbeit und, mit Ausnahme der Entdeckung des Radiums, ein weites gefahrvolles Reisen und Wandern. So muß auch die Liebe Gottes entdeckt werden! – Ist es möglich? Die Liebe Gottes soll entdeckt werden müssen wie die Pole unserer Erde, wie ein leuchtender Urstoff, wie ein Erdteil, wie eine ersehnte Stadt, wie ein Sternbild am Himmel? – Ja! Aber ist denn die Liebe Gottes so verborgen, daß es solcher Mühe bedarf, sie zu suchen und zu finden? Hat sie sich denn vor den Menschen versteckt? Treibt sie denn ein unerklärliches Spiel mit uns?
O nein, an ihr liegt’s nicht, daß man sie oft so lange suchen muß und scheinbar so schwer finden kann. Aber an uns liegt's! – Wir sind leider blind für die Liebe Gottes. Hätten wir nur geöffnete Augen, so sähen wir sie überall. Nicht einen Schritt brauchten wir zu tun, um sie zu suchen. Sie wäre uns das Allergegenwärtigste, das uns auf allen Seiten begegnete und grüßte mit tausend treuen Augen und allezeit spendenden Händen und nie schweigenden gütigen Worten. Stattdessen hat sie unter Tausenden kaum einer gesehen, und wenn er von seiner Entdeckung berichtet, so schütteln die anderen ungläubig die Köpfe. Sie sagen, sie hätten diese Liebe auch gesucht, aber nie finden können.
Tatsächlich wird die Liebe Gottes nicht ohne weiteres entdeckt in der Natur. Die Macht und Weisheit Gottes kann einer da mit gutem Willen wohl entdecken, aber die Liebe Gottes nicht. Sonst müßten ja alle Naturforscher, überwältigt von der allenthalben sich ihnen offenbarenden Liebe Gottes, aus einer Anbetung in die andere fallen. Statt dessen gibt es so viele, die sagen, sie hätten trotz Fernrohre und Mikroskope noch nicht einmal die Spur eines Gottes in der Natur entdecken können. Nun, wenn man noch nicht einmal eine Spur von Gott in der Natur findet, wie soll man da seine Liebe entdecken! Nein, nein, die Liebe Gottes wird nicht ohne weiteres in der Natur entdeckt.
Die Liebe Gottes wird auch nicht ohne weiteres in der Geschichte der Menschheit entdeckt. Man sagt, die Geschichte der Menschheit sei mit Blut geschrieben, und das ist wahr; wie soll man da in ihr die Liebe Gottes entdecken! Abertausende haben sich mit der Geschichte der Menschheit abgegeben und haben in dem Gang des menschlichen Geschehens auch nicht ein Fäserchen von Gottes Liebe gefunden.
Sogar in unserem eigenen Leben wird die Liebe Gottes nicht ohne weiteres entdeckt. Die meisten Menschen sind mit dem Verlauf und Ergebnis ihres Daseins durchaus unzufrieden. Den meisten hat das Leben, wie sie sagen, nicht gehalten, was es ihnen versprach, besser, was sie sich vom Leben versprachen. Sie reden verzichtleistend vom kalten, unerbittlichen Schicksal oder achselzuckend vom launigen Glück, sie reden von Arbeit und Mühe, von Fortschritt und Hoffnung; aber wie bitter, bitter wenige reden von der in ihrem Leben entdeckten Gottesliebe! Nein, vielmehr ballen sehr viele gegen Gott die Faust, und die allermeisten haben bereits aufgehört, überhaupt irgendwie mit Gott zu rechnen. So wenig die Naturforscher ihn und seine Liebe in der Natur, so wenig die Geschichtsforscher ihn und seine Liebe in der Menschheitsgeschichte gefunden haben, ebensowenig haben diese Menschenmassen ihn und seine Liebe im Verlauf und Inhalt des Einzellebens finden können. Nein, die Liebe Gottes wird weder in der Natur noch Geschichte noch persönlichen Lebensführung ohne weiteres mit Sicherheit entdeckt.
Was besagt das? Das besagt, daß uns trotz aller fortschreitenden sogenannten Bildung, die denkbar kostbarste Fähigkeit verloren gegangen ist, die Fähigkeit, die Liebe Gottes allenthalben wahrzunehmen. Diese Tatsache ist einer der deutlichsten Beweise für den auf den ersten Blättern der Bibel berichteten „Sündenfall“ unseres Geschlechtes. Es ist eine Zerreißung des Geistesbandes eingetreten, das den Menschen ursprünglich mit seinem Schöpfer verband.
Nicht Gott, sondern unsere Ureltern haben dies Band zerrissen. Mit der Übertretung des Gebotes Gottes, an dem ihr Gehorsam und ihre Erkenntnis erprobt werden sollte, zerrissen sie selbst die vertraute Geistesgemeinschaft, in der sie bis dahin mit dem ewigen Vater, dem Quell alles Lebens, gelebt. Lebensbeschränkung, als Herabminderung der Fähigkeit, mit dem Alleinweisen und Alleinheiligen zu verkehren, mußte die Folge sein. Der Mensch, in Ebenbildlichkeit Gottes als eine lebendige Seele geschaffen und bestimmt, mit Gott ein Geist zu werden, sank herab ins „Fleisch“, ward selbstisch fleischlich-irdisch, d. h. gottfeindlich gesinnt und damit unfähig, in der bisherigen Gottesnähe zu weilen. Mit dem Fluch der Lebensbeschränkung beladen, mußten sie das Paradies der reinen und wesentlichen Gottesgemeinschaft verlassen; seitdem stand zwischen ihnen und Gott der Wächter mit dem flammenden Schwert. Und der steht heute noch vor der schweißtriefenden Stirne eines jeden vom Weibe mit Schmerzen geborenen Menschen, wie Paulus sagt: Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Torheit, und kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich gerichtet sein (1. Kor. 2,14). Vernimmt man aber nichts vom Geiste Gottes, so vernimmt man natürlich auch nichts von der Liebe Gottes, und dann scheint einem auch diese eine Torheit.
Sieh aber an diese gefallene Menschheit! Durch die innerliche und äußerliche Entfernung von Gott „töricht“, d. h. gottentfremdet geworden, stellt sie alles auf den Kopf – ihre eigene Torheit hält sie für die einzig zuverlässige Weisheit, und die Weisheit des Geistes Gottes, die sie nicht erkennt, verachtet sie als Torheit! So leugnet sie auch den Sündenfall, obgleich dieser Fall jedes einzelnen Menschen persönlichster Fall ist und die ganze Menschheit in diesem Unheilsfall bis über die Ohren, nein, bis weit über die Haare hinaus drin sitzt. Denn die Welt liegt trotz aller ruhmseligen Kulturarbeit noch genau so im Argen und außerhalb wirklicher paradiesischer Gotteseinheit und Gottesfreude wie ehedem. Um nicht einen Millionstel Millimeter hat uns die Riesenarbeit der Kultur aus der Tiefe des Sündenfalls und dem unaufhörlichen neuen Verderben der Sünde herausgehoben. Um nicht ein Tüttelchen ist der auf Mensch und Erde lastende Fluch durch alles gewaltige Menschenringen vermindert worden. Schmerzen, Schweiß, Tränen, Jammer, Wehegeschrei, Elend, Qual, Verderben und Sterben haben um nichts abgenommen; die sogenannte Menschlichkeit hat nichts wesentliches am Menschen und seinem Leben ändern können. Wahrlich, da ist’s kein Wunder, wenn der also ringende Mensch hinter die Liebe Gottes sein so vernünftig scheinendes Fragezeichen setzt!
Eher noch glaubt er der Liebe der Menschen. Es ist kein Zweifel: Menschliche Nächstenliebe, als Erweisung hilfsbereiter Barmherzigkeit in privaten und sozialen Nöten, hat heute Millionen Hände, die sich fleißig regen. Da betätigen sich auch die Gottesleugner und Freidenker, die Revolutionäre und Reformer, die Kultur- und Menschlichkeitsschwärmer, die Wohlgesinnten und Wohlhabenden, die unreligiösen und religiösen Idealisten und alles, was sonst der irdischen Gerechtigkeit im Glauben an die Menschheit nachjagt. Und fast könnte es, angesichts all dieser menschlichen Liebesbemühung scheinen, als ob es gar keiner Liebe Gottes im Weltall und ihrer Entdeckung bedürfe, als reiche die liebeübende Menschlichkeit vollständig für den Bedarf unseres Geschlechtes aus, ja als sei sie die erschienene Gottesliebe selber. Aber diese Meinung täuscht und trügt außerordentlich. So wenig man die Liebe Gottes ohne weiteres in Natur, Geschichte und eigenem Leben entdeckt, so wenig entdeckt man sie auch ohne weiteres in der liebeübenden Menschlichkeit; denn solche Betätigung ist noch lange keine wirkende Liebe Gottes. Sieh nur genauer zu, und du wirst finden: Der natürliche Mensch liebt im tiefsten Grunde nichts als nur sich selbst. Auch all sein Liebestun ist befleckt mit Eigenliebe, Ehrliebe, Ruhmliebe, Geldliebe, Bequemlichkeitsliebe, Vergnügungsliebe usw. Der natürliche Mensch kann gar nicht anders: Er liebt sich, macht sich zum Mittelpunkt und liebt von da aus sein erweitertes Ich, nämlich Eltern, Familie, Verwandtschaft, Freundschaft, Volk, Heimat, Vaterland, ja die ganze Welt. Und wenn er sich gleich für das eine oder andere oder für die ganze Welt aufopfert, so bleibt er doch dabei in der Selbstbejahung und Selbstbewertung, mag er auch noch so laut oder leise verkündigen, er tue das Gute um des Guten willen. Die Liebe Gottes aber ist viel, ja unendlich viel mehr, als solches befleckte Menschentun, und deshalb sage ich noch einmal: Auch in der üblichen menschlichen Liebesbetätigung kann nicht ohne weiteres die Liebe Gottes entdeckt werden.
Ach, das ist ja der große Verlust, den uns der Sündenfall als Entfernung von Gott gebracht hat, nämlich nicht nur Verlust der Fähigkeit, die Liebe Gottes wahrzunehmen, sondern auch Verlust an eigener Liebesfähigkeit! All unser Mangel in unserem Leben ist Mangel an Liebesfähigkeit. Weder sehen wir die Liebe Gottes recht, noch können wir sie recht in uns aufnehmen, noch vermögen wir sie recht wieder- und weiterzugeben. So gerät uns zunächst weiter nichts, als die leidige vielgeschäftige Selbstliebe, die immer nur sinnlich-seelisch, aber nie göttlich liebt. – Sag, mein teurer Hörer, hast du diesen bösen Mangel an wirklicher Liebesfähigkeit schon in deinem Herzen und Leben entdeckt? Wenn nicht, dann wird dich auch die Entdeckung der Liebe Gottes herzlich wenig interessieren. Du wirst dann noch ein recht und rund mit sich selbst zufriedener Mensch sein, der meint, wunder wie lieb und liebenswürdig zu sein.
Das Liedlein deiner Ichliebe wird dann noch heißen: Bin ich denn nicht lieb? Tue ich denn nicht Gutes? Helfe ich denn nicht, wo ich nur kann? Bin ich nicht für Gerechtigkeit und Menschlichkeit? Beteilige ich mich nicht an allen edlen und idealen Kulturbestrebungen? Wer kann mir etwas Gemeines nachsagen? Wer will mir etwas vorwerfen? – Ach, du vortrefflicher Mustermensch, was bedarfst du noch zu deiner Bereicherung der Entdeckung der Liebe Gottes?
Du bist ja schon so reich in dir selbst, daß die Liebe Gottes beinahe nötig hätte, dich zu entdecken, damit sie durch dich bereichert würde! Nein, du lieber Selbstverliebter, du gehst jetzt nicht mit mir auf die Reise, die Liebe Gottes zu entdecken; du bleibst jetzt schön bei dir selbst, wo dir immer am wohlsten ist. – Aber die anderen, die bereits tief genug in sich selbst erfahren sind, um ihren Mangel an reiner Liebesfähigkeit erkannt zu haben, die mit bitterer Wehmut immer wieder wahrnehmen mußten, wie aussichtslos tief ruiniert sie in der gemeinen Selbstliebe drinstecken, und die auch an der Liebesfähigkeit der Menschen und der ganzen Menschheit genugsam enttäuscht verzweifelten, und damit leidensschwer reif geworden sind, ihr Herz und Auge nach der Liebe Gottes zu schicken, die wissen, was das besagen will: Entdeckung der Liebe Gottes!
Aber wo soll man sie entdecken, wenn nicht in der Natur, Menschheitsgeschichte, eigenen Geschichte, im eigenen Herzen und Herzen der Menschen? – Komm, ich führe dich hin, wo du die Liebe Gottes mit unbedingter Sicherheit entdecken kannst und will dir zugleich auch erzählen, wie sie entdeckt wird. Höre! Es war nach Schluß einer Evangelisationsansprache, wo ich über einen ähnlichen Gegenstand gesprochen hatte, wie heute abend.
Mancherlei Aussprachen mit allerlei Menschen hatten mich noch hingenommen, wobei es nahezu Mitternacht geworden war. Da, gerade als ich die letzte Gasflamme löschen wollte, spähte noch ein Mädchenkopf durch die wenig geöffnete Saaltüre und verschwand sofort wieder. „Kommen Sie nur herein!“ rief ich, „Es ist zwar schon sehr spät, aber kommen Sie nur!“ – Zögernd und doch eigentümlich entschlossen trat das junge Mädchen, das so beharrlich lange auf mich gewartet hatte, ein. Die rechte Hand wie offenbarend und zugleich abwehrend erhoben, stand sie nahe der Türe still.
So rief sie mir entgegen: „Aber ich möchte Sie nicht enttäuschen! Ich will es Ihnen lieber gleich sagen: An einen Gott der Liebe glaube ich nicht!“ – „So? Nun dann treten Sie doch näher und erklären Sie mir, warum Sie nicht an den Gott der Liebe glauben!“ – Sie setzte sich und begann mit bitterer Empörung zu erzählen: „Meine Mutter fiel vor kurzem beim Fensterputzen hinunter in den Hof und war gleich tot. Mein Vater wurde infolge des Unglücksfalles vom Schlag gerührt und starb bald nachher. Meine Schwester wurde durch das Doppelunheil nervenkrank und liegt jetzt noch darnieder, und ich bin seitdem das unglücklichste Geschöpf auf Erden! Nein, nein, wenn es einen Gott der Liebe gäbe, wie könnte er so etwas geschehen lassen! Meine Eltern waren so brav … !“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen. Ich ließ sie eine Weile, dann sagte ich zu ihr: „Sie haben Schweres erlebt, und ich gebe mir Mühe, mit Ihnen zu fühlen und zu verstehen. Aber sollte es wirklich wegen Ihres schrecklichen Erlebnisses keinen Gott der Liebe geben? Hätten Ihre lieben Eltern, weil sie so brav waren, wirklich nicht dies Ende nehmen dürfen? – Sehen Sie, es war einmal einer auf Erden, ein Braver sondergleichen, der hat ein noch viel schrecklicheres Ende gefunden. Der hätte viel mehr Ursache gehabt, an einem Gott der Liebe zu zweifeln als Sie!“
Sie hob den Kopf und lauschte. „Dem ging es böser als je einem auf Erden!“, fuhr ich fort. „Und doch war er noch viel, ja ganz unvergleichlich viel braver als Ihre lieben Eltern und ganz, ganz anders als Sie und ich. Er hat niemals einem Menschen etwas Böses getan, sondern allen immer nur Gutes. Er zog umher und tat allen wohl. Nie war in seinem Herzen etwas anderes als Liebe. Das können Sie von Ihrem Herzen und vom Herzen Ihrer lieben Eltern leider nicht sagen, nicht wahr?“ – Sie nickte leise. – „Nun sehen Sie, diesen einzig wahren Wohltäter, der lauter wandelnde Liebe war, haben die Menschen unter die Übeltäter gezählt, haben ihn mit Haß und Hohn gegriffen, mißhandelt, bespieen, ihm die Kleider vom Leibe gerissen und ihn schändlich an ein Holz genagelt, wo er geschmäht und gemartert starb. Sehen Sie, der hätte Ursache gehabt, an einem Gott der Liebe zu zweifeln, und – er hat’s nicht getan! Im Gegenteil, er nannte Gott seinen Vater, dessen Liebe er den Menschen verkündigen wollte! Und den Willen Gottes zu tun, nannte er seine Speise! Und nun denken Sie – diesen einzig Braven ließ Gott so schmählich und schändlich sterben! So schmählich, daß seine Feinde bei seinem Sterben höhnten: Dieser hat Gott vertraut, der helfe ihm nun! Und Gott half ihm nicht, sondern ließ ihn unterm Spott seiner Feinde qualvoll verscheiden! – Sehen Sie, noch einmal sei es gesagt, wenn es einen auf Erden gegeben hat, der Ursache gehabt hätte, an einem Gott der Liebe zu zweifeln, so war er es! Stattdessen starb er mit dem Ruf: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! – Denn Sie wissen, wen ich meine – ich meine Jesus, den Gottessohn, unseren Heiland.“
Noch während ich zu ihr redete, bemerkte ich, wie sie mehr und mehr nachsinnend das Angesicht hob, und wie ihr Auge, das groß am Licht der einen letzten Gasflamme hing, sich mehr und mehr schauend weitete und weitete, als sähe, als entdeckte es etwas Überwältigendes. Nur ein wenig senkte sich der Blick, als ich geendet, und immer noch lag das große Schauen in ihm. So sagte sie mit völlig veränderter Stimme und ohne mich dabei anzusehen: „Da sagen Sie mir etwas, das hat mir so noch niemand gesagt! Da sehe ich etwas, das habe ich so noch nie gesehen! Ach, das ist ja wahr, Jesus, Jesus! Ja, was hat er gelitten, der Liebe, Reine! Ja, er hätte zweifeln müssen, und – in ihm erschien doch gerade die Liebe Gottes! – O, wie ist mir? Bitte, bitte, beten Sie mit mir! Beten Sie mit mir zu dem Gott der Liebe, an dem ich gezweifelt!“ – Wie pries ich Gott für diese Offenbarung seines Wesens im Sohne seiner Liebe in jenen Augenblicken! Kaum schwiegen Dank und Anbetung aus meinem Munde, da begann derselbe Mund, der vorhin bitter empört gesprochen hatte: „An einen Gott der Liebe glaube ich nicht!“ überzufließen in Worten der Reue und des Lobpreises vor dem Gott der Liebe. – Was war denn geschehen: Ach, ein verzweifeltes Menschenkind hatte in mitternächtiger Stunde beim Scheine der einen letzten Gasflamme die Liebe Gottes entdeckt, hatte sie da entdeckt, wo sie allein mit unbedingter Gewißheit zu entdecken ist, nämlich am Kreuze Christi auf Golgatha.
Ja, dort und nirgend anderswo kannst auch du sie nur entdecken! Laß deine Augen die weite Erde durchwandern, laß sie schauen alle Großtaten und Liebeswerke hoher Menschlichkeit, laß sie eindringen ins alltäglich Kleine und da sammeln alle Eindrücke von der Liebe der Menschen – am Ende wirst du die Liebe Gottes doch nicht mit Sicherheit gefunden haben und dein Herz bleibt ungestillt. Aber unternimm mit mir die Wanderung von dir selbst und aller menschlichen Ungenüge hinweg zum Kreuz Christi hin, und du wirst dort die ersehnte Gottesliebe entdecken!
Wie war es denn damals? Höre! –: Die Menschen saßen in der Finsternis und im Schatten des Todes. Jüdische Religiosität legte den Menschen schwere unerträgliche Joche selbstgemachter Gesetze auf und spreizte sich selbstgefällig mit langen Gebeten und sauertöpfischem Fasten vor den Menschen. Kein Lichtstrahl der Liebe Gottes brach aus diesem pharisäischen Gebaren; was war da anderes als Finsternis und Schatten des Todes! Und nebenher der liebeleer erstarrten jüdischen Religiosität die eiserne Starre der römischen Gerechtigkeit, in deren stählernen Adern ebenfalls nicht eine Spur der Liebe Gottes pulsierte. Dazu die kalt glänzende griechische Weisheit, in ausgeklügelten Gedankengebilden erstarrt und erstorben, nichts als eine hohle Parade des Menschenwitzes, tot und verschlossen der lebendigen Liebe Gottes! So sah es damals aus.
Die Finsternis eines Lebens ohne Lichtstrahl der Erkenntnis des wahrhaftigen Gottes bedeckte das Erdreich, die Völker saßen im Dunkel ihrer eigenen gottfernen Gedanken und im Schatten des Todes, der ringsum der mächtig wuchernden Sünde schrecklicher Lohn war. Da besuchte uns der Aufgang aus der Höhe! Da erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unseres Heilandes! Da sandte die herzliche Barmherzigkeit Gottes das wahrhaftige Licht, daß es die Finsternis erleuchte! Da ward Jesus geboren, daß die im Todesschatten Wohnenden in ihm das Leben haben sollten! Ein im Stalle geborenes Knäblein wuchs auf wie ein Sproß aus dürrem Erdreich, und in ihm wohnte die Fülle der Gottheit leibhaftig! Die Weisheit und Liebe Gottes betrat in Knechtsgestalt die Erde, schickte sich an und amtierte in menschlichen Gebärden an Mühseligen und Beladenen, Schwachen und Kranken in nie zuvor gesehener Weise und redete dabei lichte Worte göttlicher Vollmacht, wie sie nie ein Mensch zuvor geredet! Ja, die Liebe Gottes war im Fleisch der Menschen auf Erden erschienen, setzte sich als Jesus von Nazareth neben die Sünder, aß und trank mit ihnen, legte ihre Hände auf zutrauliche Kindlein und segnete sie, streckte die Hand aus und heilte alle Kranken, tat den Mund auf und redete holdselige Worte, daß alles Volk ihr nachlief. Und es war, als ob sich die Menschen im Angesichte Jesu wieder erinnerten des Urbildes wahrer Menschlichkeit und sich sagten: So müssen wir sein und nicht anders! Und zugleich war es, als ob sie auch das Urbild wahrer Göttlichkeit, vom Himmel gekommen, unter sich wandeln und handeln sähen, so daß sie sich vor dem Angesichte Jesu sagen mußten: So muß Gott selbst sein und nicht anders! War es ein Wunder, daß sie Häuser und Äcker, Schiffe und Netze, ja Vater und Mutter, Weib und Kind, Speise und Trank ließen um seinetwillen und folgten ihm nach?
Doch fast wundert es mich, in keinem der Evangelien zu finden, daß die Leute, um sein unerfindliches Wesen zu bezeichnen, von ihm sagten: Er ist die Liebe! Ich glaube, sie waren alle zu sehr entwöhnt wahrer Liebe, so daß sie es jetzt gar nicht wagten, dies bekannte menschliche Wort zur Erklärung seines ganz unbekannt-seltsamen Wesens zu gebrauchen. Aber vielleicht war es auch bereits das andere. Schon gab es scheele Augen. Schon ärgerten sich einige an seiner Ausschließlichkeit. Sein Licht enthüllte und strafte ihre Finsternis. Sein Lieben richtete ihre selbstsüchtige Lieblosigkeit. Die Kunde von seiner heilenden Güte bedrohte ihr Ansehen und ihren Gewinn. Der Neid begann zu bohren, zu verdächtigen und zu planen. Gegenstimmung ward erzeugt. Das Außerordentliche, Auffällige seines Wesens und Wirkens ward als aufruhrstiftend angeschwärzt. Der Demütige, der über alle Schranken menschlicher Eitelkeit und Hoffart hinweg helfend liebte, ward als der Sünder Geselle und Weinsäufer gebrandmarkt. Und als die starke, rettende Gottesliebe das trauernde Wehe! über die ausrief, die ihr in Selbstliebe widerstanden, die die Finsternis mehr liebten als das erschienene Licht und die Ehre bei Menschen mehr als die Ehre bei Gott und sich selbst mehr als die Liebe Gottes, da beschlossen sie, den unerträglich Gewordenen zu töten.
Sieh, geliebter Hörer, das ist er und das sind wir! Das ist’s, was er meinte, als er sagte: Ihr seid von unten her, ich bin von oben her. Der von oben her kommt, ist über alle. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt (Joh. 8,23 und 3,31). Die von unten her sind, ertrugen den nicht, der ihnen die Liebe brachte und zeigte, die von oben her ist. – Du weißt, was dann geschah. Der Unterschied zwischen ihm und allen anderen war zu groß. Erst ärgerten sich die Neider an ihm und verdächtigten ihn. Daraufhin verließen ihn die Wankelmütigen. Danach schieden sich diejenigen von ihm, denen seine seltsamen Worte immer unheimlicher wurden. Und er selbst half ihnen mit harter Rede noch zu solcher Scheidung, eben um der Deutlichkeit seiner Liebe willen. So mußte er selbst seine Getreuen fragen: Wollt ihr mich nicht auch verlassen? Noch folgten sie ihm weiter nach, aber immer fragwürdiger wurde ihnen der Meister.
Dann kam die Stunde, wo der Einzigartige auch ihnen so unerklärlich wurde, daß sie sich alle an ihm ärgerten und alle flohen. Siehe, so schied sich Art von Art! Höre, der von oben her Gekommene stand zuletzt allein! Nur der ihn gesandt hatte, seine Liebe auf Erden zu offenbaren, war noch bei ihm. – So entschied es sich! – die Menschen ertrugen die persönlich auf Erden erschienene Liebe Gottes nicht in ihrer Mitte! Sie verstanden auf die Dauer weder ihr Wesen noch ihren Weg. So fremd war der Menschen Wesen dem Wesen Gottes geworden! Schließlich ging einer ihrer besonderen Kostgänger hin und verkaufte die auf Erden erschienene Liebe Gottes für dreißig Silberlinge an ihre Feinde. Und ein anderer aus ihrer Schule, der einst hatte bekennen müssen: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“, leugnete und schwur aus Liebe zum eigenen Leben: Ich kenne diesen Menschen nicht! –, so sehr schämte er sich der in ärgerlicher Weltfremdheit auf Erden erschienenen und bereits von Menschen gefangenen und geknebelten Liebe Gottes!
Siehe, die Liebe Gottes war in der Welt, und die Welt ward durch sie, – und die Welt kannte sie nicht! Die Liebe Gottes kam in das Ihre, und die Ihrigen nahmen sie nicht auf! – Und die sie aufgenommen, verrieten und verleugneten sie und flohen vor ihrer unheimlichen Einzigartigkeit in hellem Ärger. Durch die Hand ihrer Schergen aber band die empörte Weltart die erschienene Liebe Gottes und stellte sie in ihrer unerträglichen Ausschließlichkeit an den Pranger, setzte ihr eine Dornenkrone auf und gab ihr das schwache, hohle Rohr zum Zepter. Nun entlud sich vor ihrem verhöhnten Bilde die uralte Feindschaft des sündigen Menschenwesens gegen das reine Gotteswesen. Sie geißelten die Liebe Gottes. Sie schlugen sie ins Angesicht. Sie bespieen sie. Sie triumphierten über sie. – Ach, und doch war das nur der gröbste Ausdruck dessen, was in uns allen sitzt! Denn höre! –: Wir sind von Haus aus alle geborene und geschworene Christusfeinde, Feinde der erschienenen Liebe Gottes! Denn wir sind geborene Sünder, und er war und bleibt der geborene Sündlose. Das reimt sich nicht zusammen! Das verträgt sich nicht miteinander! Die Sünder können den Sündlosen nimmer ertragen! Sie können ihn nicht dulden in ihrer Mitte. Das wäre Herrschaft über sie. Sein Licht sticht zu sehr ab gegen ihre Finsternis, seine Reinheit gegen ihre Unreinheit, sein Wohltun gegen ihr Übeltun, seine Liebe gegen ihre Selbstliebe. Da müssen sie sich wehren; denn sie wollen nicht, daß die so unangenehm richtende Gottesliebe über sie herrsche! Fühlt sich doch die Menschenart, als Sünde des ganzen Menschengeschlechtes, von ihr entlarvt, bedroht, verurteilt!
Da wird die menschliche Selbstliebe der Liebe Gottes zum grimmigsten, wahnwitzigsten Feind. Der verwegenste, gehässigste Kampf gegen die Liebe Gottes in Person entbrennt. Ihre Güte reizt zur Bosheit, ihre Sanftmut zur Wut, ihre Demut zum überlegenen Hohn, ihr Schweigen zum teuflischen Schrei, ihr sich immer selber gleichbleibendes Lieben zum satanischen Haß. – Es soll irgendwo ein Bild geben: Christi blutig verhöhntes Angesicht mit verbundenen Augen in der Mitte, daneben eine schlagende Faust, auf der anderen Seite ein speiender Mund, über dem Haupte ein haßblitzendes Auge, und als Unterschrift des Bildes die Frage: Christus, weissage, wer schlägt, wer bespeit, wer haßt dich? – Ja, wer, wer? - O, nur eine Faust, nur einen Mund, nur ein Auge hat der Maler gemalt! Und so ist es! Höre! –: Die Faust der ganzen Menschheit schlug ihn, der Mund der ganzen Menschheit bespie ihn, das Auge der ganzen Menschheit blitzte Haß gegen ihn! Die Sünde der ganzen Menschheit erhob sich gegen ihn und forderte schließlich sein Blut!
– Da standen nicht mehr einzelne, die da riefen: Hinweg mit diesem! Kreuzige, kreuzige ihn! Da stand ein ganzes Volk, das so schrie. Da stand nicht nur ein Volk, das so tödlich haßte, da stand die Menschheit, zu der die Liebe Gottes gekommen war, und verwarf als blinde, weil liebeentblößte jüdische Religiosität, römische Gerechtigkeit und griechische Weisheit den unvergleichlichen Menschen- und Gottessohn und hatte für den unerträglich Einzigartigen nur noch einen Wunsch und Ruf: Hinweg mit diesem! Kreuzige ihn! – Siehe, das sind wir! Dieselbe Gesinnung, die in jenen war, steckt auch in uns. Und käme er heute wieder in seiner aufreizenden Ausschließlichkeit und träte mit seiner harten Liebesrede hinein in unsere fade, unerbittlich selbstgerechte, gewalttätige und dünkelhafte Kultur, – ihm geschähe von modernen Pfaffen, Richtern und Schulstreitern wie damals! Wieder würde er unter die Lupe und das Urteil der alten Menschenart geraten, und wieder würde es durch die Menge brausen: Hinweg mit diesem!
Und nun schau ihn an! – Höre! –: Hätte damals, als er bespieen auf dem Hochpflaster in Jerusalem stand, hätte damals ein Mund halb neugierig, bald mitleidig sein Ohr erreichen und fragen können: Sag, du Verachteter, was ist jetzt in deinem Herzen?, und hätte das vor seinen Scherern verstummte Schlachtschaf noch eine Antwort gegeben, so wäre es wohl die gewesen: Weißt du nicht, daß mich die Liebe zu meinem Vater in den Himmeln und die Liebe zu den sündigen Menschen auf Erden zwingt, meinen Rücken darzuhalten denen, die mich schlagen, und meine Wangen denen, die mich raufen, und daß ich mein Angesicht nicht verbergen darf vor Schmach und Speichel? – Siehe, sie wollten damals die Liebe Gottes in ihm totschlagen, aber kein Schlag konnte den Brand dieser Liebe dämpfen, kein Speichelwurf ihre Glut löschen! Nur noch heftiger loderte ihr Feuer empor, nur noch höher entflammte es! Und als er nachher gar am Kreuz hing, hätte da ein Mund noch fragen können: Sag, du Verhöhnter und Verworfener, ist noch immer Liebe und nichts als Liebe in deinem schmerzenden Herzen? Hörst du denn nicht deiner Feinde Schmährufe? Siehst du denn nicht die Gebärde ihrer Rache?
– Er hätte nur antworten können: Weißt du denn nicht, daß diese Verblendeten nicht wissen, was sie tun? Und weißt du nicht, daß mich mein Vater eben um ihres Heiles willen nicht verschont, sondern für sie alle dahingegeben hat, damit ich mein Leben gebe zum Lösegeld für ihre Sünde? – Siehe, auch kein Nagel am Kreuz hat den Nerv seiner Liebe durchbohren und töten können, kein Schmähruf konnte die Flamme seiner Liebe verwehen oder beengen! O, sieh die ans Kreuz genagelte Liebe Gottes, sie tut, was sie immer getan – sie liebt! Muß es erst noch gesagt werden, daß auch nicht ein Hauch von Groll, auch nicht ein Schatten von Haß dies gepeinigte Herz da oben am Kreuz durchzogen hat? Nur Liebe, reine unverfälschte Liebe Gottes, die sich für alle Lieblosigkeit der Menschen zum Schuldopfer gibt, die da am Fluchholz duldet, als hätte sie selber alle Sünde getan und alle Bosheit der Menschen als Strafe verdient, nur solche Liebe pulst da oben in dem Herzen. – Und nun gehe hin, und suche mir den zweiten Mann auf Erden! Siehe, du findest ihn nicht! Rede nicht von den wohlgesetzten Weisheitsreden des sterbenden Sokrates, rede nicht vom stillen Heldentod auf dem Schlachtfelde, rede nicht von den Opfern, die der Alltag kostet, noch vom Dulden auf den Leidenslagern! Du weißt, da endeten gefaßt brüchige, schuldige Menschenleben – hier aber ist unvergleichlich mehr, hier verblutet das Urbild der Menschheit und Abbild der Gottheit, unter die Übeltäter gezählt am Galgen! Hier stirbt die Liebe Gottes durch Sünderhand für die Sünder! – Und wenn Kampf und Leiden nur da wuchten können, wo Gegensätze klaffen, wie es wohl wahr und gewiß ist, dann hat’s nicht nur nie solche Liebe, sondern auch nie solches Leiden gegeben wie in Gethsemane und auf Golgatha. Die Liebe Gottes Fleisch geworden unter lieblosen Menschen, das Licht der Welt unter lauter Verblendeten, die Güte Gottes unter lauter durch sie Geärgerten, der Sündlose in sein fremdestes Gegenteil verkehrt, nämlich in Gethsemane zur Sünde gemacht und auf Golgatha als der Allerverachtetste ans Kreuz geschlagen – das sind Gegensätze, deren klaffende Tiefe Jesu Herz zerriß und die doch zugleich in demselben Herzen zur Versöhnung gelangen sollten – welch eine Quelle unvergleichlichen Kampfes und Leidens! Welches Opfer, welche Arbeit, aber auch welcher Sieg der Liebe Gottes!
Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu (2. Kor. 5,19). Denn hier ist noch mehr, als das einzig große treue Lieben und der unvergleichlich schwere und willige Leidensgehorsam Jesu von Nazareth, hier ist die unaussprechliche Gabe Gottes an die Menschheit! Hier ist das vor Grundlegung der Welt von der Liebe Gottes für die zuvorgesehene Sünde der Welt zuvorersehene Opferlamm! Hier ist die Liebe Gottes erschienen in der Hingabe des Sohnes der Liebe für das gottentfremdete, in Ungehorsam, Selbstliebe und Sünde gefallene Menschengeschlecht! Also hat Gott die Welt geliebt – höre: „geliebt“, nicht gehaßt; denn Gott war nie unser Feind, wie könnte er?, sein Wesen ist ja Liebe! Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh. 3,16).
Denn darin ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, daß Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, daß wir durch ihn leben sollen. Darinnen steht die Liebe: Nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden (1. Joh. 4,9-10). Darum preiset Gott seine Liebe gegen uns, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren (Röm. 5,8).
Teurer Hörer, damit stehen wir im Allerheiligsten des Wesens und der Wege Gottes. Hier hat der ewige Gott sich am tiefsten ins Herz blicken lassen. Hier muß die Liebe Gottes entdeckt werden. Wer sie hier nicht entdeckt, wird sie nirgends sonst finden. Siehe, auf alle Auflehnung des Menschengeschlechtes wider seine Gebote, auf alle Selbstliebe seiner Geschöpfe als Hochmut, abgöttischer Eigenwille und Ungehorsam aller Art, antwortet Gott, als die Zeit erfüllt war, mit der Hingabe des Sohnes seiner Liebe aus den Himmeln!
Auf alle Ichgröße der abgefallenen Menschenkinder antwortet er mit einem Kindlein in der Krippe, in das hinein sein Wohlgefallen, alle Schätze seiner Weisheit und Erkenntnis und alle Fülle seiner Gottheit legt. Auf allen Mangel an Liebe des Menschenherzens antwortet er mit dem Urbilde seiner Liebe in Christo, seinem Gesalbten, den er im Gewande unseres Fleisches in den Erdkreis einführt und durch den er den Sündern Buße und das nahe herbeigekommene Himmelreich seiner barmherzigen Vatergüte anbietet. Und auf alle Bosheit ihres Widerspruchs antwortet er mit der Hingabe des tadel- und makellosen Reinen in die Hände der wütenden Feinde und in Schmach und Tod am Kreuz. Und gerade als die sündige Menschenart am gottfeindlichsten sich gegen den unerträglich Heiligen empört, indem sie den gesandten lieben Sohn Gottes außerhalb des Lagers tötet, gerade da neigt sich die erbarmungsreiche Gottesart am menschenfreundlichsten herab zu den Sündern, indem sie das Blut des Sündlosen hingibt zur Vergebung der Sünden der Welt und zur Versöhnung der Sünder! Gerade als sich der blinde menschliche Eigenwille am schauerlichsten verirrte und vergriff, da offenbarte sich der göttliche Liebeswille am klarsten und zielsichersten, da machte die Liebe Gottes den Weg frei zu ihrem Vaterherzen, da sollten die Sünder Kinder Gottes heißen! Sehet, das ist die Liebe, die uns der Vater erzeiget! Sehet, das ist die Tat der Liebe Gottes in Christus Jesus – der Barmherzige rechnet Sünde nicht zu, sondern gibt für die Sünder den Sohn der Liebe! Um ihrer Gerechtigkeit willen kann die Liebe Gottes den Sohn nicht verschonen, sondern muß die Sünde der Welt an seinem Leibe strafen, aber nur, damit ihre Barmherzigkeit uns mit diesem Opfer der Liebe allen Reichtum der Gnade schenke.
O Mensch, gib es auf, diese Tat der Liebe Gottes mit der Elle deines vernünftigen Denkens ausmessen zu wollen; denn das wird dir nie gelingen! Gott hat dafür gesorgt, daß kein Verstand der Verständigen und keine Weisheit der Weisen ins Allerheiligste seines wohlgefälligen Willens eindringen; aber ein zerschlagenes Sünderherz, das, verzweifelt an allen Künsten des Menschenwesens und Menschenwitzes, unmündig und einfältig geworden ist, das sieht und entdeckt hier die Liebe Gottes, nach der es schreit, – und an die es nun glaubt.
Und damit komme ich wieder auf den Anfang zurück. Wer Entdeckungen machen will, muß wandern und wagen. Wer das schöne Sternbild am südlichen Himmel, das Kreuz des Südens mit eigenem Auge schauen will, muß den Äquator, die Linie, überschreiten. So geht es auch mit der Entdeckung der Liebe Gottes. Wer das unvergleichlich schöne Liebesgestirn am Himmel der Gnade Gottes, wer die Liebe Gottes im Kreuz von Golgatha klar und rettend entdecken will, der muß auch eine Linie überschreiten. Er muß sich tatsächlich von sich selbst hinweg- und wahrhaftig und aufrichtig zu Jesus hinleiten lassen. Er muß dabei eine gewisse Linie überschreiten, bei deren Passieren er eine entscheidende Abkehr von sich selbst und allem, was bisher Zone, Inhalt und Horizont seines Lebens war, erleben muß. Er muß es wagen, einem neuen Himmel und neuen Sternen entgegenzuschreiten. Tut er das, so wird er dabei von der alten Hälfte seines Lebens auf eine neue Hälfte seines Lebens hinübergelangen. Das Land seiner eigenen Weisheit, Wege und Kraft liegt dann hinter ihm. Als ein Bankrotteur überschritt er den Äquator seines Lebens. Als ein armer Sünder sucht er das Licht des neuen Gestirns, von dem er Kunde empfangen. So wird er finden.
Der Liebe Gottes dienende Hände werden ihm helfen. Eines Tages – und wäre es auch mitten in der Nacht – wird ihm das Licht des Kreuzes von Golgatha aufgehen. Dann wird er auf die Knie fallen und im liebenden, leidenden und sterbenden Gottessohne die Liebe Gottes entdecken. Dann tönen die Lobgesänge.
Sag, du lieber Hörer von der Entdeckung der Liebe Gottes, bist du zu solcher Reise von dir selbst hinweg zu Jesus, deinem Heiland hin, bereit? O wage diese größte Wanderung, die Menschen je unternehmen können! Leuchtet erst das entdeckte Gestirn der Liebe Gottes über deinem Weg und Haupte, dann bist du glückselig zu preisen. Dann hast du Vergebung deiner Sünden, Versöhnung mit Gott, hast Jesum an- und aufgenommen und damit das Recht, Gott deinen Vater und dich ein Kind Gottes zu nennen. Dann wird dein Weg klar und dein Ziel sicher. Das Kreuz ist deiner Wallfahrt Zeichen, das himmlische Jerusalem, die zukünftige Stadt, die droben unser aller Mutter ist, dein Reiseziel. Dein Wandel, dein Bürgertum ist fortan in den Himmeln. Unendlich mehr hast du erreicht, gesehen und gewonnen, als jene Wallfahrer sahen, die nur das irdische Jerusalem erblickten – dein Glaubensauge schaut die ewige Bleibestätte, die Wohnung der Erlösten! – Und unvergleichlich mehr als einen neuen Erdteil hast du dann unterm Gestirn der entdeckten Liebe Gottes gesehen und betreten – du findest dich versetzt ins Reich des Sohnes der Liebe, ins Reich Christi, ins Reich Gottes, ins Reich der Himmel, in den bleibenden Herrschaftsbezirk der Liebe Gottes, dessen Bürger du nun geworden bist, nach dem Gesetz des Geistes und Lebens Christi, das jetzt in dir herrscht! – Und was sind die als beinahe unerschöpflich gepriesenen Strahlenwirkungen des Radiums gegenüber der Wirkung des Lichtes der Welt, das du im Sonnenaufgang der Liebe Gottes in Christo und seinem Kreuz entdecktest? Wie wärmen nun seine Strahlen dein neues Leben und welche ganz wunderseltsamen Lebenstriebe wirkt es in dir! – Ach, und was ist die Entdeckung des Südpols unserer Erde gegenüber der Entdeckung der Liebe Gottes auf Golgatha! Jener auf öder Schneefläche ein interessanter hypothetischer Punkt, gut für allerlei irdische Beobachtungen und Messungen, diese der allerwirklichste Pol alles Weltgeschehens, der einzig richtige Beobachtungspunkt für die Erforschung des Menschenwesens, der einzig gültige Meßpunkt für jede irdische und himmlische Seinsbestimmung, auch nur gefunden auf der verfluchten Erde, die Dornen und Disteln und alles Sündenunheil der Menschen trägt, aber hinaushebend über alles Wehgeschrei, über alle Tränen und alle Not, und selbst über den Tod! Siehe Golgatha und nichts anderes ist der feste Pol in aller Erscheinung Weh und Flucht, um den die Zeiten und die Seelen kreisen! Denn die Liebe Gottes ist’s, wie Dante am Schluß seiner göttlichen Gesänge sagt, die bewegt Sonn’ und Sterne.
Ja, hast du erst das Herz der Liebe Gottes auf Golgatha entdeckt, dann siehst du den Kreislauf dieser Liebe im ganzen Weltall. Ihr Feuer glüht in den Sonnen, ihre Herrschaft hält den Gang der Sterne. Ihre Kraft, die stärker ist als der Tod, gebiert den Frühling, und ihre Güte lächelt dir aus jeder Blume. Ihr Reichtum schwellt in der Üppigkeit des Sommers und ihre Fülle schenkt die Frucht des Herbstes.
Und gerade, wenn sie in den Leichentüchern des Winters verhüllt liegt, hält sie darunter nur das neue Leben bereit, das immer nur aus dem Todesopfer lebt! Siehe, erst wenn du die Liebe Gottes im stellvertretenden Opfer auf Golgatha entdeckt, erst wenn du den Urheber und Fürsten des Lebens Jesus Christus für die Erhaltung des Lebens hast sterben sehen, wird dir alles Vergängliche im Bilde der Natur wahrhaft zum Gleichnis! Nie werde ich vergessen, wie ich, nachdem ich die Linie überschritten und das unvergleichliche Schauspiel der für die Welt in den Tod gegangenen Gottesliebe am Kreuze Christi geschaut, die Lilien auf dem Felde, die Vögel unter dem Himmel, das Weizenkorn in der Furche, die Rebe am Weinstock, den Baum und seine Frucht, den Weg unter meinen Füßen, die Wolken und die Röte des Himmels, Sonne, Mond und alle Sterne sah, wie ich sie zuvor nie gesehen hatte!
Entdeckungen verändern nicht nur unser Verhältnis zur Natur, sondern auch unser kulturelles Leben. Keine Entdeckung aber gibt uns so neue Augen für den Gang und Inhalt der Menschheitsgeschichte wie die Entdeckung der Liebe Gottes auf Golgatha. Ohne diese Entdeckung rinnt der Strom des geschichtlichen Geschehens aus dem Ungewissen und fließt hin ins Ungewisse. Nun aber wird er beherrscht von der Tat Gottes am Kreuz Christi und erhält klaren Ursprung, Plan und Sinn und klares Ziel. So wenig wie man nach der Entdeckung der Liebe Gottes in der Natur nur noch das eherne Walten kalter unerbittlicher Naturgesetze sehen kann, ebensowenig kann man nunmehr nur noch vom ehernen Gang des kalten unerbittlichen Schicksals in der Geschichte reden. Fortan sehen wir das rettende Erbarmen Gottes am Steuer der Weltgeschichte. Die Geschichte der Menschheit wird zur Geschichte ihrer Erziehung nach Gottes Heils- und Erlösungsplan. Sie hellt sich auf als eine einzige Liebes- und Gnadengeschichte, in der Gottes unbegreifliche Gerichte und unerforschliche Wege alle zu dem einen Ziel hinleiten, nämlich zur Erkenntnis Christi als des Urhebers, Erretters und Herrn alles Lebens und zur Aufrichtung seiner Herrschaft und seines Reiches über alle Völker. Und auf dem Wege zu diesem Ziele leuchtet das feste prophetische Wort der Heiligen Schrift als ein Licht, das da scheinet an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in den Herzen.
Am allerfruchtbarsten erweist sich die Entdeckung der Liebe Gottes aber für die Aufhellung und Neugestaltung unseres eigenen Lebensganges. Mensch, du kennst dich und dein eigenes Leben nicht, ehe du nicht auf Golgatha gewesen! Aber sobald du die Linie passierst, sobald du als armer Sünder vor dem Sünderheiland anlangst, siehst du dich und dein Leben recht. Da bekommst du einen ganz neuen Sinn. Auf einmal siehst du, was deine Taten wert sind. Vor dem Urbild der Menschlichkeit und Abbild der Gottheit am Kreuz gelangst du zur Buße. Was ist da Buße? Buße ist da gar nichts anderes als eben zur Erkenntnis der Liebe Gottes kommen und im Lichte dieser Erkenntnis die Dinge sehen, wie sie in Wirklichkeit, das heißt vor Gott und seinem Christus sind. O wie sieht da dein Herz aus! O wie schaust du da dich selbst und dein bisheriges Leben anders an! Du schlägst die Hände vors Gesicht und weinst über beides! Du weißt dann, daß in dir, das ist in deinem angeborenen Fleisch, nichts Gutes wohnt. Und wie eine Kriegsstraße bedeckt ist mit Brand und Trümmer, so siehst du dann deine alte Lebensstraße, die deinen Krieg gegen Gott bezeichnet, bedeckt mit der Übertretung der Gebote Gottes, wo die Sünde gehaust und verderbt hat und nun schwarz und schwer die Schuld hockt, die sich nicht verjagen läßt. O da siehst du Unseliger, Verzweifelter, was es heißt, verloren sein und sich nun durch die Entdeckung der Liebe Gottes in dem für deine Sünde und Schuld gestorbenen Sünderheiland mit einem Male gerettet sehen! Da weiß man, was das alte Bußlied sagen will:
Ach, mein Herr Jesu, wenn ich dich nicht hätte,
Und wenn dein Blut nicht für die Sünder red'te,
Wo wollt ich Ärmster unter den Elenden
Mich sonst hinwenden?
Ich wüßte nicht, wo ich vor Jammer bliebe;
Denn wo ist solch ein Herz, wie deins, voll Liebe?
Du, du bist meine Zuversicht alleine,
Sonst weiß ich keine.
O wie wird die entdeckte Liebe Gottes da dein hellstes Licht in deiner finstersten Nacht! Und wunderbar, je deutlicher du in diesem Himmelslichte sehen lernst, desto mehr entdeckst du nun das Walten dieser Liebe schon in deinem vergangenen Leben. Klarer und immer klarer siehst du, wie sich die Liebe Gottes schon immer um dich bemüht hat, wie sie längst hinter dir her gewesen und dich gesucht hat, ehe du sie suchtest, wie sie dich längst entdeckt hatte, ehe du sie entdecktest. O das ist dann Beschämung und zugleich Seligkeit! Ja, nun wird dir Erlebnis um Erlebnis in deinem vergangenen Leben zum leuchtenden Markstein der sich so treu um dich bemühenden Liebe Gottes. Deutlich siehst du die Spuren ihres Eingreifens, deutlich ihren weisheitsvollen Gang mit dir, deutlich siehst du, daß sie gnadenreiche Retterliebe ist. Ja, es wird dir dabei zumute, als hätte sich diese Liebe ausschließlich mit dir beschäftigt, sich ausschließlich um dich bemüht, und mit einem Male mußt du jubeln:
Mir ist Erbarmung widerfahren,
Erbarmung, deren ich nicht wert,
das zähl ich zu dem Wunderbaren,
mein stolzes Herz hat’s nicht begehrt.
Siehe, das nenne ich eine gesegnete und fruchtbare Entdeckung! Nun weißt du, wie du mit deinem Leben dran bist! Nun weißt du, daß dein Erlöser lebt! Nun hast du den Grund gefunden, der deinen Anker ewig hält; wo anders als in Jesu Wunden, da lag er vor der Zeit der Welt … O wie werden dir nun die alten Gesangbuchverse so funkelnagelneu und so unbezahlbar köstlich und unnennbar lieb! Die Verse, die du vor der Entdeckung der Liebe Gottes so oft leer heruntergeleiert hast!
Aber noch mehr will dir die entdeckte Liebe Gottes einbringen. Du sollst sie jetzt nicht nur in Natur, Geschichte und deinem eigenen Leben entdecken, nachdem du sie auf Golgatha entdeckt, nein, das Höchste und Herrlichste ist – du sollst nun die Liebe Gottes in dir selbst entdecken! Wie mag das zugehen? Wir hörten doch vorhin, wir haben nur Selbstliebe in uns! Gewiß! Aber höre! –: Die Liebe Gottes erschien nicht auf Erden und hing nicht am Kreuz, um sich als einzig wahre Liebe bewundern und schließlich anbeten zu lassen. Sie wollte auch nicht nur eine hohe Himmelsrechnung für uns begleichen, so daß wir nun über die Löschung unseres Sündenschuldkontos froh sein könnten, o nein, die Liebe Gottes will sich uns selber geben: Sie will in uns hinein, um in uns zu wohnen und zu wirken und immer da zu sein in Menschen dieser Erde, damit die Menschenart wieder in Gottesart verwandelt werde. Wir haben es ja vorhin gehört: Der große Verlust, den uns der Sündenfall als Entfernung von Gott gebracht hat, ist nicht nur der Verlust der Fähigkeit, die Liebe Gottes wahrzunehmen, sondern auch der Verlust an eigener Liebesfähigkeit. Dieser schreckliche Verlust, durch den die Welt so im Argen liegt, weil immer nur die Ich-, Ehr-, Geld-, Genuß-, Sünden- und Machtliebe obsiegt, dieser schreckliche Verlust soll durch Gottes Liebestat auf Golgatha gestillt werden. Dazu bedarf es gänzlich erneuerter Menschen. Wer werden diese erneuerten Menschen sein? Immer nur die, die die Entdeckung der Liebe Gottes am Kreuz auf Golgatha gemacht haben. Indem sie dort ihre ichverliebte Menschenart richten ließen, wurden sie bankrott an sich selbst und damit willig und fähig, Christi Gottesart an- und aufzunehmen. Durch den Glauben an die Erlösungstat der Liebe Gottes im Sühnopfer des Sohnes der Liebe empfingen sie die Reinigung ihres Herzens von Sündenschuld und toten Werken der Ichheit und nahmen mit dem Wort und Werk Christi auch Christi Geist und Wesen auf. Sie sind nun in seiner Liebe gewurzelt. Er hat ihnen von seinem Geist gegeben. Er wohnt durch den Glauben in ihren Herzen. Er ist ihr Leben geworden. Damit haben sie göttliches Leben empfangen und sind von neuem geborene Menschen geworden.
Gottes Wesen konnte ihnen in Christo durch den Heiligen Geist mitgeteilt werden. Gottes Wesen aber ist Liebe. So dürfen sie denn bezeugen: Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist (Römer 5,5). Nun vermögen sie mit der entdeckten und empfangenen Liebe Gottes, nämlich durch den Heiligen Geist mit der Liebe Christi zu lieben. O das ist ein anderes als das uns natürlich angeborene Lieben! Es ist das Lieben jenseits von Zuneigung und Abneigung. Es ist das durch den göttlichen Haß gegen alles sündige Menschenwesen hindurchgegangene Lieben. Es ist das Lieben Gottes im Zeichen des Kreuzes. Da ist alles Fleisch in seiner Anmut und Liebenswürdigkeit gerichtet. Da haßt man Vater, Mutter, Frau, Kind, Brüder, Schwestern und das eigene Leben mit göttlichem, von menschlicher Bosheit freiem Haß. Da kennt man niemand mehr dem Fleische, das heißt der natürlich angeborenen Menschenart nach. Da liebt man nicht mehr menschlich bedingt, sondern göttlich unbedingt. Durch das Gericht im Kreuze Christi vom eigenen Ich und aller Menschenart geschieden, erbarmt man sich nun in der erlösenden Barmherzigkeit des Kreuzes Christi aller ohne Unterschied. Das heißt wie Gott, das heißt wie Jesus Christus lieben! Es ist die ichfreie Liebe, die deshalb wahrhaft den Feind lieben kann; denn sie hat kein Eigeninteresse, sondern nur Gottes Interesse, und Gott ist niemandes Feind. Es ist die Liebe, an der man die Kinder Gottes und Jünger Jesu erkennt. Es ist die Liebe, an der allein die im Argen der Selbstsucht liegende Welt genesen wird. Es ist die Liebe, die sich niemand selber geben kann, die man aber geschenkt bekommt als bankrotter Sünder bei der Entdeckung der Liebe Gottes im Kreuz Christi.
Und mit dieser Gottesliebe als Christi Liebe vermag man auch allein recht zu leiden. Nur dieser Liebe dient wahrhaft alles zum Besten, weil sie keinen Eigenwillen, sondern nur Gotteswillen verfolgt und weil sie bereits alles in Christus empfangen und mit ihm in Gott besitzt. So hat sie nichts zu verlieren, braucht nichts zu fürchten, treibt alle Pein aus, und kann deshalb gottgemäß leiden. Es ist das Leiden jenseits des Heldentums und der gelassenen Verzichtleistung. Es ist das allezeit menschlich arme und göttlich reiche Leiden Christi, das man nur bei denen findet, die am Kreuz die Liebe Gottes entdeckt haben. Getrennt von sich selbst und der Welt, wissen sie: Ihr Teil auf Erden ist Leiden. Aber ihr Inneres ist dabei voll einer Freude, die niemand von ihnen nehmen kann. Es ist die Freude Christi in ihnen. Denn sie sind gewiß, daß nichts, aber auch nichts, was kommen kann, sie zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, ihrem Herrn.
Siehst du jetzt, geliebter Hörer, die Tragweite und den Segen der Entdeckung der Liebe Gottes?
Wo bist du nun? Hast du während des Hörens den einzig großen Schritt getan? Hast du, geführt von den gehörten Worten und angezogen von den gemalten Bildern, die Linie überschritten? Stehst du bereits unter einem neuen Himmel und neuen Gestirn? Hast du entdeckt die Liebe Gottes? Hast du sie entdeckt, da wo sie allein zu entdecken ist – im für dich gekreuzigten Christus? Und weißt du nun, der geschauten Liebe gläubig geworden, deinen Bankrott und siehst nun in ehrlicher Buße alles so an, wie es dir die entdeckte Liebe Gottes zeigt? Siehst abgenommen Fluch und Schuld und geschenkt und mitgeteilt das Himmelreich im Reichtum der Liebe Christi, durch den dir die Liebe Gottes alles gibt? Oder?
Oder wehrst du dich noch gegen die Kunde von dieser Liebe? Oder gegen die Hand dieser Liebe selbst? Streitest du gar noch gegen sie? – O das wird dir nichts nützen! Siehe, damals zogen sie gegen diese Liebe aus mit Stangen und Schwertern und brachten sie bis ans Kreuz. Und es ist wahr: blutigrot ging an jenem Nachmittag die Sonne der Liebe Gottes auf Golgatha unter, und ihre Häscher konnten triumphieren. Aber die Liebe Gottes ist stärker als der Tod. Viele Ströme törichten Hasses können sie nicht ersäufen. Siehe, am Ostermorgen ging die Sonne der Liebe Gottes strahlender als je wieder auf, und seitdem steigt sie und steigt und steigt, und bald steht sie in höchster, siegreicher Himmelshöhe! Wahnsinn, gegen ihren Aufstieg zu kämpfen! Siehe, die Welt lebt von dieser Sonne der Liebe Gottes, und auch du! Längst hat sie ja auch dich entdeckt! Längst ist sie mit ihrem Licht und ihrer Wärme auch hinter dir her! Wie könntest du ihrer Lebensherrschaft entfliehen? Laß ab von dieser Torheit! Gib dich ihr! Gib dich Jesus! Gib dich der entdeckten Gottesliebe! Gib dich und sprich:
Liebe, dir ergeb ich mich,
Dein zu bleiben ewiglich.