Zuvörderst fühle ich mich verpflichtet, Ihnen darüber Rechenschaft zu geben, verehrte Männer und Frauen, wie ich dazu komme, den angekündigten Gegenstand, die Geschichte Jesu, Ihnen vorzutragen. In der Thai ist es ein Wagniß, daß ich als ein Fremdling in Ihrer Mitte mit diesem Gegenstand aufzutreten mich unterfange, denn unleugbar ist dieser Gegenstand, das höchste Problem für den menschlichen Geist. Die versprochene Rechenschaft werde ich Ihnen nun so zu geben suchen, daß ich Ihnen zeige, wie ich einerseits die Schwierigkeiten, die unsere Aufgabe umgeben und ihrer Lösung entgegenstehen, sehr wohl kenne und, ohne mich Selbsttäuschungen hinzugeben, erwogen habe, wie ich aber auch andererseits mit dem vertraut bin, was uns zu Gebote steht, um die uns entgegenstehenden Schwierigkeiten zu überwinden. Mit einem Worte, indem ich Sie in die innere Entstehung dieser Vorlesungen einführe, indem ich, absehend von allen Aeußerlichkeiten, die für die Geistesarbeit immer nur zufällig sind, Sie in das Ringen meines eigenen Geistes mit dem erwählten Gegenstand hineinschauen lasse, gebe ich Ihnen auf dein kürzesten Wege die Rechenschaft, die Sie an der Schwelle dieser unserer Gemeinschaft von mir erwarten dürfen, und zugleich die zweckmäßigste Einführung in den Gegenstand selbst, der vor uns liegt.
Der Gegenstand dieser Vorlesungen, sagte ich, sei für den menschlichen Geist das höchste Problem. Davon können wir uns leicht überzeugen. Die Geschichte Jesu zu erfassen und für den Gedanken verständlich zu machen, darnach ringen die erleuchtetsten Männer der Wissenschaft seit Jahrhunderten und auch diejenigen, die im dunklen Drange nach der höchsten Wahrheit trachten, ohne ihr Ziel klar vor Augen zu haben, meinen im letzten Grunde nichts Anderes, als das Geheimniß dieser Geschichte. Die Kunst, seit sie aus ihrem Schlummer während der Verwirrung der Völkerwelt wieder erwacht ist, ist in ihren begabtesten und begeistertsten Meistern unablässig bemüht gewesen, vorzugsweise diese Geschichte zur Anschauung zu bringen. Und die Andacht der ganzen christlichen Welt, die Inbrunst des Glaubens und der Liebe, diese reinste Flamme in dem Heiligthum der Menschheit, wem anders gilt sie, als dem heiligen Namen, der in der evangelischen Geschichte offenbaret ist? In der That, das Höchste und Tiefste, das Gewaltigste und das Zarteste, was die Menschheit aus ihrem innersten und eigensten Wesen hervorgebracht, es ist nichts Anderes, als der Kranz, der sich um diesen heiligen Namen und seine Geschichte windet. Und fragen wir nun, haben die Gedanken der Wissenschaft die Grenzen des Gegenstandes umspannt und begriffen, so daß derselbe nun in dem Verständniß der Menschheit für immer eine allgemein gültige und correcte Bezeichnung gefunden hätte? Hat die Kunst den letzten Punkt ihres höchsten Ideals erreicht, so daß sie nach ihrem vollendeten Tagewerk nun Sabbat halten könnte? Hat die Innigkeit der Liebe und die Kraft des Glaubens, die sich an diesem Namen entzündet, sich selber jemals befriedigt und genug gethan? Wir wissen, daß dies Alles nicht der Fall ist. Bei jedem weiteren Vordringen der forschenden Gedanken thun sich neue Tiefen und Geheimnisse auf, bei jedem Fortschritt, den die Kunst auf ihrem Wege macht, wächst zugleich die Einsicht in die Unerreichbarkeit des Ideals; und blicken wir hinein in die geheimen Kammern der Andacht und Liebesglut und in die verborgene Werkstatt der Glaubensarbeit, da sehen wir erst vollends, wie jede Höhe, die erreicht ist, nur dazu dient und führt, in immer tieferer und bewußterer Demuth sich zu beugen vor dem Namen, der über alle Namen ist im Himmel und auf Erden. Soll ich Ihnen ein Bild vorführen, so verweise ich Sie auf das Himmelsgewölbe, das Bild der räumlichen Unendlichkeit. Je mehr wir uns in den Anblick der Himmel versenken und vertiefen, desto weiter entzieht sich uns die Vorstellung einer Schranke und Grenze. Wir schauen durch das künstliche Rohr, wir vernehmen die ungeheuren Zahlen der berechnenden Wissenschaft, die Vorstellung der räumlichen Unendlichkeit gewinnt dadurch mehr Gestalt und Fülle, aber dies Alles dient nur dazu, daß wir das Ziel, diese Vorstellung, diesen Gedanken wirklich zu vollziehen, nur weiter entrückt finden. Ebenso ist es mit der Unendlichkeit in der Geschichte Jesu. Indessen ist dies Bild nur zur Hälfte richtig, denn wäre es ganz entsprechend, so würde ich wenigstens nicht den Muth finden, Ihnen diesen Gegenstand vorzutragen. Die Vorstellung der unendlichen Räumlichkeit hat allerdings eine gewisse Wahrheit für unseren Verstand, wir würden sonst nicht einmal den Namen dafür haben, es hat diese Vorstellung für uns auch eine Anschaulichkeit und zwar in der Gestalt der erhabenen und erhebenden Schönheit des Himmels und seines Heeres. Allein die Wahrheit dieser Vorstellung, die Bedeutung dieser Anschauung bleibt uns immer mit einer gewissen Ferne, Fremdheit und Kälte behaftet, denn die Wirklichkeit, die unser ganzes Leben umschließt und die uns innerlich als eine nothwendige und unser Wesen bedingende zum Bewußtsein kommt, ist eine andere und entgegengesetzte. Fassen wir die Wirklichkeit unseres Lebens scharf ins Auge, so ist die Basis unserer ganzen Existenz zunächst die Leiblichkeit und diese ist wesentlich mit Gebundenheit, Beschränktheit und Gehemmtheit behaftet, und erweitern wir dieses Bewußtsein, so ist die äußerste Peripherie die Gesammtheit der Erde, die aber von dem Himmel durch eine unübersteigbare Kluft geschieden ist. Diesem einfachsten und allgemeinsten Grundbewußtsein unserer Wirklichkeit gegenüber ist die Vorstellung und Anschauung der räumlichen Unendlichkeit eben so niederdrückend wie erhebend, ja eben so vernichtend wie belebend, das Selbstbewußtsein unserer leiblichen und irdischen Beschränktheit kommt mit dem Gedanken der räumlichen Unendlichkeit in eine peinliche und tödtliche Spannung. Wäre demnach die Unendlichkeit in der Geschichte Jesu von derselben Art, so müßte man nothwendig nach einem Höheren sich umsehen, welches die beiden Seiten dieses Gegensatzes zu überwinden und zu einigen vermöchte. Aber von dieser Seite betrachtet ist die Unendlichkeit in dem Leben Jesu eine ganz verschiedene. Schon der äußere Anblick ist wesentlich anders, denn hier ist Alles beschlossen in dem Raum einer irdischen und menschlichen Leiblichkeit, wie die bekannte apostolische Aussage: „das Wort ward Fleisch“ dieses auf das Bestimmteste und Unzweideutigste zusammenfaßt. Dieses Zeugniß des heiligen Johannes besagt nämlich, daß die Unendlichkeit, welche er als den vorweltlichen und göttlichen Grund aller Dinge beschreibt, in die Basis unserer irdisch-leiblichen Wirklichkeit eingegangen sei und sich mit derselben identificirt habe. Ist nun dem wirklich so, so werden wir uns nicht zu verwundern haben, daß die göttliche Unendlichkeit wiederum aus dieser Stäte des Fleisches hervorleuchtet und ausstrahlet; aber zugleich wissen wir nun, daß das Fleisch nicht bloß der Ort und die Gelegenheit dieser Offenbarung der göttlichen Unendlichkeit ist, sondern recht eigentlich das Organ und Werkzeug dieser Offenbarung. Hier ist also Himmlisches und Irdisches, Göttliches und Menschliches, Unendliches und Endliches, Ewiges und Zeitliches in einander und der Boden der Ausgleichung dieser Gegensätze ist eben diese unsere irdische Leiblichkeit und eben darum ist diese Ausgleichung der Gegensätze nicht etwa eine bloß logische und gedankenmäßige, sondern vielmehr eine wirkliche und thatsächliche und hat diese Ausgleichung einen realen. Vorgang oder ein wirkliches Geschehen und ist demnach selber eine Geschichte, nämlich die Geschichte Jesu. Darin ist uns aber zugleich klar, daß die Vergegenwärtigung der Unendlichkeit in der Aufgabe, die wir uns gestellt haben, nichts Abschreckendes für uns haben kann. Diese Unendlichkeit nämlich, weil sie in unsere eigene Endlichkeit und Beschränktheit eingegangen ist, gewährt so zu sagen in allen ihren Erscheinungen und Stufen für uns einen Ruhepunkt der höchsten Genüge und Befriedigung. Es hat demnach diese uns bedrohende Schwierigkeit nur auf den ersten Anblick etwas Abschreckendes, näher betrachtet dagegen liegt in ihr eine anspannende Kraft.
Aber wir dürfen auf diesem Wege noch einen Schritt weiter gehen. Der unendliche Inhalt in der Geschichte Jesu bietet nicht bloß für unser Verständniß die Möglichkeit der Aufschließung dar, sondern es besteht sogar eine sittliche Nothwendigkeit für uns, diesen Inhalt in uns aufzunehmen. Die unendliche Lebensfülle, welche in der Geschichte Jesu beschlossen ist, hat zu der Menschheit sowohl eine universale als eine centrale Beziehung, und zwar, da die Menschheit nicht eine Masse von Einzelnen ist, sondern ein einheitlicher Organismus, so schließt die erste Beziehung die zweite in sich und ebenso umgekehrt. Wenn wir nämlich die Menschheit als ein Ganzes betrachten, so findet sich in ihr eine leere Stäte, diese Stäte ist der Ort des Thrones der Menschheit. Es giebt zwar in der natürlichen Menschheit einen Ort, der ursprünglich für diesen Thron angelegt und bestimmt ist, dieser Ort ist die eigenthümliche Stellung und Würde des ersten Menschen, und allerdings beruht die Einheit des menschlichen Geschlechts in allen seinen Gliedern auf dem natürlichen Zusammenhang mit dem ersten Menschen und es bildet dieser demnach wirklich das Haupt der gesammten natürlichen Menschheit. Aber es bedarf nur einer geringen Beobachtung, um zu erkennen, daß das Natürliche die Einheit des Menschengeschlechtes nicht vollenden kann, mithin für die wahre Beherrschung die Basis des Ganzen nicht bilden kann, weil das Natürliche, so lange es in sich bleibt, wie es denn wirklich in Adam für sich geblieben ist, und anstatt aufwärts sich zu erheben vielmehr niederwärts gegangen ist, nur eine vorübergehende Verbindung zwischen den Menschen begründen kann, schließlich aber recht eigentlich zum Princip der Trennung wird. Die Menschheit also in Adam angeschaut hat zwar die Bestimmung zur Einheit, in Wirklichkeit aber fällt sie auseinander und es bleibt also für die zusammenhaltende und beherrschende Macht innerhalb ihrer eine leere Stätte. Diese leere Stätte der gesammten Menschheit ist für Jesus und Jesus ist für diesen Thron des menschlichen Geschlechts. Alles also, was in der Menschheit nach Einheit strebt, und das ist eben das wahrhaft Menschliche, dieses Alles ist auf Jesum angelegt und Jesus ist es, der sich als das Ziel dieses menschheitlichen Suchens und Strebens erweist. Es giebt demnach eine Prädestination der Menschheit auf Jesum und eben diese Prädestination ist die wesentliche Bestimmung der Menschheit, und gleicherweise ist Jesus die Erfüllung und Verwirklichung dieser Prädestination und außerdem ist er Nichts und will er Nichts sein. Die Menschheit und Jesus treffen demnach auf allen Punkten zusammen und können sich nimmer verfehlen. Das nennen wir die universale Beziehung der Menschheit zu Jesu und darin liegt nicht bloß die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit des Verständnisses der Geschichte Jesu. Daß dieses Universale in Jesu aber zugleich central ist, erweist sich in der Beziehung Jesu zu dem einzelnen Menschen. Während wir das Universale am anschaulichsten erkennen aus der Geschichte der Völker, wird uns das Centrale aus dem Selbstbewußtsein des Einzelnen am deutlichsten. In jeder Seele giebt es einen Ort, der für den Namen Jesu bereitet ist, und ebenso gewiß als dieser Ort der tiefste und geheimnißvollste Mittelpunkt alles Seelenlebens ist, ebenso gewiß kann derselbe durch nichts Anderes erfüllet werden. Bleibt die Seele von diesem Namen geschieden, so ist das Gefühl der peinlichen und tödtlichen Leerheit unvermeidlich, nimmt dagegen die Seele diesen Namen auf, so zieht in sie ein das Bewußtsein der ewigen Lebensfülle. Diese centrale Beziehung des menschlichen Herzens zu Jesu prägt sich am unmittelbarsten und allgemein verständlichsten aus bei den Kindern. Kinder haben bekanntlich eine große Vorliebe für Märchen, diese seltsame Zwittergestalt zwischen Wirklichkeit und Unmöglichkeit
Sollen wir nun sagen, die Kinder lieben diese Erzählungen, weil sie noch nicht unterscheiden und auch das Unmögliche für Wirklichkeit hinnehmen? Diese Erklärung würde höchstens ein etwaiges Hinderniß dieser Vorliebe der Kinder beseitigen, die Vorliebe selber würde sie nicht deutlich machen. Diese Vorliebe kann wohl nicht leicht auf etwas Anderem beruhen, als weil die Kinder ein großes Verlangen haben, Etwas zu hören und zu sehen, was nicht gebunden ist an die Weise und Art der gewöhnlichen Wirklichkeit und doch sich mit diesen irdischen Dingen recht intim einläßt und befaßt; während die Seele der Erwachsenen sich nur allzu häufig und allzu willig in das Joch der irdischen Wirklichkeit und Plattheit einfangen läßt, so daß sie sich kaum mehr zu etwas Anderem als Greifbarem und Sichtbarem erheben kann, steht der Kindersinn der Schwelle, wo Himmlisches und Irdisches, Göttliches und Menschliches sich scheidet, näher, er athmet noch in der Morgenluft eines überirdischen Geheimnisses und deshalb wird ihm wohl, wenn man ihm Gebilde vorhält, die aus irdischen und himmlischen Elementen frei und wundersam zusammengewoben sind. Nun ist aber das Märchen so zu sagen der Traum der heiligen Geschichte, was im Märchen regellos mit Hülfe der Phantasie durch einander spielt, ist in der heiligen Geschichte durch Gottes Hand in den festen Grenzen einer wunderbaren Wirklichkeit zusammengefaßt. Daher meint die Vorliebe der Kinder für das Märchen im letzten Grunde und eigentlich die heilige Geschichte und diejenigen verstehen und behandeln diesen Sinn richtig, welche ihn vornehmlich durch das Vorführen der heiligen Geschichte zu befriedigen suchen. Mittelpunkt und Licht der heiligen Geschichte ist aber die Geschichte Jesu. Eben dies bewährt sich an den Kindern immerfort auf die unverkennbarste Weise. Wenn man ihnen die Geschichte Jesu richtig, d. h. eben als Geschichte vorträgt, so giebt es schlechterdings Nichts, was sich so tief und fest der Seele einsenkt, wie eben dieser Inhalt.
So mag es denn immerhin sein, daß wir in der Geschichte Jesu unter lauter Geheimnissen wandeln, deren Höhe und Tiefe, deren Länge und Breite unermeßlich ist, diese Geheimnisse sind nicht schreckende Abgründe und in kalter Ferne und Fremdheit abgeschlossene Höhen, sondern diese Geheimnisse thun ihre ewigen Tiefen auf und hauchen uns an mit wunderbarer Zuthunlichkeit und Heimlichkeit, mit göttlicher, heiliger Lebenskraft. Auf diese göttliche Anziehungskraft, auf diese wunderbare Unvermeidlichkeit und Unentfliehbarkeit, auf diese universale und centrale Macht des heiligen Namens, dessen Geschichte ich Ihnen erzählen will, baue ich meinen Entschluß.
Mit dem Gesagten habe ich Ihnen aber erst im Allgemeinen die Schwierigkeit, welche auf der Behandlung unseres Gegenstandes liegt, gezeigt, sowie auch nur im Allgemeinen auf die Möglichkeit einer Ueberwindung dieser Schwierigkeit hingewiesen. Wenn wir aber unsere Gegenwart, in der wir mit einander stehen, berücksichtigen, so stellen sich noch besondere Hemmungen heraus, die uns auf unserem Wege aufhalten. Auch über diese muß ich Ihnen Rechenschaft geben und zwar so, daß ich Sie zugleich auf die in unserer Zeit liegenden Forderungen aufmerksam mache, welche, wenn wir sie richtig gebrauchen, jenen Hemmungen das Gegengewicht halten. Zuerst treten uns entgegen zwei schlimme Feinde, die darum so stark sind, weil sie mit einander in einem inneren Bunde stehen: sie heißen Zerstreutheit des Lebens und Verwirrung des Sinnes. Das äußere Leben bietet gegenwärtig eine so bunte Mannigfaltigkeit, eine so rapide Abwechselung, eine so sich drängende Aufregung und Anspannung dar, wie niemals zuvor. In einer Weltstadt wie Hamburg versteht dies Jeder, der seinen Sinn offen hat, und giebt es willig zu. Diese Gestalt des Lebens finden wir vor, sie ist ohne uns und vor uns da, wir können Nichts davon und Nichts dazu thun. Wie schicken wir uns nun in diese zerstreuende Gestalt der uns umgebenden Welt? Das ist wohl einleuchtend, daß wenn die Einheit und der Zusammenhang unseres Lebens unter dieser unendlichen Mannigfaltigkeit von Anregungen zum Genießen wie zum Handeln nicht Schaden nehmen soll, so muß unser innerer Sinn in sich selber so fest und seiner selbst gewiß und mächtig sein, daß er durch die ganze bunte uns umwogende Mannigfaltigkeit hindurchgehen kann, ohne sich selber zu verlieren, dann würde er im Stande sein, aus Allem und dem Verschiedensten Förderung und Gewinn des eigenen Lebens zu ziehen, wie die Biene auch aus den Giftblumen ihren Honig saugt. Aber ach! wo finden wir diese Festigkeit und Sicherheit des inneren Sinnes? Achten wir auf die innere Welt der Gedanken und der Geister, so werden alle Tieferblickenden gestehen müssen, daß die innere Welt unserer Gegenwart ein noch verwirrteres Chaos darbietet, als die äußere Welt. Sehen wir von denen ab, die in Allem nur sich selber meinen und suchen, die daher auf irgendwelche geistige Bedeutung und Selbstständigkeit keinerlei Anspruch haben, sehen wir auf die Verständigeren und Besseren, so sind sie in kleinere und größere Parteien zerklüftet und diese Parteien stehen in leidenschaftlichem Antagonismus wider einander. Das ist aber noch nicht das Schlimmste, die eigenthümliche Signatur unserer geistigen Gegenwart besteht unter Anderem auch darin, daß die Parteien in ihrem eigensten Bereich nicht consequent sind, es fehlt ihnen an festen Leitern und ausgeprägten Charakteren, daher begegnet es ihnen nicht selten, daß sie nicht bloß ihr Eigenes vertreten, sondern gelegentlich auch einmal das Entgegengesetzte. So fehlt es also in unseren Tagen an dem nöthigen und heilsamen Gegengewicht gegen die unendliche Zerstreutheit des äußeren Lebens, es herrscht vielmehr allgemein eine große Verwirrtheit des inneren Sinnes, es dringt daher die bunte Mannigfaltigkeit der Welt des sich überstürzenden Genießens und der ruhelosen Vielgeschäftigkeit immerdar mit Ungestüm in diese innere Verwirrung hinein und steigert dieselbe immer mehr. Andererseits besteht die Zerstreutheit unserer Gegenwart eben darin, daß das äußere Leben in weitem Umfange seine festen Marksteine und Schranken verloren hat und sich ebendeshalb die innere Verwirrung an dem äußeren Leben nur sehr schwer zu orientiren vermag; im Gegentheil tauchen aus den unheimlichen Tiefen der inneren Unruhe immer neue Mittel und Wege auf, auch die äußere Gestalt des menschlichen Gemeinschaftslebens immer mehr zu verwildern. Also ein wahrer Strudel innerer Verwirrtheit und äußerer Zerstreutheit ist es, worin wir uns gestellt erkennen müssen und nicht ohne Schrecken kann ich an das Wort des Dichters denken:
Im Sturm die Sonne spiegelt nicht
Im Meer ihr heilig Angesicht.
Denn der heilige Gegenstand, den ich Ihnen vorzutragen Willens bin, verlangt unerbittlich große Ruhe, innere Klarheit und Sammlung; er ist wie ein Meisterbild ohne Rahmen, welches nur für den sinnigen und kundigen Beobachter da ist, dagegen dem flüchtigen und zerstreuten Sinn seine Herrlichkeit beharrlich verschließt. Unser Gegenstand bietet nichts Pikantes und Interessantes, was auch die Zerstreutheit zur Aufmerksamkeit zu zwingen vermöchte, er verschmäht durchaus alle Reizmittel, welche geeignet sind, auch verstimmten Sinn zu fesseln. In der That ist dieses große Mißverhältniß unseres heiligen Gegenstandes zu der Unruhe und Zerstreutheit unserer Gegenwart ein mächtiges Hinderniß auf dem Wege, den wir mit einander betreten wollen. Und leider ist dieses Hemmniß nicht das einzige, welches der Charakter unserer Zeit uns entgegensetzt.
Ein zweites großes Hemmniß ist der allgemein verbreitete Zweifel an der Geschichtlichkeit der evangelischen Berichte über Jesu Leben. Diesen Zweifel dürfen wir hier um so weniger außer Acht lassen, da derselbe, wie er sich in der Neuzeit entwickelt hat, hier in Hamburg seinen ersten und determinirtesten Ausdruck gefunden hat. Er ist seitdem groß gezogen und hat in einem bekannten neueren Werke eine Art von systematischer Ausbildung und Begründung erfahren. Nach dieser Lehre ist abgesehen von einem sehr dürftigen geschichtlichen Kern das Meiste und Wichtigste, was die Evangelien berichten, das Gebilde späterer Phantasie, nämlich Mythus, Legende oder Sage der christlichen Gemeinschaft in ihrer Urzeit. Von dieser mythischen Auffassung der evangelischen Erzählung ist nun Manches in die Kreise der Gebildeten unserer Zeit übergegangen und beherrscht die Gedanken mit einem mehr oder minder ausgebildeten Vorurtheil gegen die Wahrheit der evangelischen Urkunden. Es giebt nun einen Zweig der wissenschaftlichen Thätigkeit, der sich recht eigentlich mit der Würdigung dieser Zweifel und Vorurtheile beschäftigt. So wichtig und nothwendig aber diese theologische Arbeit ist, so erlaubt es uns weder Zeit noch Ort, in diese Arbeit einzutreten. Freilich stände es nun so, daß diese Bedenken und Vorurtheile, wie sie aus allgemein vernünftigen und geschichtlichen Gründen hervorgegangen, so auch, wenn sie überhaupt der Widerlegung benöthigt wären, mit allgemein vernünftigen und geschichtlichen Gründen besiegt werden müßten, so könnten wir allerdings in unseren Gegenstand gar nicht eintreten, ehe wir diese Vorarbeit mit einander überwunden und hinter uns gebracht hätten. Allein Lessing hat schon ganz richtig erkannt, daß die Wurzel dieser Zweifel durch allgemeine Gründe und historische Beweismittel überall nicht ausgerottet werden könne; ich füge hinzu, das ist darum unmöglich, weil diese Wurzel tiefer liegt, als diese Beweisführung reicht. Das Wesentliche dieser Irrthümer muß entweder vor dem Lichte des evangelischen Inhaltes selber verschwinden oder es ist ein Schatten, den die genannten Beweisthümer nicht zu beschwören vermögen. Demnach muß es eine Möglichkeit und eine Berechtigung geben, den Inhalt der Geschichte Jesu in sich selber darzustellen, ohne daß es nöthig ist, die erwähnte Vorarbeit jedesmal aufzunehmen. Um so weniger wir aber Gelegenheit haben, mit den Gründen und Gegengründen dieser Zweifel im Ganzen wie im Einzelnen uns eigens auseinanderzusetzen, um so mehr ist es Pflicht, hier im Vorwege der allgemein vorhandenen Thatsache dieses Zweifels ins Angesicht zu schauen. Obgleich der Zweifel so ziemlich eine und dieselbe Gestalt, ein und dasselbe Kleid hat, so ist doch seine innere Natur sehr verschieden. Es giebt einen Zweifel, der die Wahrheit liebt und sucht, und einen Zweifel, der die Wahrheit fürchtet und flieht; die Verschiedenheit dieser beiden Arten des Zweifels muß heraustreten, wenn dieselben der Offenbarung der Wahrheit gegenüber gestellt werden, in diesem Falle wird der wahrheitsuchende Zweifel die Wahrheit umfassen und sich selber in Gewißheit auflösen, dagegen wird der wahrheitsscheue Zweifel sich in sich selber verfesten und sich zum bewußten Haß der Wahrheit ausgestalten. Den ersten Zweifel weisen wir nicht ab, sondern laden ihn im Gegentheil zur strengen und gewissenhaften Prüfung ein; indem wir den Gegenstand der evangelischen Berichte in seinem eigenen Lichte hinstellen, eröffnen wir ihm damit die Möglichkeit, seiner eigenen Unruhe und Pein ledig zu werden. Diese Rücksicht auf den gewissenhaften Zweifel ist darum nicht ein Seitenweg für uns, sondern liegt recht eigentlich auf unserer Bahn, weil wir auch dem Glauben das Ansinnen stellen, sich nie und nirgends auf Vorausgesetztes und Angenommenes zurückzuziehen und auszuruhen, sondern in sich das Vermögen zu haben und zu wecken, mit immer neuer Kraft und immer gesteigerter Fähigkeit die Wahrheit immer völliger zu erfassen und immer tiefer in sich aufzunehmen. Auf diese Weise sind wir Alle, Glaubende und Zweifelnde, hier auf einem Wege und meine Rede kann trotz der Verschiedenheiten und Gegensätze unter uns ihren einheitlichen Ton und Charakter bewahren. Hätte nun der Zweifel in unserer Gegenwart überall den oben bezeichneten ernsten Charakter und wäre Alles, was sich an Vorurtheilen über die mythische und sagenhafte Natur der Evangelien in unserem Bewußtsein findet, dieser suchenden Art des Zweifels verwandt, so würde ich von dem Zweifel nicht viel Aufhebens machen und ihn keineswegs als ein mächtiges Hinderniß auf unserem Wege bezeichnen. Aber sehr selten erscheint der ernste Zweifel in unseren Tagen in reiner Gestalt, in der Regel ist ihm jener andere Zweifel, der sceptische und wahrheitsflüchtige Zweifel beigemischt. Denn diese schlimme Art des Zweifels gehört recht eigentlich zu den Krankheitserscheinungen unserer Gegenwart; er ist im Grunde, während er sich geberdet als eine große Kraft und hohe Bildung des Geistes, eine krankhafte Scheu und Flucht vor dem Ernst des Lebens und dieser Leichtsinn liegt in der geistigen Atmosphäre der Zeit. Je ernster nun der Gegenstand ist, dem man gegenübergestellt wird, desto mehr offenbart sich dieser leichtsinnige Zweifel. Das aber fühlt Jeder mehr oder weniger deutlich, daß in der Geschichte Jesu aller Ernst des Lebens seinen Höhepunkt hat. Es ist deshalb natürlich und nothwendig, daß diesem Gegenstande gegenüber jener Zweifel all seine Kraft und Kunst zusammenzunehmen sucht. Freilich wird aus dem hellen Haufen derer, denen von diesen Zweifeleien an aller Wahrheit des evangelischen Berichtes die ganze Seele angefüllt ist, nicht leicht Einer hier sein, denn diese lieben es nicht, in so ernster Umgebung zu sein, und so brauche ich mich allerdings nicht damit zu quälen, wie ich den offenbar und durch und durch Zweifelsüchtigen möge die Geschichte Jesu nahe bringen. Allein diese Seuche der Zweifelei ist in unserer Zeit so verbreitet und so tief gewurzelt, daß auch die Gläubigen davon ergriffen sind, ja es giebt nicht Wenige, welche sich selbst starkgläubig dünken und noch mehr Anderen diesen Eindruck ihrer Starkgläubigkeit beizubringen lieben und dessenungeachtet ganz innerlich, großentheils ohne selbst im Klaren darüber zu sein, von unzähligen Zweifeleien hin- und hergezerrt werden. Es ist dies nicht jener ernste Kampf des Glaubens mit seinen inneren Feinden, den unser Luther uns oft so ergreifend schildert: denn dieses Ringen mit dem ernsten Zweifel ist an sich schon der Zweifel eines mündigen Glaubens und weil er zum Siegen führt, ist er zugleich die Erneuerung des Glaubens aus einer Kraft zur anderen. Ganz anders ist es mit dem flatterhaften, leichtfertigen Wesen der Zweifelei, die in der gegenwärtigen Unfertigkeit unserer Gedanken liegt. Es ist nicht der Anfall von gewaltigen Geistern, die den Menschen zu Boden werfen sondern das Necken und Zerren von Gespenstern und Kobolden, welche jeden Ernst des Geistes verscheuchen wollen, und wir Weichlinge sind so schwachmüthig, daß wir uns jeden Augenblick unsere Gedanken durch diese kleinen Dämonen verwirren lassen. Je näher wir nun einem solchen heiligen und gewaltigen Ernst von Thatsachen, wie er in der Geschichte Jesu vorliegt, gerückt werden, desto geschäftiger sind diese kleinen Irrgeister, allerlei Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zweifels aufzuwühlen und gleichsam einen Wall zu bilden zwischen uns und diesen Thatsachen, damit uns nur ja Alles eher widerfahre, als von der Gewalt dieser Thatsachen überwunden und in den beseligenden Lebenskreis derselben versetzt zu werden. Da nun aber diese Vorträge keine andere Absicht haben, als jede Scheidewand zwischen uns und den evangelischen Thatsachen hinwegzuräumen, so daß unsere Gedanken mit denselben Eins werden und zusammenwachsen, so begreift es sich, daß diese Seuche und Schwächlichkeit unserer geistigen Stimmung mir als ein großes Hinderniß entgegentritt.
Ich könnte nun noch manches Andere aus unserer Gegenwart nennen, was mir im Wege liegt, aber ich will bei dem Erwähnten stehen bleiben und die beiden genannten Hemmnisse sind ausreichend, um mich zaghaft zu machen, und ich weiß es, dieses Gefühl der Schwierigkeit der Aufgabe wird mich im weiteren Verlauf noch oft überfallen. Wenn ich nun dennoch meine Aufgabe mit getrostem Muthe angreife, so bin ich schuldig zu sagen, was ich denn jenen Hindernissen entgegenzusetzen habe. Der ganzen Erwägung der Schwierigkeiten, die in unserer Gegenwart liegen, setze ich zunächst und zuerst immer das entgegen, daß Jesus der verlorenen Welt dereinst erschienen ist als der einige und ewige Retter und Heiland. Darin ist enthalten, daß so lange die Weltzeiten laufen, keine Zeit so versunken ist, daß ihr nicht könne durch diesen Namen aufgeholfen werden, und weiter, daß je rettungsloser eine Zeit in sich selber ist, sie um desto mehr dieses einzigen Retters und Heilandes bedürftig ist. Das aber, wodurch Jesus die Welt rettet, ist eben seine Selbstdarstellung, in welcher all sein Wirken und Leiden beschlossen ist, also die Geschichte, in welcher seine Persönlichkeit Anfang Mitte und Ende ist. Nichts ist daher einer in sich heillosen Zeit nöthiger und heilsamer, als die Vergegenwärtigung dieser Geschichte, in welcher für alle Zeiten das einige und ausreichende Heilmittel geschaffen ist. Es mag also unsere Gegenwart so verwirrt und so krank sein, als sie immer will, zuletzt darf uns dieses nicht abhalten und abschrecken, sondern muß uns im Gegentheil antreiben, Alles aufzubieten, um durch alle Vorhöfe und Vorhänge hindurchzudringen und in das Allerheiligste der Geschichte Jesu einzugehen.
Wer aber mit diesem Auge der Liebe, die Alles hofft und nie verzagt, in die Weltzeiten hineinschaut, dem wird es auch gegeben, nicht bloß die Hemmnisse, die in jeder Zeit dem Glauben entgegenstehen, zu entdecken, sondern auch die Anknüpfungspunkte, die gleichfalls in keiner Zeit gänzlich fehlen, um das in Christo beschlossene Heil der Welt zu erkennen und aufzunehmen. Diesem Auge der hoffenden Liebe zeigt sich auch, daß es in unserer Gegenwart dicht neben jenen Hemmnissen solche Forderungen giebt und eben diese mache ich zu meinen Bundesgenossen und biete sie gegen jene Feinde aus. Als solche Forderungen und Bundesgenossen, welche diese unsere Gegenwart in sich hat, mache ich zwei namhaft. Zuerst nenne ich den in unserer Zeit eigenthümlich ausgeprägten Sinn für das Kleine. Der Sinn für das Kleine liegt sehr nahe neben dem Kleinlichkeitssinn, ist aber durch eine scharfe Linie von ihm geschieden, wie das Kindliche sich von dem Kindischen und das Weibliche von dem Weibischen unterscheidet. Der Kleinlichkeitssinn, der allerdings auch eine Zeitkrankheit ist, schließt das Große aus und ist für alles Große schlechthin stumpf und unempfänglich. Dagegen ist der Sinn für das Kleine nur eine besondere Art des Sinnes für das Große, nämlich für das Große im Kleinen. In einem vollendeten Kunstwerk ist das Kleinste in dem Geist und Stil des Ganzen gearbeitet. Der richtige Sinn für das Kleine erkennt und erfaßt nun in dem kleinsten Theil immer das Ganze und Große. Daß dieser Sinn in unserer Zeit eigenthümlich ausgebildet ist, dafür will ich mich auf einige Erscheinungen des gegenwärtigen Geisteslebens berufen. Ich nenne zuvörderst einen Schriftsteller, der einen Leserkreis hat, wie vielleicht kein Zweiter in Europa, Charles Dickens. Ist es das Ueberraschende seines Witzes, womit er seine Leser fesselt? Ich glaube nicht, daß darin die Hauptstärke dieses Schriftstellers liegt, sondern der Kern seiner schriftstellerischen Virtuosität erscheint mir die eminente Begabtheit für die Erfassung, das Verständniß und die Darstellung des Kleinen im Menschenleben zu sein. Die feinfühlende Belauschung gerade der unscheinbarsten Züge des individuellen Lebens und die sichere und tactfeste Zurückführung dieser kleinen Dinge auf ihre geheimen Gründe und Zusammenhänge, eben dies scheint mir den eigentlichen Werth seiner Schilderungen und Darstellungen auszumachen. Ferner erinnere ich an die Nationalökonomie, eine Wissenschaft, die zu den jüngsten gehört und sich gegenwärtig einer besonderen Pflege und Blüte erfreut. Diese Wissenschaft beruht einem wesentlichen Theile nach auf dem Sinne für das Kleine und Unscheinbare in dem socialen und nationalen Leben; ja sie ist eben deshalb so spät entstanden, weil sie in dem, was man seit lange gar nicht beachtete oder für völlig regellos hielt, durch verschärften Blick Gesetz und Ordnung entdeckte. Endlich berufe ich mich auf den gegenwärtigen Stand der Philosophie. Die Zeit des großartigen Systembaues ist einstweilen vorüber, aber zum Glück ist damit die Philosophie selbst noch nicht begraben. Diese ernste Werkstatt des strengen Denkens hat auch in unserer Zeit ihre Meister und Jünger. Auch in dieser Geistesthätigkeit unserer Gegenwart finde ich den Sinn für das Kleine, denn ein Hauptzug des gegenwärtigen Philosophirens scheint mir die mikroskopische Reflexion über die verborgenen Anfänge und Gesetze des Seins, des Denkens und Lebens zu sein. Genug es giebt in unserer Zeit einen sich deutlich kundgebenden Sinn für das Kleine. An diesen Sinn appellire ich für die Darstellung des heiligen Gegenstandes, den ich mir erwählt habe. Alles, was ich Ihnen vorzutragen habe, ist von einem engen Raume umgrenzt und es macht gar keine Schwierigkeit, daran vorüberzugehen, ohne Kenntniß davon zu nehmen; wer zumal gewöhnt ist an die großen Dimensionen der Weltgeschichte, hat nicht geringe Mühe sich zu denken, daß hier überhaupt etwas Beachtenswerthes vorgehen kann. Der. Schauplatz, auf dem sich unsere Geschichte bewegt, ist ein abgelegener und ziemlich eingeschlossener Winkel der Erde, das Volk, in dessen Mitte unsere Geschichte sich begiebt, spielt in dem großen Drama der Völkergeschichte keine Hauptrolle und ist zudem in der Zeit, die uns beschäftigt, längst von seiner Höhe und Blüte heruntergekommen. Und selbst auf diesem entlegenen Schauplatz, unter solch geringer Umgebung ist die Geschichte Jesu etwas so Unscheinbares und Geringes, daß der jüdische Geschichtsschreiber, der die Ereignisse der Gleichzeitigkeit ausführlich beschrieben hat, sich kaum veranlaßt gefunden hat, den Namen Jesu mit einigen Strichen in sein großes Geschichtswerk einzutragen. Wer also nichts Großes kennt, als was sich breit und hoch zu machen versteht, für den ist diese Geschichte verloren; wer dagegen auch in dem Kleinen das Große zu entdecken fähig ist, der hat hier nicht bloß Gelegenheit diesen Sinn zu üben, sondern findet hier eine Befriedigung, wie nirgends sonst. Denn hier ist auf allen Punkten das Geheimniß des Größesten und Höchsten in dem Kleinsten und Geringsten beschlossen und dieses Gesetz ist hier so durchwaltend, daß man sagen muß, der Sinn für das Kleine sei auch sonst und überall eine gute und heilsame Ausrüstung des menschlichen Geistes, in dem Verständniß der Geschichte Jesu aber finde er seine höchste und letzte Bestimmung. Darum sei unsere Zeit gesegnet, weil ihr dieser Sinn in so hohem Grade innewohnt. Wenn unsere Zeit diese ihre Gabe für die höchste Bestimmung derselben, für die, Betrachtung der Geschichte Jesu mit Ernst und Hingebung wollte gebrauchen, so könnte sie von ihrer heillosen Zerstreutheit und Verwirrung erlöst werden. Wenn wir mit aufgeschlossenem Sinn für das Kleine herantreten an die Geschichte Jesu und sie von Anfang bis Ende begleiten, so werden wir finden und erfahren, daß es wahr ist, was Jesus von sich bekennt: „ich bin der Weg und die Wahrheit.“ Dann finden wir für die Zerstreutheit und Zusammenhangslosigkeit unseres Lebens nicht bloß einen Weg, sondern den Weg, den einzig richtigen und geraden, der durch die ganze Welt der bunten und mannigfaltigen Dinge hindurchführt zu dem ewigen Ziele. Eben so finden wir in ihm die Wahrheit, den Angelpunkt und den Zusammenhalt, der alle Verwirrung des inneren Sinnes in eine klare und feste Einheit des geistigen Lebens aufhebt.
Als einen zweiten Bundesgenossen für unser gemeinsames Werk bezeichne ich den geschichtlichen Sinn, der unsere Gegenwart auszeichnet. Die französische Revolution versuchte nach dem Bankerott der bisherigen geschichtlichen Entwickelung einen Neubau mit Hülfe des abstracten Gedankens. Dieser Bau stürzte und bedeckte Europa mit seinen Trümmern, und wir stehen noch unter der erschütternden Macht dieser Ereignisse. Seitdem ist für alle Verständigen die Macht des abstracten Gedankens und der luftigen Phantasterei gebrochen und die bessere Menschheit besinnt sich seitdem wieder auf ihre Geschichte. Ich berufe mich auf die ausgezeichneten Leistungen der Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung in der neueren und neuesten Zeit. Ich meine damit an diesem Orte nicht sowohl den Fleiß, die Gelehrtenarbeit, die Tüchtigkeit und Kraft der Verstandesthätigkeit, die Reinheit und Schönheit des Stiles sondern vornehmlich den sittlichen Ernst, dem allein das Innere der Geschichte sich enthüllt. Der geschichtliche Sinn findet sich aber keineswegs bloß bei den Historikern von Fach, sondern er wird immer mehr ein Grundzug der gegenwärtigen Wissenschaft in allen Zweigen, ja der gesammten ernsteren und bewußteren Geistesbildung unserer Tage. Jeder, der sich ein wenig umsteht und über den Geist der Gegenwart orientirt, wird dies in immer anderen und neuen Zügen bestätigt finden. Diesen geschichtlichen Sinn und Ernst, der in allen besseren Geistern unserer Zeitgenossen Wurzel geschlagen, biete ich auf gegen jene kritisch sich geberdende Zweifelsucht, welche die Zuversicht zu der evangelischen Geschichte, angefochten hat. Denn hier ist Geschichte, deren Thatsächlichkeit sich jedem ernsten und unbefangenen Geschichtssinn durch sich selber bewähren wird, ja hier ist mehr, hier ist diejenige Geschichte, welche je mehr der geschichtliche Sinn und das geschichtliche Verständniß einzudringen sucht, sich nicht nur als den Grund- und Eckstein aller Menschengeschichte, sondern auch als das Licht alles geschichtlichen Verständnisses immer deutlicher und unzweifelhafter ausweist. Wenn der Sinn für geschichtlichen Ernst sich vertieft in den Inhalt dieser heiligen Geschichte, welche das Thema dieser Vorträge ist, so wird zugleich jene krankhafte Zweifelsucht innerlich überwunden, indem das Leben dadurch einen völlig befriedigenden Inhalt erlangt, der jener müßigen und weichlichen Zweifeln Luft und Nahrung benimmt. Denn Jesus sagt nicht bloß: „ich bin der Weg und die Wahrheit“, sondern er sagt auch „ich bin das Leben.“ Somit kehrt die Erwägung der geistigen Beschaffenheit unserer Gegenwart in Ansehung unseres Gegenstandes in ihren Anfang zurück und schließt sich die Zeitbetrachtung, welche wir angestellt, mit unserer allgemeinen Betrachtung über die Bedingungen eines Verständnisses der Geschichte Jesu zusammen. Den Eindruck wollte ich durch diese vorläufigen Bemerkungen hervorgerufen haben, daß ich nicht unüberlegt in diese große und heilige Sache eintrete. Wenn ich nun dieses Vertrauen durch diese Einleitung, wie ich nicht zweifle, mir erworben habe, so darf ich hoffen, daß der weitere Fortgang dieser Vorträge solches Vertrauen durch sich selber bewähren werde.