Beecher, Henry Ward - XI. Unnütze Knechte.

Text: Ev. Luk. 17,10.
Also auch Ihr, wenn Ihr Alles getan habt, was Euch befohlen ist so sprecht: Wir sind unnütze Knechte, wir haben getan, das wir zu tun schuldig sind.

Das Urteil über den sittlichen Wert der Menschen, welches diese Worte des Herrn enthalten, ist offenbar ein bedeutend niedrigeres als es die Menschen selbst von sich hegen. Wir haben nicht nötig, auf den Zusammenhang unseres Textes genauer einzugehen, die Worte sind an sich klar. Auch wenn wir unser Bestes getan haben, sollen wir dennoch sagen: „Unser Tun ist wertlos.“

Im Hinblick auf dieses oder ähnliche Worte der Schrift wird vielfach die Klage laut, dass das Christentum die Rechte der Menschheit und ihre sittliche Würde unterschätze, dass es den Menschen herabsetze um die Ehre und den Ruhm Gottes zu erhöhen. Insbesondere klagt man darüber, dass die Prediger in ihrer Verurteilung, ja in ihrer Verleumdung der menschlichen Natur noch über die Aussprüche der Schrift hinausgehen. Ich will nun keineswegs behaupten, dass diese letztere Klage ohne allen Grund sei, denn ich bin nicht dazu hier, alles zu verteidigen, was diejenigen, die sich Prediger des Evangeliums nennen, gesagt und behauptet haben. Ich beabsichtige nicht, die Lehre vom menschlichen Verderben, wie sie in vergangenen Zeiten in der Kirche aufgefasst worden ist, zu rechtfertigen, noch alle die Lehren, die man über die Sündhaftigkeit des Menschengeschlechtes aufgestellt hat, zu verfechten. Meine Absicht ist nur, den Beweis zu führen, dass das Neue Testament in dem, was es von dem menschlichen Charakter sagt, Recht hat, dass es nicht strenge urteilt, sondern vielmehr milde. Diesen Beweis aber will ich nicht dadurch führen, dass ich einfach Bibelstellen auf Bibelstellen häufe, denn die Frage, um die es sich hier handelt, ist eben die, ob die Bibel in ihrer Auffassung der menschlichen Natur Recht hat oder nicht; um diese Frage aber zu erledigen, wäre die bloße Berufung auf die Schrift eine schlechte Beweisführung. Ebenso wenig will ich, um meinen Zweck zu erreichen, die offenbaren Sünden und Verbrechen des Menschengeschlechtes ausmalen, oder überhaupt auf das positive Böse, das sich im menschlichen Leben zeigt, eingehen. Im Gegenteil, ich beabsichtige, Euch zu zeigen, wie arm und unvollkommen gerade das Beste im Menschen ist, daraus aber wird sich von selbst ergeben, wie alles Übrige beschaffen sein muss, wenn selbst das Beste „unnütz“ ist. Wir wollen zu diesem Zwecke annehmen, dass die Menschen der Regel nach im Besitze aller möglichen Tugenden sind; wir wollen über das Maß derselben nicht streiten; wir wollen annehmen, dass die Menschen ein reiches Maß christlicher Tugenden besitzen. Von diesen Voraussetzungen wollen wir ausgehen, in diesem Lichte wollen wir den sittlichen Wert, auf welchen wir Menschen im Großen und Ganzen Anspruch haben, untersuchen.

Bei der Betrachtung der geistigen Eigenschaften des Menschen gilt es dreierlei ins Auge zu fassen: erstlich ihre Vollzähligkeit; sodann ihre Beschaffenheit im Einzelnen; und endlich ihre Harmonie unter einander.

Gesetzt nun, die meisten Menschen seien wirklich tugendhafte Leute, so behaupte ich, die Tugenden auch der besten sind der Regel nach äußerst unvollzählig, sie sind auch, an sich betrachtet, höchst unvollkommen, und sie bilden kein reines, vollständiges, harmonisches Ganzes.

Wenn wir den Charakter auch der Gepriesensten genauer untersuchen, so findet es sich der Regel nach, dass derselbe in vielen Punkten auffallende Lücken hat. Wir brauchen deshalb bei Beurteilung unserer Mitmenschen den Mantel der christlichen Liebe. Wir ziehen und dehnen die Zipfel einer guten Eigenschaft gewöhnlich so weit aus, dass wir damit die Blößen bedecken können, welche durch die Abwesenheit von einem Dutzend anderer hervorgerufen werden. Selten hat jemand mehr als einen oder zwei hervorragende Charakterzüge, welche man soweit anerkennen kann, um sie Tugenden zu nennen. Die Rückseite fast jeder menschlichen Tugend ist irgend eine Schwäche. Es liegt in der menschlichen Natur, dass jede geistige Kraft der Menschen ihren polarischen Gegensatz hat. Gerechtigkeit auf der einen Seite hat zu ihrem Gegenpol die Barmherzigkeit. Dem kriegerischen Geiste steht gegenüber die Friedfertigkeit, dem idealen Sinne der praktische. Die Vorzüge, die jemand besitzt, stehen gewöhnlich auf dem einen Pol, auf dem entgegengesetzten zeigt sich ein Mangel. Nach welchen Gesichtspunkten man immer den geistigen Gehalt eines Menschen untersuche, die Tatsache wird uns stets entgegen treten, dass seine Tugenden nur vereinzelte Eigenschaften sind, - Fäden, aber nicht volle Gewebe; einzelne Buchstaben, nicht zusammenhängende Schrift; keine wohlverbundene, ununterbrochene Kette mit in einander greifenden Gliedern, von denen jedes vollkommen ist, und an dem anderen hängt. Selbst wenn Menschen als sehr vorzüglich gelten, pflegt ihr Charakter nicht dieser Art zu sein.

So ist ein Mensch kühn, aber er ist nicht vorsichtig, und gerät deshalb leicht in Übereilung. Gerade seine Kühnheit, so sehr sie seine Stärke ausmacht, bringt ihn außerordentlich häufig in Verlegenheiten. Ein anderer ist gerecht; aber er ist kalt und strenge. Es fehlt ihm jene Zartheit, ohne welche es keine wahrhaft göttliche Gerechtigkeit gibt. Oder der Mensch ist lebhaft, - wahrscheinlich fehlt es ihm dann an Beständigkeit. Oder er ist ernst - aber er ist nicht barmherzig.

Er ist barmherzig, - dann ist er wahrscheinlich zugleich nachsichtig gegen allerlei Böses, und sieht nicht, dass Sünde eben Sünde ist. Er ist beständig, aber um dieser Eigenschaft willen ist er zugleich eigensinnig. Er ist vielleicht praktisch und tätig, dann ist er sicherlich nicht reich an Ideen. Ein anderer ist fruchtbar und weit angelegt in Bezug auf das Gedankenleben, - dann pflegt er äußerst unpraktisch und unbrauchbar zu sein, soweit er sich als Bürger dieser Welt zeigen soll. So müssen wir fortwährend von den Leuten sagen: „Wenn sie nur noch diese oder jene Eigenschaft hätten; wenn sie bei allen ihren sonstigen Vorzügen sich nur noch dies oder das geben könnten, wie gut würde es für sie sein!“ Die zärtlichsten Gattinnen müssen oft genug sagen: „Ach, mein Mann ist so vortrefflich, aber -!“ Ja, dies „Aber!“ Diese kleinen Wörtchen, welch eine Welt von Erfahrungen schließen sie in sich! Wie vielsagend sind sie doch!

Jeder Mensch ist einseitig. Hat er in einer oder zwei Eigenschaften seine Stärke, so pflegt diese Stärke gewöhnlich bald in Übertreibung umzuschlagen.

Diese Einseitigkeit findet sich aber nicht bloß in den inneren Anlagen und Eigenschaften, sondern auch in dem praktischen Verhalten im äußeren Leben. Es mag jemand sehr gut und weise sein in Bezug auf sein häusliches Leben, in Bezug auf seine Familie, aber es fragt sich, ob er diese Eigenschaften auch in Bezug auf das öffentliche Leben, dem er angehört, an den Tag legt. Ein anderer ist ein guter Bürger - aber er ist ein wenig hingebungsfähiger Freund. Ein dritter ist vortrefflich in Bezug auf das Geschäft, aber er hat wenig Gefühl usw. Ähnliche Einseitigkeiten lassen sich noch in Menge anführen. Der menschliche Charakter hat aber eine große Menge verschiedener Seiten; und zu seiner Vollkommenheit gehört eine gründliche harmonische, Durchbildung aller dieser Seiten, - wie selten findet sich aber dieselbe; selbst bei den am glücklichsten entwickelten Charakteren!

Erwägt nur diejenigen Beispiele für diese Wahrheit, welche Euch Eure eigene Beobachtung an Euren nächsten Freunden an die Hand gibt. Prüft die Personen Eures Umganges in Bezug auf diesen Punkt, betrachtet die Vorzüge der Besten und fragt Euch: Kenne ich Jemanden, an welchem ich auch nur fünf deutliche, hervorleuchtende, positive Tugenden oder ausgezeichnete Eigenschaften aufzählen kann? Fangt bei Euch selbst an, und wenn Eure Bescheidenheit Euch verhindert, Euch selbst in Betracht zu ziehen, Euer Nebenmann wird es sicherlich tun. Geht weiter zu dem Nächsten und wieder zum Nächsten, und so fort, rings herum im Kreise Eurer Bekanntschaft - nicht unter den Personen, welche einen Namen haben, und die Ihr Euch zu einer Art Ideal gestempelt habt, sondern unter den Personen, die Ihr wirklich genau kennt, und seht zu, wie viele Ihr finden könnt, welche mehr als einige wenige zerstreute Vorzüge besitzen. Und dann siebt auch diese durch, und seht zu, wie viel auch unter diesen noch Spreu ist, und wie viel Weizen. Stellt eine genaue sittliche Statistik in Eurer Umgebung auf ich meine unter den guten Menschen, nicht unter denen, welche gefallen sind. Prüft diejenigen unter den Mitlebenden, welche Ihr willig Eure Freunde nennt wie viele sind einseitig, sind fragmentarisch auch in ihren besten Eigenschaften!

Stellt Euch vor, die menschliche Seele wäre eine große Stadt, eine Handelsstadt wie New-York - und denkt Euch, dass jedes Seelenvermögen einen Geschäftszweig bedeute, und dass Ihr diese Seelenstadt besucht, um Einkäufe zu machen und von einem Seelenvermögen zum anderen ginget, um die Waren auszusuchen. Meint Ihr nicht, dass Ihr in jedem einzelnen Falle, bei jeder einzelnen Person immer nur sehr wenig Auswahl, sehr wenig Preiswürdiges finden würdet? Dass jeder in dem größten Teil der verschiedenen Geschäftszweige nur gar wenig Vorräte zum Verkauf bieten könnte? Wo findet Ihr eine Natur, zu der Ihr, wie zu einem gewaltigen Bazar gehen könntet, bei der Ihr finden würdet hier die kostbaren Juwelen des geistlichen Lebens, dort sittliche Empfindungen wie Gold und Edelstein, dort zarte Neigungen, dort die Gaben der Intelligenz? Wo ist eine Seele, welche eine solche Ausstellung alles Guten darbietet? Man findet sie wohl in der Poesie - aber ach! die Poesie ist ein Reich, welches nur die Füße der Engel betreten können. Man findet sie in Büchern, in Memoiren. Mancher will uns glauben machen, dass bei ihm alle starken Seiten der menschlichen Natur in wirklich harmonischer Weise entwickelt wären, und es ist leicht, wenn man Jemandes Leben nach seinem Tode beschreibt, von ihm alles Gute auszusagen, weil man ihn dann nicht mehr widerlegen kann. Aber es ist schwer, vollkommene Charaktere aus denen zu machen, die noch leben. So lange jemand am Leben ist, wie schwer ist's, ihn so anzusehen, wie er sich ausnimmt, wenn man seine Lebensbeschreibung in der Sonntagsbibliothek liest. So lange man ihn auf der Straße, oder im Laden sieht, wie wenig glaubt man, dass er so sei, wie er nach seinem Tode in einer frommen Lebensbeschreibung erscheint!

Wir bleiben also dabei, die Vorzüge der Besten gelten in den allermeisten Fällen nicht ihrer gesamten Natur, sondern stammen nur von einzelnen Eigenschaften her. Die Menschen sind einseitig.

Aber weiter. Wir sagten, bei der Gestaltung des Characters kommt nicht bloß die Vollzähligkeit, sondern auch die Beschaffenheit, die Qualität der einzelnen Eigenschaften in Betracht. Der Begriff Qualität ist uns geläufig im Geschäftsleben. Wir wenden ihn an in Bezug auf Stoffe, Baumaterial, Fabrikartikel, Handwerksprodukte usw. Ein Bild ist ein Bild, aber seine Qualität kann eine solche sein, dass es eine sehr tiefe Stufe einnimmt. Tuch ist Tuch, aber es kann seiner Qualität nach Lumpentuch sein. Dieser Begriff der Qualität spielt eine Rolle auch in Bezug auf die menschlichen Tugenden. Mancher hat seine Tugenden, aber es fragt sich von welcher Qualität sie sind. Auf die Qualität kommt es dabei sehr wesentlich an, und zwar muss die Qualität gewisse Kennzeichen haben. Als solche Kennzeichen mögen wir betrachten die Echtheit, Weite, Stetigkeit, Allgemeinheit, Fruchtbarkeit, Feinheit, Schönheit.

Nun lasst uns die einzelnen Tugenden, welche wir den Menschen zugestehen, darauf hin untersuchen. Wir sagten, die Menschen sind in Bezug auf ihre Tugenden einseitig - aber lasst uns das für einen Augenblick vergessen, und nur überhaupt die Eigenschaften ins Auge fassen, durch welche sich Menschen auszeichnen. Sind dieselben stark und weitgreifend? Machen sie einen Eindruck von Fülle, Kraft, Umfang? Manche haben Energie genug - man sehe nur die Energie eines Menschen, welcher von Ehrgeiz beseelt ist. Aber legt den rein sittlichen Maßstab an! Hat derselbe Mensch auch dieselbe Energie in sittlichen Dingen? Oder denken wir an das Geld und an all das, was das Geld bedeutet, - wie umfangreich tätig ist da der Mensch! Da fehlt es nicht an Kraft, an Gewandtheit, an Ausdauer - es ist bekannt, welche Steigerung aller Seelenkräfte die Habsucht mit sich bringt. Oder denken wir an andere niedere Triebe, z. B. an Rachsucht, an Zorn und Grimm, welch eine Energie wird da entwickelt! „Zürnt“ - das Wort befolgen die Leute gern, sie vergessen nur meist den Zusatz: „und sündiget nicht!“

Ziehen wir nun irgend eine sittliche Eigenschaft in Betracht wo findet man etwas Ähnliches an Energie, Tiefe, innerer Macht wie bei jenen Trieben? Wo findet man diese „Qualität“ in der Wohltätigkeit, im Edelsinn, in der Sanftmut, Demut, Geduld, Selbstverleugnung - in irgend einer der höheren Tugenden, welche zur sittlichen Natur des Menschen gehören?

Eine der am allgemeinsten anerkannten und geschätzten menschlichen Eigenschaften ist das Wohlwollen, in den verschiedenen Formen von Freigebigkeit und Edelmut. Aber ist das Wohlwollen der Menschen nicht meist mit einem Jagd-Feuerzeug zu vergleichen? Wenn der Jäger durch Regen oder Schnee die Wildnis durchstreift, so trägt er weder Licht noch Wärme mit sich herum; aber in seiner Tasche hat er die Zunderbüchse, und mit Hilfe von Stahl und Stein kann er Funken hervorlocken, die in den Zunder fallen, so dass er schließlich ein Feuer anzünden kann, um seine Mahlzeit sich zu bereiten. Ist der Geist des Wohlwollens nicht meist ein Ding, welches ebenso wie die Zunderbüchse des Jägers erst nach Anwendung von allerlei Mitteln mit Mühe und Not ein Feuer anzündet, das zu irgend einem praktischen Zwecke dienen kann? Wie viele Menschen gibt es, selbst unter den Besten, deren Wohlwollen so natürlich ist, so aus eigenem Antriebe entspringt, dass es wirklich überall leuchtet? Wo findet man Menschen, deren Wohlwollen so positiv, so stark und zart ist, dass es stets wirkt und Frucht bringt? Es gibt einzelne Beispiele der Art, aber sie sind so selten, dass man sie kanonisieren könnte. Wie fern sind die meisten Menschen, die man wohltätige Leute nennt, von jenen Kennzeichen, die einen christlichen Charakter ausmachen sollen! Darum gibt das Neue Testament so viele Mahnungen über die „Qualität“ der sittlichen Eigenschaften. Darum heißt es: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ Wir sollen gastfrei sein „ohne Murmeln.“ Aber wie viele Menschen, deren Wohltätigkeit gerühmt wird, geben doch nur „mit Murmeln“. Sie geben mürrisch, wenn sie geben, sei nun die Gabe Geld oder einflussreiche Verwendung, oder etwas anderes. Es muss ihnen abgelockt werden, wie der Funke dem Stein. Sie sind nicht fröhliche Geber. Wie wenig Menschen lassen ihre Wohltaten freundlich wie Blumen hervorsprießen. Wie wenige Menschen gibt es, welche Euch beim Geben nicht bloß ihre Wohltätigkeit, sondern auch die Schönheit und Lieblichkeit ihrer Wohltätigkeit bewundern lassen? Wie wenige von Euch haben schon einmal von einem Menschen, den sie um etwas zu bitten hatten, einen Eindruck mitgenommen, dass sie sagen mussten: „Das ist ein Fürst - eine fürstliche Natur!“ Wie viele fühlen sich, wenn sie erlangt haben, um was sie baten wie gedemütigt, und müssen sich sagen: „Er hat mein Gesuch allerdings angenommen, aber mit einer Art, dass ich ihn nie wieder um etwas bitten möchte.“ Das Nein mancher Menschen ist wohltuender, als das Ja von Anderen.

Wie tief sinken doch die Tugenden der Meisten, wenn man ihre „Qualität“ prüft! Wenn man darauf achtet, wie viel ihnen an Weitherzigkeit, Zartheit, Freundlichkeit, Beständigkeit, Schönheit fehlt! Wie wenig entsprechen sie dem königlichen Bilde, welches uns das Leben unseres geliebten Heilandes vorhält! Schaut an die Früchte des Geistes, die im 5. Kap. des Briefes an die Galater aufgeführt werden.

„Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude . .“

Keine einzige Eigenschaft eines wahren Christen, die nicht Liebe und Freude in sich trüge! Wie viel Seelenvermögen besitzen wir, welche wirken wie Musik; von Liebe, Freundlichkeit, innerem Schwunge getragen!

„Die Frucht des Geistes ist Liebe (das ist das Leben selbst auf seiner höchsten Stufe) Freude (das ist die innere Wirkung dieses Lebens) Friede Geduld -“

Friede? Ach, wohin ist er geschwunden! Wir wissen so wenig davon. Friede ist noch etwas Seligeres als Freude. Friede ist die Eigenschaft, die zurück bleibt, nachdem Liebe und Freude die Seele in Verzückung versetzt haben.

Und wie viele Menschen haben Geduld? Wie viele kennen auch nur ihre ersten Grundzüge? Manche kennen Geduld gegenüber ihren Kindern, aber sie kennen sie nicht gegenüber den Nachbarn, und am wenigsten denen gegenüber, welche ihrem Lebenskreis überhaupt fremd sind. Sie ist eine seltene Erscheinung. Sie hat weder Beständigkeit noch Allgemeinheit, noch Fruchtbarkeit, noch Zartheit, noch Schönheit.

Aber wir haben noch einen dritten Punkt zu erwägen, Die sittlichen Eigenschaften sollen endlich auch in Harmonie unter einander stehen. Das was den Menschen zum Menschen macht, ist die Vereinigung einer Menge von geistigen, göttlichen Elementen in ihm, die sich gegenseitig das Gleichgewicht halten, sich gegenseitig bedingen und bestimmen. Wenn wir den Charakter des Menschen in dieser Beziehung prüfen, so werden wir finden, dass er da noch ärmer ist als in den Beziehungen, die wir bereits besprochen haben. Die herrschenden Eigenschaften im Menschen haben meist wenig Gemeinschaft mit den begleitenden. Ich meine, das beste Kennzeichen für den Charakter eines Menschen liegt in denjenigen Eigenschaften, welche gleichsam im Geleite der in ihm vorherrschenden auftreten. In den Besten ist z. B. das Gewissen die herrschende Eigenschaft, aber - dasselbe ist gemeiniglich nur für die Hälfte seiner anderen Eigenschaften der Sauerteig, der sie durchdringt. Es ist damit so, wie mit der Frühlingssonne, welche den Schnee auf der Südseite des Hügels schmelzt, aber die Nordseite unberührt lässt, wo der Schnee noch lange liegen bleibt, während auf der anderen Seite schon die Veilchen blühen. Die herrschenden Eigenschaften herrschen meist nur in ihrer eigenen Sphäre, aber berühren die anderen Eigenschaften nur wenig. Wenige Menschen haben Gewissen auch in den Dingen, welche von den konventionellen Begriffen nicht berührt werden. Die meisten brauchen das Gewissen nur da, wo man sie gelehrt hat, es zu brauchen. Sie wenden es nicht an in jedem einzelnen Vermögen ihrer Seele, von der Wurzel bis zur Krone. Es ist in seiner Wirksamkeit, in seiner Verbindung mit den übrigen Kräften außerordentlich beschränkt.

Nehmen wir ein ähnliches Beispiel. Ich denke an den Sinn für das Ideale. Wie wenig tritt er aus seiner nächsten Sphäre heraus! Er soll ein sauerteigartiges Element für jedes Seelenvermögen sein. Die „Schönheit der Heiligkeit“ ist etwas, worauf Gottes Wort dringt. Wie wenig sehen wir von dieser Schönheit der Heiligkeit im wirklichen Christenleben! Wir wollen das Schöne pflegen aber wir kaufen es uns in unserer Kleidung, in unserem Hausgerät, in unseren Gemälden. Wir kaufen es von Architekten und Malern. Aber der Mensch selbst ist dazu bestimmt, schön zu sein. Es ist eine große Künstlerkraft in jedem Menschen, die in ihm wirken soll, so dass alle seine Worte den Stempel der Schönheit tragen, dass all sein unbewusstes Tun vom Geiste echter Schönheit geadelt sein soll; dass alle seine Tugenden der Reiz des Schönen schmücken soll. Aber wie selten finden wir einen Menschen, dessen Kräfte in solcher Harmonie unter einander stehen!

Blickt hin auf das Gefühl des Wohlwollens, welches mit jedem Teile des Seelenlebens in Verbindung stehen soll. Das Wohlwollen pflegt fast mit allen Kräften des Menschen auf einer Art Begrüßungsfuß zu stehen aber das ist alles. Es sollte dagegen in vertrautem Umgange mit denselben leben. Aber dies geschieht meist nur in Bezug auf eine oder zwei Stellen in seinem Geistesleben.

Wenn Ihr zu jemandem kommt, der in einer Stadt zehn oder zwölf Jahre gelebt hat, und fragt ihn, ob er seine Nachbarn kennen gelernt hat, so wird er in vielen Fällen antworten, dass er kaum einen derselben kennt. Er hat ihre Namen an den Türen gelesen, aber er ist nie bei ihnen eingetreten, er kennt sie nicht. Das allgemeine menschliche Wohlwollen ist in seinem eigenen Gemüte ebenso sehr ein Fremder, wie der Mensch selbst ein Fremder ist, in der Stadt in welcher er lebt. Er hat Wohlwollen genug in sich - aber es kommt nicht heraus. Es bleibt meist zu Hause und lernt die Nachbarn nicht kennen. Es wirkt nicht wie ein Sauerteig. Es herrscht zum Beispiel zwischen dem Gewissen und dem Wohlwollen viel Missverständnis; sie stehen in kalten Beziehungen zu einander. Wenn ein Mensch ein strenges Gewissen hat, wie selten findet man da, dass dies sein Gewissen mit seinem Wohlwollen in so vertrautem Verhältnis steht, dass man schwer zwischen beiden die Unterscheidung machen kann. Und doch gibt es kein wahrhaftiges und echtes Wohlwollen, ohne dass das Gewissen dabei beteiligt ist, und umgekehrt. In dem vollkommenen Menschen sind alle höheren Eigenschaften unter einander vereinigt und stehen in Harmonie; das Gefühl für Ehre, oder der Trieb nach Anerkennung geht Hand in Hand mit dem Gewissen, mit dem Wohlwollen, mit dem Schönheitsgefühl. Jede Kraft, jedes Vermögen zeigt die Spuren der Einwirkung von Seiten der anderen. In jedem besonderen Akte sollte sich etwas finden von jeder Kraft, die in dem ganzen Menschen lebt. Aber wie selten finden wir das auch bei den Besten! Wie die Finger einer Hand bei jedem Griffe sämtlich beteiligt sind; wie man nicht mit dem Daumen allein etwas fassen kann, ohne die anderen Finger zu bewegen, so ist's mit den Seelenkräften. Es liegt eine Macht in ihrer vereinigten Tätigkeit, welche der getrennten Tätigkeit einer einzelnen nicht eigen ist. Aber auf allen Straßen, die durch das Leben führen, finden sich stets nur Wenige, die das Geheimnis verstehen, ihre Seele in alles zu legen, was sie tun. Wenige gibt es, die als Geschäftsleute, als Künstler, als Gelehrte, als Redner, als Dichter die ganze Fülle der menschlichen Natur offenbaren. Sie zeigen eine oder zwei Eigenschaften, weil ihre Kräfte daran gewöhnt sind, vereinzelt zu wirken, und die Harmonie des Ganzen unbekannt ist.

Ja, das geht so weit, dass wenn die Menschen wirklich einmal bei Jemandem ein vereinigtes Wirken aller Kräfte, oder auch nur einen schwachen Anlauf dazu sehen, so berührt sie das, was in Wahrheit auf Harmonie zielt, wie eine Disharmonie. Es muss erst jeder Instinkt eines Menschen wachgerufen werden, ehe er über allgemeine Wahrheiten so mit Euch reden kann, dass die Wahrheit wirklich für alle Seelenkräfte Gestalt gewinnt, dass sie sowohl für die niederen Triebe, wie die sozialen Kräfte, die Verstandskräfte und die sittlichen Empfindungen vorhanden ist. Wenn alle diese Elemente vereinigt auftreten, wie wenige Menschen erkennen dann, dass darin die Religion wahrhaftig zur Erscheinung kommt. Sie haben sich so daran gewöhnt, in der Religion mur zwei oder drei spezielle Seelenkräfte wirken zu sehen, dass sie zurückprallen, wenn sie einmal sehen, wie die ganze Seele eines Menschen daran Teil nimmt, und darin ihre Kraft äußert - ja man hat da oft das Gefühl, als sei das nicht Heilig genug. Wie man die Religion gewöhnlich auffasst, ist sie ein gar armes, lahmes, dürftiges Ding.

Aber ich will diese Erörterung nicht weiter fortsetzen. Wenn es wahr ist, dass auch die Besten eine Prüfung ihrer guten Eigenschaften weder in Bezug auf Vollzähligkeit, noch auf Beschaffenheit, noch auf Harmonie aushalten - wer kann sagen: „Ich bin gut?“ Wer kann umhin, mit den Worten unseres Textes, zu sagen: „Wenn wir getan haben, was wir konnten, so sind wir unnütze Knechte!“

Ich bemerke dazu folgendes.

Erstens. Es herrscht eine merkwürdige Unwissenheit unter den Menschen in Bezug auf diese Wahrheiten. Selbst bei den Besten, welche ihre Schwachheit und Sündhaftigkeit wohl fühlen, ist die Einsicht in diese Wahrheit doch nur oberflächlich. Die Menschen wissen wohl etwas davon; aber ich meine, es gibt sehr Wenige, welche, selbst von einem nur menschlichen Standpunkt aus betrachtet (ich will nicht sagen vom Standpunkt der Erleuchtung durch das Wort Gottes) von dem Standpunkt natürlicher Erkenntnis aus angesehen, eine irgend wie genügende Vorstellung von ihrer Schwäche und Armut haben. Ihre Vorstellung von dem sittlichen Character der Menschen ist eine zu niedrige. Wenn dies aber von den Besten gilt, was wird von den Schlechten zu sagen sein?

Die Überzeugung von der menschlichen Sündhaftigkeit ist nichts Widernatürliches. Manche meinen, dass diese Überzeugung etwas Erkünsteltes, Erzwungenes sei. Sie halten es für das Resultat von Überreizung. Aber wenn der Gang unserer heutigen Betrachtung richtig gewesen, dann ist nichts natürlicher, als dass der Mensch, wenn er sich selbst prüft, zu einem solchen Gefühl der Mangelhaftigkeit in seinen guten Eigenschaften, und zu einer solchen Erkenntnis der positiven Gebrechen in jeder anderen Beziehung kommt, dass er von seiner Armut und Niedrigkeit sich aufs lebhafteste überzeugt. Hat ein Mensch aber diese Überzeugung gewonnen, wie natürlich ist es dann, dass er sich gering schätzt, vor sich selbst Abneigung empfindet, und in Staub und Asche sich bußfertig demütigt.

Die Mahnungen des Evangeliums zur Selbst-Demütigung werden gewissermaßen wissenschaftlich gerechtfertigt, wenn man irgend einen Menschen im Lichte der so eben erörterten Wahrheit ins Auge fasst. Ich kann nicht umhin zu sagen, dass die Tendenz des wissenschaftlichen Denkens unserer Tage sich in dieser Beziehung direkt von dem, was es sein sollte, abgewandt hat, dass diejenigen, welche den wissenschaftlichen Erkenntnissen in den natürlichen Dingen nachgehen, dem Wissen über das Seelenleben sich viel zu sehr abgewandt, und lediglich dem Wissen von den sinnlichen Dingen zugewandt haben. Sie legen allen Nachdruck auf das reine Wissen, auf die Intelligenz (es ist dies die Einseitigkeit der alten Griechen) - und vergessen das Reich des sittlichen Lebens. Mit dem Fortschritt des Wissens hat sich zugleich mehr Selbstbewusstsein, mehr Selbstzufriedenheit eingestellt; man weiß nichts von Selbsterniedrigung. Darin aber liegt unter dem Schein von Kraft eine große Schwäche.

Zweitens. Wenn die Gesichtspunkte, die ich dargelegt habe, die richtigen sind, so ist zugleich klar, dass der Begriff von Vollkommenheit, wie er von manchen Seiten aufgestellt wird, höchst verkehrt ist. Man nimmt im Allgemeinen an, dass ein Mensch vollkommen ist, wenn er das Gesetz des Herrn hält, d. h. wenn er es nicht vergisst. Wenn der Wille eines Menschen sich vollkommen dem göttlichen Gesetze unterordnet, so meint man, darin liege die menschliche Vollkommenheit. Aber wie seicht ist diese Auffassung! Als ob jemand dann schon das erreicht hätte, was unter den Ausdrücken: „Fülle der Kraft, Reichtum der Seele, Harmonie der menschlichen Natur,“ zu verstehen ist - oder als ob irgend jemand vollkommen genannt werden könnte, der dies nicht erreicht hat!

Ist ein Apfel vollkommen, weil kein Wurm in ihm ist? Er kann dabei klein, sauer, halbreif, ungenießbar sein, ohne doch einen positiven Fehler dabei zu haben.

Es kann jemand frei von offenbaren Sünden sein, er kann soviel Gewissen besitzen, um sich dem äußeren Gesetze willig zu unterwerfen, aber wo ist ein Mensch, der im Hinblick auf das göttliche Gesetz, welches in seinem Innern, in seinen ganzen Naturanlagen eingeschrieben ist, sich anmaßen dürfte zu sagen: „Ich bin vollkommen?“ Das ist völlig unverträglich mit dem Grundgesetz des Lebens und seiner Entwicklung. Dennoch täuschen die Menschen mit solchen Anmaßungen sich selbst. Niemand ist vollkommen, niemand wird jemals vollkommen sein in dem Sinne, in welchem wir das Wort Vollkommenheit zu brauchen haben.

Drittens. Wir verstehen nun, weshalb alles Heil auch für die Besten und Edelsten nur auf der Gnade ruht. Wir verstehen, woher es kommt, dass Niemand vor Gott und vor die himmlischen Heerscharen treten und irgend etwas beanspruchen kann. Es kommt daher, weil es Niemanden gibt, dem es nicht in jeder einzelnen Beziehung hundertfach fehlte. Wenn wir auf Charakter und Lebensführung eines Menschen den Prüfstein anwenden, den wir heut kennen gelernt, so kann kein Mensch nach irgend einer Richtung zu Gott sprechen: Ich habe meine Pflicht erfüllt, ich habe die Grenzen dessen, was für mich möglich war, erreicht. Wir sind voller Mängel. in jeder Beziehung. Einen Teil unserer Schwächen mögen wir Mängel nennen; aber einen anderen müssen wir Sünde nennen, weil unser Wille dabei beteiligt ist. Auch die Besten müssen bekennen, nicht das was wir Gutes an uns haben, sondern der Reichtum der Güte Gottes verbürgt uns unsers Heil. Gnade ist alles göttliche Wirken uns gegenüber; es ist das Wirken eines Wesens, welches lediglich aus Antrieben der Güte, sich zu solchen Wesen herablässt, welche tief unter ihm stehen.

Aus diesem lebendigen Gefühl unseres Mangels, unserer Schwachheit, unserer Verdammlichkeit muss in jedem wahrhaften Christenherzen ein unendliches Streben entspringen. In gewissem Sinne sollen wir allerdings uns bescheiden und zufrieden sein. Wir sollen zufrieden sein mit dem, was Gottes Vorsehung uns zuteilt. Wir sollen zufrieden sein mit jedem Tage, als einem Stadium unseres Daseins; aber Zufriedenheit mit uns selbst, mit unseren sittlichen Errungenschaften ist ein Verbrechen. Kein Mensch darf sich dieser Errungenschaften in der Art bewusst sein, dass er auch nur eine Stunde ausruhen dürfte. Streben ist unabtrennlich von unserem christlichen Leben.

Ferner. Deshalb gilt es für jedes menschliche Wesen, welches einen Willen hat, dass es sich Jesum Christum als den allein Vollkommnen aneigene. Wir bedürfen unser ganzes Leben hindurch unsers großen Helfers. Gegenüber jeder Schwäche in uns müssen wir fühlen, dass Einer in unserem Geschlechte ist, welcher für unsere Schwäche aufkommt. Gegenüber jedem Mangel müssen wir das Bewusstsein in uns wach halten, dass Einer da ist, welcher diesen Mangel füllen kann. Dieser Eine ist Christus. Er ist nicht bloß der Erlöser der Menschen, sondern er hat sich mit der Menschheit so innig verbunden, dass jeder, wie er ist, ihn in sich aufnehmen und sagen kann: „Was ich nicht in mir habe, siehe das ist hier in meinem Bruder, meinem Freunde, meinem Erlöser. Ich bin eins mit ihm. Seine Vollkommenheit steht ein für meine Mängel und Unvollkommenheiten. Gottes Gnade ist es, die mich zu dem macht, was ich bin.“ Diese innere Erfahrung zu beschreiben, ist freilich schwer, ja unmöglich, aber jeder wahre Christ weiß es ohne Beschreibung, dass zwischen uns und Christus eine solche Verbindung besteht, durch welche alles was sein ist, unser wird. Es findet dabei keine Übertragung sittlicher Eigenschaften statt, aber wir haben das Bewusstsein, dass wir in Ihm alle die höheren Elemente finden, an denen es uns so mangelt, und die wir zur Entwicklung unseres eigenen sittlichen Wesens bedürfen.

Endlich. Aus diesem Bewusstsein unserer Unvollkommenheit entsteht nicht Sorge und Angst, sondern Freude. Paulus freute sich, dass wenn er sich leer fühlte, Gottes Kraft ihn füllte. Bringt einen Stein zu einer Quelle, wenn er nicht ausgehöhlt ist, fasst er kein Wasser. Höhlt ihn aus, und er wird zum Gefäße, welches das Geschenk der Quelle in sich aufnimmt. Wenn wir zu Gott kommen, so ist unsere Leerheit unser Heil, unser Mangel ist unser Glück. Wie der, welcher zum Ärzte kommt, sich an ihn hält um seiner Krankheit, seines Schadens, seiner Verlegung willen, so können wir, wenn wir zu Gott kommen, mit dem göttlichen Wesen nur in Verbindung treten vermöge unseres Mangels, nicht vermöge unserer Übereinstimmung mit ihm. Wenn wir schwach sind, sind wir stark, wenn leer, werden wir gefüllt, wenn sündig, werden wir gerecht durch seine Gerechtigkeit. Dies Leben ist nur ein Teil unseres Daseins, aber es tut sich in demselben ein weiter Ausblick auf für jeden von uns. Je mehr wir unserer Schwäche uns bewusst werden, desto mehr wächst in uns die Ahnung von dem Lande, in welchem unser sittliches Wesen vervollkommnet und zurecht gebracht wird, in welchem Gottes Hand in uns entwickelt und zur Reife bringt, was hier nur angelegt erscheint. So werden wir fähig, von der himmlischen Vollendung etwas zu verstehen. Und je treuer der Mensch sich mit den Dingen, die seine sittliche Natur angehen, beschäftigt, desto lebendiger wird in ihm das Verständnis für den Himmel. Diejenigen, welche in den niederen, irdischen Dingen leben, haben nur eine schwache Vorstellung von der himmlischen Ruhe; aber die, welche nach sittlicher Vollendung hier auf Erden trachten, fühlen und begreifen, was es sei um jene Ruhe, die vorhanden ist für das Volk Gottes.

Brüder, habt Ihr Euch gedemütigt, wenn Ihr bedachtet, was Ihr seid? Habt Ihr ein Gefühl davon, wie arm, wie unvollkommen es mit Euch steht, wie lückenhaft Eure sittliche Bildung ist, auf wie niedrigem Standpunkt Ihr in vieler Beziehung Euch befindet? Wenn Ihr seht, wie wenig innere Harmonie in Euch ist, wie wenig Kraft, wie wenig von dem, was einen vollkommnen Menschen ausmacht - demütigt Ihr Euch? Legt Ihr die Hand auf den Mund, und legt Ihr Euren Mund in den Staub, und sprecht Ihr alle Tage: „Gott, sei mir Sünder gnädig?“ Oder gürtet Ihr das Gewand Eurer Tugenden um Euch und sprecht: „Ich bin nicht blind, - ich sehe; ich bin nicht hungrig, - ich bin satt; ich bin nicht nackt, ich bin bekleidet mit einem Königsgewande?“ Wehe den Sterblichen, welche meinen, sie bedürfen Nichts! Selig aber die geistlich Armen! Wenn wir wissen, wie arm und dürftig wir sind, dann ist das Heil uns nahe. Wenn Gott strafen wollte, und strafende Gerechtigkeit sein Zepter wäre, dann müssten wir alle, jeder Einzelne von uns, hinausgestoßen werden als Solche, die sich im Widerspruch befinden mit der göttlichen Natur. Aber Gott sei gepriesen, er handelt mit uns als ein Vater! Er vergibt, er schont, er hilft, er will retten. Wir, die wir der Gegenstand seiner ununterbrochenen Barmherzigkeit sind, wie wenig Ursache haben wir deshalb zu stolzer Überhebung und Selbstzufriedenheit! Wie wenig stimmen diese Eigenschaften mit unserem wirklichen Zustande!

Lasst uns beugen unser Haupt, und lasst uns täglich uns spornen zu besserer Vollbringung unserer erkannten Pflichten, und zu reicherer Entfaltung unseres Wesens in der Straft des göttlichen Geistes! Lasst uns täglich sprechen: „Ich habe nur getan, was ich verstand, und auch das nur in unvollkommenster Weise; ich bin ein unnützer Knecht.“