Baumgarten, Michael - Wider Herrn Hofprediger Stöcker. - I. Ein Zeichen von oben.

Es ist die Zeit der Wehen einer Wiedergeburt des öffentlichen Lebens. In solchen Zeiten arbeiten große Tugenden und große Laster. Am gefährlichsten jedoch werden solche Bewegungen, welche ihren Ausgang haben von richtigen und wichtigen Gedanken, die aber in ihrem weiteren Verlauf die rechte Bahn verlassen und unter der fortwirkenden Empfehlung des preiswürdigen Anfanges eine große Verführung verüben. Wer eine solche Gefahr bei Zeiten und mit Sicherheit erkennt, der ist hoch verpflichtet, seine warnende Stimme zu erheben. In diesem Falle befindet sich der Verfasser und deshalb hält er sich schuldig, mit seiner Mahnung öffentlich hervorzutreten, selbst auf die Gefahr schmerzlicher Missverständnisse.

In Folge eines gegebenen Anlasses habe ich neulich im Reichstag gegen Herrn Hofprediger Stöcker öffentlich den Vorwurf erhoben, dass seine jetzige agitatorische Tätigkeit eine Gefahr für die Gesundheit des öffentlichen Lebens sei. Ich habe daneben bemerkt, dass ich den Beweis für diese Behauptung zu führen einem anderen Orte vorbehalten wolle. Es ist die Absicht, diesem meinen Versprechen hier nachzukommen.

Für einen christlichen Theologen ist es eine sehr ernste Sache, wider einen christlichen Standesgenossen, der in einer großartigen Tätigkeit begriffen ist und von vielen Christen als ein Segen verehrt wird, eine öffentliche schwere Anklage zu erheben. Das ist natürlich Selbstverstand, dass, wer dieses unternimmt, mit seinem Gewissen vor dem Angesichte Gottes im Reinen sein muss. Aber dies allein genügt nicht, es muss auch den Urteilsfähigen der Beruf für ein solches Unternehmen nachgewiesen werden. Paulus, der Geringere, durfte es wagen, den Petrus öffentlich wegen seiner Heuchelei zu strafen, aber er war ein von dem Herrn berufener und bestätigter Apostel und darin war sein Beruf für dieses Werk offenkundig.

Was nun mich anlangt, so sind mir zwei Dinge seit einen Menschenalter unwandelbar gewiss. Die Kirche Christi, weil ihre Verfassung mit weltlichen Elementen auferbaut ist, kann ihren heiligenden und segnenden Einfluss auf die Welt der Völker und Staaten nicht auswirken. In Folge dessen leidet der kirchliche Zustand, nicht etwa nur an der allgemeinen menschlichen Sündhaftigkeit und Schwäche, nein, es ist eine Krankheit zum Sterben. Der Mann, welcher der verachteten Religion in unseren Jahrhundert wiederum eine ehrenvolle Stätte bereitet hat, ist nicht heimgegangen, ohne das Zeugnis zu hinterlassen, dass „die schöne Morgenröte Unwetter bedeutet hat“. Fast alle Klagen Schleiermachers in den Anmerkungen zu den Reden und in den späteren Briefen über das wachsende Verderben sind zu Weissagungen geworden auf diese unsere noch verderbtere Gegenwart. Andererseits aber steht mir eben so fest, dass der heilige Geist nicht bloß über dieser weltversunkenen Kirche schwebt, sondern ihr auch persönlich innewohnt und in ihren stillen verborgenen Tiefen seine Werkzeuge bereitet, welche zur gegebenen Stunde die Riegel der neuen babylonischen Gefangenschaft brechen und mit schöpferischen Kräften das sterbende Volksleben für eine neue Weltmission begeistern und tüchtig machen sollen. Auf der Sternwarte dieser beiden Anschauungen betrachte ich den kirchlichen Horizont und wenn ich ein Zeichen wahrnehme, dann prüfe ich, ob es ein Stern ist, der nach Bethlehem weist, oder ein vorüberschießendes Meteor oder gar ein Irrwisch, der in Sumpf und Moor verführt.

So ist mir in jenen finsteren Tagen, als in der deutschen Hauptstadt die Gottlosigkeit ihr freches Maul auftat und Tausende von Lästerungen trunken wurden, ein Mann erschienen, der mit festem Schritt „in jenen Abgrund hinabstieg“ und unerschrocken dem Geheul der Blasphemien sein lautes Bekenntnis zu dem dreieinigen Gott entgegensetzte. Dieser Hofprediger stellte sich mir sofort dar als ein richtiger Pontifex. Denn so weit waren wir gesunken, dass zwischen der kleinen Kirchgemeinde, die der göttlichen Dreieinigkeit Psalmen singt, und der großen Volksgemeinde, in welcher Weiber Blasphemien ausstoßen, eine unübersteigliche Kluft befestigt war. Jener furchtlose und beredte Mann hat eine Brücke geschlagen über diese Kluft und wenn er in den großen Volkssälen redet, dann ist die Zahl seiner aufmerkenden Zuhörer weit größer, als wenn er im Dome predigt. Das ist ein erfreuliches Zeichen aus einer höheren Weltordnung und ich frage, wird dieser Mann uns in unserer tiefen Kirchennot die heißerflehte und langersehnte Hilfe bringen?