Am 3. Sonntage nach Trinitatis.
Unser Herr Jesus Christus spricht Joh. 10. 14-16): „Ich bin ein guter Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater, und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle. Und dieselbigen muß ich herführen und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden.“ - Amen.
Geliebte in dem Herrn! Die neuere Zeit, in welcher wir leben, ist recht eigentlich eine Zeit der Feste geworden. Fast kein Tag vergeht, ohne eine Einladung zu einem neuen großen Feste zu bringen: Musikfeste und Schützenfeste werden gefeiert und Feste der Erinnerung an die großen Männer und Tage der Vorzeit, nicht zu gedenken der Feste, welche täglich dem berechtigten Bedürfnisse nach Erholung nicht allein, sondern auch einer sündigen Genußsucht bereitet werden und deren Ankündigungen zumal am Sonnabend die öffentlichen Blätter füllen, als eine traurige Vorbereitung auf den Tag des Herrn, auf das Fest, welches Gott für seine Gemeinde gestiftet hat. Es ist in der That, als ob die Menschen in diese Feste sich hineinflüchteten, um in deren Jubel und Taumel die in so mancher Beziehung trostlose Wirklichkeit und die Armseligkeit und quälende Nichtigkeit ihres täglichen Lebens auf eine Weile zu vergessen. Und darum ist es gut, daß doch auch die Kirche ihre Feste noch feiert, deren Festesfreude mit dem Ernst des Lebens nicht im Widerspruche steht, sondern in der Freude und in dem Frieden im heiligen Geiste uns die Macht gibt, die Noth und den Kampf des Lebens siegreich zu bestehen. Diese Feste gelten der großen Thatsache unserer Erlösung und Versöhnung mit Gott, welche nicht bloß vergangene Ereignisse sind, sondern bis heute und in alle Ewigkeit fortwirken mit ihrer heilsamen Kraft. Ist auch die festliche Zeit des Kirchenjahres jetzt wieder vorüber, welche die gnadenreichen Thatsachen der Geburt, des Todes und der Auferstehung des Erlösers feiert, so beruft doch der Sonntag allwöchentlich die Gemeinde zu festlicher Versammlung, um sie nicht allein zu erheben über die Noth und Angst des Irdischen, sondern um uns auch für unser irdisches Leben mit der rechten Lebenskraft auszurüsten. Und dazwischen fehlt es auch nicht an der Feier besonderer denkwürdiger und segensreicher Ereignisse. So hätten wir, meine lieben evangelischen Brüder und Schwestern, heute vor acht Tagen, am 25. Juni, den Tag feiern können, an welchem vor 335 Jahren durch die Verkündigung des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses vor Kaiser und Reich der evangelischen Kirche eine feste rechtliche Grundlage gegeben worden ist. Auf dieser Grundlage ist sie seither unter Gottes mächtigem Beistande gewachsen. Sie hat nicht allein einen großen Theil der römischen Gesetzeskirche der Freiheit des lauteren Evangeliums wieder gewonnen, sondern sie hat die Sendboten des Evangeliums auch über die Grenzen der äußeren Herrschaft des Christenthums hinaus zu den Heiden gesandt, um auch dort das Verlorene zu suchen. An diese letztere Thätigkeit wird in diesen Tagen ein schönes und, so Gott will, auch gesegnetes Fest erinnern, welches zwar weit von hier gefeiert wird, doch aber auch gerade zu unserer Stadt in einer näheren Beziehung steht. Am 5. und 6. Juli gedenkt die evangelische Missionsgesellschaft zu Basel das Fest ihres fünfzigjährigen Bestehens zu feiern. Es hat diese Anstalt den evangelischen Christen deutscher Zeuge zuerst die Verpflichtung nachdrücklicher zum Bewußtsein gebracht, den Segen des Evangeliums, dessen sie sich erfreuen, auch denjenigen zuzuwenden, welchen er bis jetzt noch verschlossen geblieben ist. Auch in Hamburg hat sie früher eine Töchteranstalt besessen, welche dann von hier nach Bremen übergegangen ist. Ich weiß wohl, meine geliebten Freunde, daß viele sonst rechtschaffene Christen doch für das Werk der Heidenmission kein rechtes Herz fassen können. Ich könnte diesen sagen, daß von der einzigen Anstalt zu Basel seit der kurzen Zeit ihres Bestehens Tausende von Seelen dem Herrn sind gewonnen worden, für dessen liebreiches und treues Hirtenherz doch eine einzige Menschenseele schon so großen Werth hat. Aber wenn ich das auch nicht sagen könnte: über den ausdrücklichen Befehl unseres Herrn: „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker!“ kommen wir doch nicht hinweg. Und gewiß, wer nur erst selbst in dem Glauben an Christum den Grund seines Heiles wirklich gefunden hat, der muß es ja nicht lassen können, das Heil, welches ihm selbst wiederfahren ist, auch Andern zu verkündigen. Unser heutiger Text nun zeigt uns, wie Jesus selbst die verlorenen Sünder so liebevoll, so eifrig und treulich sucht, und wie herzlich er sich freuet, wenn er einen gefunden hat. Möge uns das ein kräftiger Antrieb werden, daß wir vor allen Dingen auch uns selbst von ihm finden lassen, und daß wir dann nach seinem Gebot und mit seinem Beistande auch dem herrlichen Ziele nachtrachten, welches seine Verheißung uns vorhält: „Es wird Eine Herde sein und Ein Hirte!“
Lied: 132, 4.
Ich lag in schweren Banden;
Du kommst und machst mich los.
Ich stand in Schmach und Schanden;
Du kommst und machst mich groß,
Und hebst mich hoch zu Ehren,
Schenkst große Güter mir,
Die nimmer sich verzehren,
Und bleiben für und für.
Text: Luc. 15, 1-10.
Es naheten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn höreten. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murreten, und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an, und isset mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichniß, und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste, und hingehe nach dem verlornen, bis daß er es finde? Und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heim kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn, und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über Einen Sünder, der Buße thut, vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Oder, welches Weib iß, die zehn Groschen hat, so sie deren Einen verlieret, die nicht ein Licht anzünde, und kehre das Haus, und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen, und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte. Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über Einen Sünder, der Buße thut.
Die Worte: „Dieser nimmt die Sünder an!“ sollten im Sinne der Pharisäer und Schriftgelehrten, welche sie aussprachen, die schwerste Anklage gegen Jesum enthalten. In ihrer hochmüthigen Selbstgerechtigkeit mußte es ihnen als unmöglich erscheinen, daß ein Mensch, welcher sich mit Zöllnern und Sündern abgab, der erwartete Erlöser sein könne. Aber wie der Tod Christi sein Sieg geworden ist, der Schandpfahl des Kreuzes ein Sieges- und Ehrenzeichen, wie der, welchen die Inschrift auf seinem Kreuze höhnend den König der Juden nannte, in Wahrheit der König über alle Welt geworden ist, so ist es ähnlich auch mit jenen Worten ergangen. Die Anklage: „Jesus nimmt die Sünder an“ ist für den Herrn selbst ein Wort des höchsten Ruhmes, für seine Bekenner ein Wort des süßesten Trostes geworden. In diesem Sinne wollen wir uns denn jetzt erbauen, indem wir das Wort: „Jesus nimmt die Sünder an“ in andächtigem Herzen bewegen, und nach Anleitung unseres Textes zuerst betrachten, wie eifrig und treulich Jesus die Sünder sucht, dann zweitens, wie herzlich er sich freut, wenn er sie gefunden hat, aber endlich drittens auch, wie wir uns von ihm müssen finden lassen.
Auf die Anklage der Pharisäer, daß er die Sünder annehme, antwortet der Herr in den beiden gleichbedeutenden Gleichnissen vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, und so er der eines verlieret, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er es finde? Oder welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie der einen verlieret, die nicht ein Licht anzünde, kehre das Haus und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde?“ Und eben damit, meine geliebten Freunde, weist er uns darauf hin, wie eifrig und treulich er selbst die Sünder sucht. -
Wir suchen aber nur das mit Eifer, was einen gewissen Werth hat. Haben wir eine völlig werthlose Sache verloren, so werden wir uns die Mühe nicht nehmen, viel nach ihr zu suchen. Was aber unser Herr und Heiland sucht, das ist die unsterbliche Seele seiner Brüder. Und die ist das Allerwerthvollste, was es nur auf Erden gibt. Sie ist gerade darum so werthvoll, weil sie nicht diesem vergänglichen Erdenleben allein angehört, sondern weil sie Geist ist von dem Geiste des ewigen Gottes, und weil sie uns mit Gott und mit dem ewigen Leben in Verbindung erhalten soll. Mögen wir alle Güter dieser Erde besitzen, Kraft und Gesundheit, Reichthum und Ehre: es hilft uns Alles nichts, wenn wir unsere Seele verlieren; denn wir haben dann unseren wahren Reichthum, unser höchstes Gut, ja wir haben unser wahres Selbst verloren. Darum spricht Christus (Matth. 16. 26): „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne, und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse?“ Und wiederum spricht er (Matth. 10, 28): „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten und die Seele nicht mögen tödten. Fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben mag in die Hölle.“ Wenn du alle Güter dieses Lebens, ja wenn du das Leben selbst verlierst; du kannst dich trösten darüber, du hast eigentlich nichts verloren, sobald du nur deine Seele errettest hast und mit ihr die Verbindung mit deinem Gott und mit dem ewigen Leben, Und die Seelen seiner Kinder hat nun der Vater im Himmel so werth gehalten, daß er seinen eingeborenen Sohn gegeben hat, um sie zu suchen. Der eingeborene Sohn Gottes hat die Seelen seiner Brüder so werth gehalten, daß er, um sie zu erlösen, alle Leiden dieses Lebens und den bitteren Kreuzestod auf sich genommen hat. Und der heilige Geist hält unser aller Seelen fortwährend so werth, daß er nicht abläßt, sie zu berufen, zu mahnen, zu strafen und zu züchtigen, um sie zu sammeln aus der Irre dieser Welt und sie zurückzuführen unter die Hut ihres Vaters im Himmel und seines guten Hirten. O, meine geliebten Freunde, was ist das doch für ein tröstlicher Gedanke, daß unser Gott und unser Erlöser so treu und so eifrig uns suchen! Es mag dir bange werden, weil du dich selbst nicht zurecht finden kannst in dem Irrsal dieses Lebens; aber sei getrost: das Auge eines Höheren wacht über dich, er sucht dich und läßt dich nicht aus dem Auge. Du magst verzagen, weil die elterliche Mahnung den Weg nicht finden kann zu dem Herzen des Kindes, an welchem deine Seele hängt; aber sei getrost, du zagendes Vater und Mutterherz, der Vater im Himmel hilft dir seine Seele suchen, er wird sie auch zu finden wissen. Und was .wäre der Beruf von uns Predigern für ein trostloser Beruf, die wir ja bei so Manchem nur tauben Ohren predigen, wenn wir nicht auf den Beistand des Herrn vertrauen dürften, welcher durch unser schwaches Wort mit seiner heiligen und gewaltigen Gottes kraft eure Seelen selber sucht! -
Ich habe vorhin gesagt, daß wir dasjenige suchen, was werthvoll ist. Ich setze jetzt hinzu: man sucht es mit doppeltem Eifer, wenn es unser rechtmäßiges Eigenthum ist, das wir nur verloren haben. Auch wir sind das Eigenthum des Herrn, und weil, wir sein Eigenthum sind, darum sucht er uns so eifrig und treulich. Der heilige Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen und den lebendigen Odem seines Geistes ihm eingehaucht, damit wir das Volk seines Eigenthums sein sollen, sein Volk, wie er unser Gott ist. Und freilich müssen wir ja sein Eigenthum insofern bleiben, als nichts in der Welt der gewaltigen Hand seiner Allmacht sich entziehen kann. Aber nicht bloß in diesem äußerlichen, sondern auch in einem innerlichen Sinne sollen wir unseres Gottes Eigenthum sein, indem wir ihm dienen im Gehorsam gegen seinen heiligen Willen. Und aus diesem Dienste sind wir durch die List und Gewalt des Bösen herausgerissen worden. Darum hat Gott seinen Sohn gesandt und seine Kinder ihm übergeben, damit er die Abgefallenen wieder zum wahren Volke seines Eigenthums mache. Durch seine Lehren hat Jesus Christus in den Seelen seiner Brüder das erloschene Bewußtsein ihrer Bestimmung wieder angefacht, daß sie zu Gott kommen und in Gott bleiben müssen, wie sie von Gott ausgegangen sind. Er ist ein guter Hirte gewesen, er hat sein Leben gelassen für seine Schafe, und durch sein Leiden und seinen Tod hat er uns sich zum Eigenthum erkauft. In dem heiligen Taufbunde hat er uns als sein Eigenthum besiegelt, und es ist ein erhebender Gedanke für das gläubige Christenherz, daß wir das Eigenthum unseres Gottes und unseres Erlösers sind, daß er darum nicht aufhört, in treuem Eifer uns zu suchen, und uns nicht loslassen will, daß wir, wie sehr wir auch von der Unreinheit der Sünde entstellt sein mögen, doch, gleich der verlorenen Münze, das Bild unseres Herrn und das Siegel seines Eigenthums noch an uns tragen, so daß durch alle Noth dieses Lebens hindurch das theuer erkaufte Volk seines Eigenthums die Stimme seiner Verheißung vernimmt (Joh. 10, 28.29): „Ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. Der Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer, denn Alles; und Niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen.“ -
Aber wie werth der Herr uns auch als sein Eigenthum hält, zu suchen brauchte er uns doch nicht, wenn wir nicht eben verloren wären, so verloren, daß das Licht unserer eigenen Einsicht nicht ausreicht, um uns den Weg, der uns aus der Irre herausführt, zu zeigen, noch die Kraft unseres natürlichen Willens, um uns auf dem rechten Wege zu erhalten und zu fördern. Darum hat er uns gesucht, um mit dem Lichte seiner göttlichen Wahrheit in die Finsterniß unseres Herzens hineinzuleuchten und unser Auge für das uns vorgesteckte Ziel und für den Weg, welcher dahin führt, wieder aufzuschließen. Er ist uns nachgegangen bis in das Dornengestrüppe der Versuchungen dieser argen Welt hinein, in welches die böse Lust unseres Herzens uns verstrickt hat, um uns daraus zu erretten und uns auf den Weg des Heiles zurückzuführen. Er hat bis auf den Tod den Kampf mit dem bösen Feinde, welcher uns in seine Bande geschlagen hatte, bestanden, hat ihm den Sieg entrissen und uns von seiner verderblichen Herrschaft befreit. Durch dieses Alles hat er den Weg des Heiles uns wieder eröffnet, und es gibt keinen andern Weg des Heiles, als den, welchen Er uns eröffnet hat. Wo wir auch sonst hingehn und suchen mögen, wir finden das Heil und den Frieden für unsere Seele nirgends, als auf dem Wege und an der Hand des guten Hirten, welcher uns so eifrig und treulich gesucht hat.
Und weil er so eifrig und treulich sucht, so freuet er sich auch herzlich, wenn er gefunden hat, gleich dem Manne im Gleichnisse, welcher sein verlorenes Schaf wieder fand, und von welchem der Herr sagt: „Und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heim kommt, rufet er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war!“ -
Seine ganze Seele hängt an seinen verirrten Brüdern. Wie der Mann im Gleichnisse was er besitzet verläßt und hingeht nach dem Verlorenen, bis daß er es finde; so hat der Sohn Gottes die Herrlichkeit bei seinem Vater und in der Gemeinschaft mit den reinen Geistern des Himmels verlassen, um die Verlorenen zu suchen. Den ganzen Jammer ihres Irrsals hat seine mitfühlende Liebe mit durchgemacht. Seine eignen Leiden und Schmerzen haben ihn nicht betrübt; nur das Elend seiner in der Wüste des Aberglaubens und der Sünde verirrten Brüder ist ihm tief durch die Seele gegangen. Und er hat es schmerzlicher empfunden, als diese selbst; ja er hat es gerade darum so schmerzlich empfunden, weil sie selbst es nicht empfanden, wie ja auch treue Eltern von dem Ungehorsam und dem Sündenleben ihrer Kinder schmerzlicher bewegt werden, als diese selbst, bevor ihnen die Augen aufgegangen sind und sie das Verderben erkannt haben, welchem sie verfallen sind. Abgesehen von den Thränen, welche Jesus am Grabe seines lieben Lazarus geweint hat, wird in dem ganzen neuen Testamente nur noch einmal erzählt, daß der Herr geweint habe. Und diese Thränen galten den verirrten Brüdern, welche auf die Stimme des guten Hirten nicht haben hören wollen und von ihm, da er sie suchte, sich nicht haben wollen finden lassen. Als er kurz vor seinem Ende gen Jerusalem kam (Luc. 19, 41 ff.), da sahe er die Stadt an, die gegen seinen rettenden Ruf sich verstockte, und weinte über sie und sprach: „Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit was zu deinem Frieden dient; aber nun ist es vor deinen Augen verborgen.“ Aber um so größer ist darum auch die Freude des guten, liebreichen und treuen Hirten, wenn seine suchende Liebe wirklich gefunden hat, wenn eine verlorene Seele auf seine Stimme hört und willig sich von ihm finden läßt. - Und diese Freude ist keine müßige Freude, in welcher er etwa die gefundene und errettete Seele gleich wieder sich selbst überließe. Er sagt von dem Manne in unserem Gleichnisse: „Und wenn er es gefunden hat, so leget er es auf seine Achseln mit Freuden,“ und das, meine lieben Brüder und Schwestern, das gilt auch von unserm guten Hirten selbst. Er begnügt sich nicht damit, seinen rettenden Ruf uns vernehmen zu lassen, uns loszuwinden aus dem Dornengeflechte der Sünde, in das wir hineingerathen sind, uns das Ziel zu zeigen, auf welches wir loszugehen haben, und uns auf den Weg zu stellen, welcher zu diesem Ziele führt, sondern er hält und leitet uns auch weiter mit seiner treuen Hirtenhand, er trägt uns auch auf seinen treuen Hirtenarmen. Und ach, es stände schlimm um uns, meine Lieben, wenn er das nicht thäte!
Denn wir sind ja fortwährend umgeben von der Wüste eines gottentfremdeten Weltlebens, in welcher zwar der äußerliche Mensch Nahrung für seine Begierde findet, der inwendige Mensch aber verkommen und verschmachten muß, und in welche doch unsere Trägheit und unsere böse Lust uns immer und immer wieder hineinlockt. Und damit wir nun dem alten Verderben nicht aufs neue verfallen, und es dann, nachdem wir einmal geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, nicht schlimmer mit uns werde, denn zuvor, läßt der gute Hirte nicht ab. in seinem heiligen Worte uns seine Stimme vernehmen zu lassen. Er lädt im Sacramente des Altares auch uns Sünder zu seinem Tische, um durch sein heiliges Mahl die Kraft des neuen Lebens in uns zu stärken. Er hört nicht auf. durch die berufende, belehrende, strafende, bekehrende und heiligende Kraft seines Geistes zu unserem Herzen zu sprechen, damit seine Freude an uns nicht zu Nichte, sondern vollkommen werde. -
Und wenn denn so durch die treue Gnadenhülfe des Herrn das Herz fest geworden ist in dem neuen Leben der Gemeinschaft mit seinem Gott und mit seinem Erlöser, sehet, Geliebte, dann erfüllt sich die Verheißung Christi in unserem Texte: Es wird Freude im Himmel und vor den Engeln Gottes sein über einen Sünder, der Buße thut. Dann ist der heilige Liebeszweck, zu welchem Gott nach seinem ewigen Gnadenrathe seinen Sohn in die Welt gesandt und in den Tod gegeben hat, wieder an einer unsterblichen Seele erfüllt, und sie ist wieder aufgenommen in das wahre Volk seines Eigenthums. Dann ist Freude im Himmel, denn ein verirrtes Kind kehrt an der Hand des eingeborenen Sohnes in das Vaterhaus wieder zurück. Dann ist wieder ein Platz mehr besetzt bei dem großen Abendmahl, zu welchem der himmlische Hausvater, der es uns bereitet hat, seine Kinder so freundlich nöthigt, doch hereinzukommen, und bei welchem er sein Haus so gerne recht voll sehen möchte.
Und wenn nun, meine lieben Freunde, der allmächtige Gott und sein eingeborener Sohn, unser Herr und Heiland Jesus Christus, uns so werth halten, daß sie Nichts unterlassen haben, um uns zu suchen und zu erretten: sollten wir uns da nicht selbst für zu werth halten, um unser besseres Selbst untergehn zu lassen in dem schimpflichen Sclavendienste des vergänglichen Wesens, sollten wir nicht vielmehr dem hohen Ziele, welches uns vorgesteckt ist, mit heiligem Eifer nachjagen? Wenn die Stimme Gottes in unserem Gewissen und der heilige Christenname, mit welchem wir in der Taufe besiegelt worden sind, uns mahnen, daß wir Gottes und Christi Eigenthum sind: sollten wir dulden, daß die gottesfeindlichen Mächte dein Herrn sein Eigenthum entreißen, und nicht vielmehr unter dem Zeichen des Kreuzes durch alle Feinde unserer Seligkeit zu dem seligen Volke seines Eigenthums uns hindurch kämpfen? Wenn Freude im Himmel ist über Einen Sünder, der Buße thut: sollten wir unserem liebreichen Seelenhirten diese Freude verderben und nicht, statt mit den vergänglichen Gütern und Freuden dieser Erde nur das Weltkind in uns groß zu ziehen, vielmehr darnach trachten, als selige Gotteskinder selbst der himmlischen Freude des ewigen Lebens theilhaftig zu werden? Mit Einem Worte: wenn Jesus die Sünder annimmt und sie so eifrig und treulich sucht und sich so herzlich freut, wenn er sie gefunden hat: sollten wir nicht uns willig suchen und finden lassen? -
Gewiß, meine Lieben, das sollen und das müssen wir, sonst beschämen uns die Zöllner und Sünder in unserem Texte; denn von diesen heißt es, daß sie dem Herrn sich naheten, um ihn zu hören. Oder wie, sollen wir nicht lieber auf die Seite der Pharisäer und Schriftgelehrten treten, welche ihre Reinheit durch die Berührung mit seinen Sündern zu beflecken glaubten? Und scheint nicht der Herr selbst in unserem Texte sie als Gerechte zu bezeichnen, die der Buße nicht bedürfen? Allerdings scheint es so dem äußeren Wortlaute nach. Im Grunde aber bezeichnet sie der Herr doch nur im Sinne ihrer eignen Einbildung als Gerechte, weil sie selbst freilich wähnten, Gereckte zu sein und darum der Buße nicht zu bedürfen. Aber gerade darum konnte der Herr an ihnen keine Freude haben; denn an diesen Selbstgerechten mußte sein Werk vergeblich sein. Er suchte sie umsonst, weil sie sich nicht wollten finden lassen. In Wahrheit machten sie so wenig, wie jene Zöllner und Sünder, eine Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß alle Menschen Sünder sind und des Ruhmes mangeln, den sie an Gott haben sollten; ja, sie standen hinter jenen noch zurück, weil sie ihre verderbliche Verirrung und ihre hülfsbedürftige Lage nicht einmal empfanden. Und in demselben Falle befinden sich alle die, welche auf ihre äußerliche Rechtschaffenheit pochen, und deren in eitler Selbgerechtigkeit verhärtete Herzen bis heute dem Rufe des Erlösers, daß wir Buße thun und durch den Glauben an ihn aus dem alten Leben der Sünde zu einem neuen Leben rechtschaffener Gerechtigkeit wiedergeboren werden sollen, das undurchdringlichste Hinderniß entgegensetzen. Christus selbst sagt, daß er gekommen ist, die Sünder zu Buße zu rufen, und wer auf seinen Ruf hören soll und an seinem Erlösungsworte theilhaben will, der muß wissen, daß er ein Sünder ist. Wer von ihm sich soll finden lassen, der muß fühlen, daß er ein Verlorener ist, verirrt in eine trostlose Wüste, in welcher seine Seele zu verschmachten droht. Er muß erfahren haben, daß, was er auch versucht, er aus eigner Kraft sich nicht aus ihr erretten kann, daß er vielmehr mit Angst und Bangen immer tiefer und tiefer sich in sie verirrt. Dann vernimmt er die Stimme des suchenden Hirten mit seliger Freude. Dann ergreift er gerne die rettende Hand. Von ihr aus dem Verderben errettet, fühlt er zu neuem Leben sich wiedergeboren. Er läßt sich gerne finden und das Wort der suchenden Liebe seines Gottes und seines Erlösers ist nicht vergeblich an ihm. -
Und wer so nicht vergeblich gesucht, sondern in Wahrheit gefunden worden ist, der wird nicht mehr mit den Pharisäern und Schriftgelehrten in unserem Texte in eingebildeter Reinheit hochmüthig auf die Sünder herabsehen. Er wird lieber mit dem Apostel sprechen (1. Tim, 1. 18): „Das ist je gewißlich wahr und ein theures werthes Wort, daß Jesus Christus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin.“ In dankbarer Freude darüber, daß Jesus auch ihn angenommen hat, trachtet er, die Gnadenhülfe, welche ihm zu Theil geworden ist, auch anderen Verirrten zuzuwenden, damit immer mehr Verlorene wieder gewonnen werden für die Gemeinde des Herrn und für das Volk seines Eigenthums. Denn wie in unsern beiden Gleichnissen mit den Menschen, welche ihr Verlorenes wieder gefunden haben, auch ihre Freunde sich freuen, wie damit also die Freude des Findens als eine gemeinsame dargestellt wird; so ist auch die Arbeit des Suchens eine gemeinsame Angelegenheit aller lebendigen Glieder der Gemeinde des Herrn. Ein jedes Glied muß mit leiden, wenn ein Glied leidet, und muß darum das Kranke zu heilen und das Schwache zu stärken suchen, damit alle je mehr und mehr gesammelt werden zu einem lebendigen Leibe um den, der das Haupt ist, Christus, und damit die irdische Gemeinde ein immer vollkommneres Bild werde der Gemeinde der Heiligen und ein immer windigerer Gegenstand der Freude ihres himmlischen Herr n und Hauptes. Dan wird das Licht, welches seine Gemeinde leuchten läßt vor den Leuten, auch den draußen Stehenden eine kräftige Nöthigung werden, hereinzukommen, damit sein Haus voll werde, und- sich finden zu lassen von dem, welcher gekommen ist, um auch sie in der Irre zu führen und zu leiten auf den Weg des Heils, und es wird seiner Erfüllung näher gebracht werden das große Wort der Verheißung: „Es wird Eine Herde sein und Ein Hirte.“
Das Lied „Jesus nimmt die Sünder an, welches wir vorhin gesungen haben, meine liebe Gemeinde, ist nach unserm heutigen Text und für den heutigen Sonntag von einem hamburgischen Manne verfaßt worden, von dem seligen Erdmann Neumeister, welcher im Jahre 1756 als Pastor an unserer St. Jacobikirche sechs und achtzig Jahre alt gestorben ist, im festen Glauben an seinen Erlöser, welchen er während seines langen Lebens und Hirtenamtes treulich bezeugt hat. Möchten doch auch wir alle von ganzem Herzen mit ihm sprechen können:
Jesus nimmt die Sünder an,
Mich auch hat er angenommen,
Und den Himmel aufgethan,
Dort ich selig zu ihm kommen
Und auf den Trost sterben kann:
Jesus nimmt die Sünder an. -
Amen.