Baumgarten, Michael - Wider Herrn Hofprediger Stöcker. - V. Der Kultus des Erfolges.

Einen unleugbaren, einen großen Erfolg hat der Anfang im Eiskeller gehabt. Mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Rüstigkeit verfolgt Stöcker seine Bahn. Der Mittelpunkt seiner Tätigkeit ist Berlin, in ununterbrochener Folge hält er seine Versammlungen und die Tausende werden nicht müde, den nur ernste Themata behandelnden Redner anzuhören. Er hat sodann in verschiedenen Hauptstädten des ganzen deutschen Nordens seine Kanzel aufgeschlagen, jetzt geht er in den tiefen Süden hinein und dann geht er über die deutsche Grenze in die Schweiz, und von überall her bringen die Telegramme die großen Zahlen und den rauschenden Beifall. Wer kann ihm die Freude daran wehren oder missgönnen? Und warum sollte er nicht seine Freude aussprechen, da er ja nicht vergisst, Gott für seinen Segen zu danken? Aber trotzdem liegt in diesem Erfolg eine große Gefahr für ihn selbst, für seine Anhänger und für die heilige Sache des Christentums.

In der Neujahrsnummer des laufenden Jahres brachte der Evangelische Kirchliche Anzeiger von Berlin eine Redaktionsbetrachtung über die Tätigkeit Stöckers: Der Redakteur erkannte den christlichen Glaubensstandpunkt Stöckers ohne Vorbehalt an und belobte den großen Gedanken, „dem Christentum im öffentlichen Leben wiederum Geltung zu verschaffen“. Der Anzeiger machte daneben zwei Bedenken geltend, er fand es nicht gerechtfertigt, „soziale Forderungen auf Grund der heiligen Schrift und im Namen des Christentums zu stellen“ und sodann tadelte er, dass Stöcker in der Agitation der Judenfrage zu verwerflichen Mitteln greift. Da der ganze Artikel des Anzeigers unleugbares Wohlwollen für Stöcker atmete und die Bedenken offenbar den Charakter christlicher Gewissenhaftigkeit hatten, so hätte Stöcker guten Grund gehabt, O diese mahnende Stimme mit mehrerem Ernste zu prüfen, als wozu er sich in seiner Gegenrede am 4. Januar 1881 aufgelegt gefühlt. Fast ausschließlich beschäftigt sich diese Rede mit dem Evangelischen Anzeiger, aber nicht prüfend, sondern in leichten Wendungen abweisend. Das erste Bedenken des Anzeigers trifft im Wesentlichen mit dem zusammen, was wir oben als einen großen Mangel an christlicher Gründlichkeit bei Stöcker aufgewiesen haben. Und wie gut wäre es gewesen, wenn Stöcker die Neujahrsmahnung wegen unreiner Mittel in dem Kampf gegen die Juden besser beherzigt hätte! Grade in diesem Jahr hat der Antisemitismus seinen wüsten Charakter recht herausgekehrt, und eben jetzt ist Stöcker so tief verwickelt mit diesem Treiben, dass er die zum Teil von ihm zitierten Geister nicht mehr bannen kann.

Woher kommt es, dass dieser christliche Hofprediger an der ernsten Mahnung zum neuen Jahr so ohne Frucht vorübergegangen ist? Wir haben nicht umhin können, bei allem moralischen und religiösen Ernst des Mannes nach dem Maßstab des Christentums eine gewisse Ungründlichkeit und Oberflächlichkeit in der Tätigkeit Stöckers wahrzunehmen und nachzuweisen. Er hat keine Ahnung davon, dass die Kirche an Haupt und Gliedern aus dem Grund des heiligen Geistes reformiert werden muss und daher alles Andere Stück und Flickwerk bleibt. Die kranke Sehnsucht nach dem sogenannten christlichen Staat ist das Symptom einer großen Glaubensschwäche. Der Mangel an christlicher Tiefe verleitet Stöcker, seine sehr in die Weite und Breite gehenden Erfolge zu überschätzen. Das spricht sich in seinen Reden deutlich aus; am 22. November 1880 sagte er im preußischen Abgeordnetenhause: „hinter mir sind Millionen“, und wenn er dann in solchem Zusammenhang davon redet, dass „die antijüdische Bewegung den Mut hat, in die Offensive überzugehen“, so haben diese Worte meines Erachtens einen weltlichen Beigeschmack, der eines Geistlichen nicht recht würdig ist. Diesen Kultus des Erfolges glaube ich auch in der Festrede am 4. Januar 1881 zu spüren. Dieser 4. Januar 1881 war der vierte Geburtstag des christlich-sozialen Vereins. Auf dem Piedestal dieser Feier großer Erfolge stehend, ist es Stöcker nicht schwer geworden, den Evangelischen Kirchlichen Anzeiger bei Seite zu schieben. Zumal da der Kultus des Erfolgs ansteckend wirkt. Der sehr gemäßigte und wohlbegründete Tadel des Evangelischen Anzeigers brachte den Kultus des Erfolgs in einem solchen Grade und Maß zum Vorschein, dass man erschrecken musste. Der ehrliche Anzeiger brachte in den „Stimmen aus der Gemeinde“ Nr. 2/1881 verschiedene Ausbrüche des Unwillens und eines rein fleischlichen Eifers, nicht etwa weil dies und jenes an Stöckers Tätigkeit getadelt worden, sondern weil überhaupt gewagt worden war, Etwas an dieser unantastbaren Sache noch zu vermissen. Die eine Stimme schämt sich nicht zu schreiben: „Der Hofprediger Stöcker ist für viele, ja zweifelsohne für die meisten Leser des Evangelischen Kirchlichen Anzeigers ein Noli nos tangere1). Wir bitten Sie, über denselben und seine Unternehmungen lieber zu schweigen.“ Mich wundert, dass solche Stimmen, und wir wissen, dass sie noch immer fort und immer stärker ertönen, den Hofprediger Stöcker nicht erschreckt haben. Möglich ist ein solcher Kultus des Erfolges nur dadurch, dass in unserer Zeit die Ungründlichkeit und Selbsttäuschung in religiösen Dingen so sehr verbreitet ist. Das geistliche Wort war aus den weiten Räumen des öffentlichen Lebens und aus den großen Organen der Tagespresse verbannt.

Stöcker hat es erreicht, dass ihm die größten Säle geöffnet werden und die Zeitungen beeilen sich, möglichst vollständige Berichte seiner Reden zu verbreiten. Das macht auf viele Gemüter einen so imponierenden Eindruck, dass sie ohne Weiteres ein solches Ereignis als ein unantastbares Heiligtum betrachten und verehren und dieser Kultus verbreitet und verfestet sich immer mehr und wird zu einem Schibolet, um Gläubige und Ungläubige zu scheiden. Aber der wahre Glaube und das Reich Christi leidet Schaden unter diesem Kultus. Wir haben schon so viele Ismen, welche die Wahrheit fälschen, die Gewissen verwirren und Christum verdunkeln, wir bekommen jetzt noch einen neuen Ismus, den Stöckerismus. Ich habe im Reichstag gesagt: hier ist eine Gefahr für die Gesundheit des öffentlichen Lebens; ich glaube jetzt den Beweis für diese Behauptung geliefert zu haben.

Es ist mir bewusst, dass manche angesehene Kirchenmänner große Bedenken hegen über die agitatorische Tätigkeit Stöckers. Niemand aber wagt es, öffentlich sein Bedenken auszusprechen und das ist die allertraurigste Erscheinung dieses Kultus. Mir hat mein Gewissen keine Ruhe gelassen, ich musste ohne Vorbehalt aussprechen, wovon eine gewissenhafte Prüfung mich überzeugt hat. Möchten Andere, die größeres Ansehen haben, mir nachfolgen, und helfen, dass das Verderbliche einer großen Bewegung gehemmt, dagegen das Heilsame derselben gestärkt werde.

1)
Rühr mich nicht an