Sondern erlöse uns von dem Uebel.
Es ist dies die letzte unter den sieben Bitten des Vater Unsers, und unbedenklich die allgemeinste und umfassendste aller Bitten. War die fünfte Bitte ein Gebet der Buße, die sechste ein Gebet der Schwachheit, so ist diese ein Gebet des Glaubens, gleichsam ein keimender Triumphruf. Bezog sich die vierte mehr auf Gott den Vater, die fünfte mehr auf den Sohn Gottes, so werden die sechste und siebente nur möglich durch den heiligen Geist. Wird diese letzte Bitte erhört, so bleibt uns nichts mehr zu bitten übrig. Diese Bitte, sagt ein alter Lehrer, ist ein Schwamm, in welchem gesammelt werden alle Thränen, die wir Zeit unseres Lebens vergießen und in den heiligsten Schooß Gottes schütten. Sie ist eine Hand, welche nicht eher aufhöret, bis sie das Herz Gottes festhält, daß es breche über unserm Jammer. Sie bettet uns das Todtenbette, klopfet es uns schön auf, daß wir darauf sanft ruhen und einschlafen mögen. Sie lehnet die Himmelsleiter an, daß wir gen Himmel steigen können. Sie ist ein Schlüssel des Himmels, sie schließt auf, daß wir die Triumphlieder der Auserwählten hören, wie sie befreit sind von allem Jammer. Vergleichen wir den Grundtext mit der Uebersetzung Luthers, so können wir nicht läugnen: im Grundtext heißt es zunächst und eigentlich: „führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen,“ und das giebt auf den ersten Anblick einen etwas verschiedenen, beschränkteren Sinn. Denn Böse ist das Gesetzwidrige im Gebiet der Sittlichkeit, Uebel ist das Gesetzwidrige auf dem Gebiete der Natürlichkeit. Man kann vom Uebel frei sein, ganz und vollständig, und ist doch noch böse. Von der andern Seite hängt indeß Beides doch wieder unwidersprechlich eng zusammen; das Eine ist der Grund, das Andere die Wirkung; so lange das Böse in der Welt vorhanden ist, wird auch das Uebel nicht fehlen. Ja, das Wort Uebel hat in der Uebersetzung das für sich, daß es das allgemeinere Wort ist, welches beides zugleich umfaßt, den Grund und die Wirkung, alle geistliche und leibliche Noth zusammengenommen. Wir erschöpfen daher am gewissesten den Sinn des Gebets, wenn wir beide Bedeutungen vereinigen und die siebente Bitte in der zwiefachen Beziehung betrachten: 1) erlöse uns vom Bösen, und 2) erlöse uns vom Uebel.
Erlöse uns vom Bösen, zunächst offenbar: vom Bösen in uns. Das Böse in uns ist das größte aller Uebel in der Welt, und ein so tiefes, allgemeines Grundübel, daß die heilige Schrift reich ist an Namen zur^ Bezeichnung desselben. Bald heißt es die Lust: „Ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eignen Lust gereizt und gelockt wird“ (Jac. 1, 14.); bald das Fleisch: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch; dieselbigen sind wider einander, daß ihr nicht thut, was ihr wollet“ (Gal. 5, 17.); bald das Gesetz in den Gliedern: „Ich sehe ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstrebet dem Gesetz in meinem Gemüthe, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern“ (Röm. 7, 23.); bald der alte Mensch, der durch Lüste in Irrthum sich verderbet (Eph. 4, 22.); bald die Sünde, die in uns wohnet. (Röm. 7, 16. 17.) Und wer mag sie nennen, die verschiedenen Offenbarungsweisen und Aeußerungen, durch welche sie in Lüsten und Begierden, in Worten und Werken ans Tageslicht tritt? Ihre Anzahl ist unermeßlich, ihre Wirkung allzerstörend, ihre Macht überwältigend, ihr Fluch grauenvoll und niederschmetternd. Wahrlich, wer nur einmal in seinem Leben gefühlt hat, was es heißt: Sünder sein, schuldig sein vor Gott, verworfen sein vor seinem Angesichte, unter dem Zom des Allheiligen und Gerechten im Himmel stehen, der wird auch die Bitte lebenslang, so lange nur noch ein Funke des Bösen in ihm glimmt, so lange noch eine Möglichkeit zu sündigen für ihn bleibt, zu der seinigen machen: „Erlöse uns von dem Bösen.“ Zwei Arten von Menschen nur pflegen sich von dieser Bitte auszuschließen, das sind die Sichern und die Stolzen, beide, weil sie sich selbst nicht kennen. - Die Sichern, die in ihrem Leichtsinn dahingehen, ohne weder den Ernst des Gesetzes, noch die Gewißheit des Gerichts zu bedenken. Sie sehen nur um sich, nie in sich; sie denken nur an Andere, nie an sich selbst; sie finden bei jedermann Allerlei zu tadeln, nur sie selbst sind ohne Flecken und Anklagen. Wenn sie einen Wunsch nach Erlösung hätten, so könnte er sich nur auf äußeres Uebel beziehen, auf Erlösung von Krankheit, Armuth, Mangel, Sorgen, Kränkungen, und wenn's ihnen gar zu arg dünkt, auf Erlösung vom äußern Leben durch den Tod; und auch dieser Wunsch entstände nur aus Feigheit und Verzagtheit, weil ihre fleischliche Sicherheit gestört worden ist und sie nicht den Muth haben, solchem Uebel frei und männlich die Stirn zu bieten. Ihnen gilt das prophetische Wort: „Was murren die Leute im Leben also? Ein jeglicher murre wider seine Sünde.“ (Jer. 3, 39.) Aber über diese Sünde eben klagen sie nie, von ihr wünschen und erflehen sie nimmer Befreiung, weil sie sie nicht kennen und sich einbilden, rein und gut zu sein. So wähnt der Fieberkranke gerade in den stärksten Anfällen seiner Krankheit, er sei gesund! So bildet der Wahnwitzige sich ein, er sei vernünftig und rede recht! Entsetzliche Selbsttäuschung! Wann wird sie verschwinden unter dem menschlichen Geschlecht? Wann werden uns einmal die Augen aufgehen, daß wir aufhören, das Allernächste in der Ferne zu suchen und schwarz für weiß, weiß für schwarz zu halten? In der That, diese unbegreifliche Selbsttäuschung reicht schon hin, um den tiefen Verfall unseres ganzen Geschlechts zu beurkunden. - Aber auch die Stolzen wollen nicht beten: Erlöse uns vom Bösen; die geistlich Stolzen nämlich, die allerdings zum Glauben an den Herrn gelangt sind und die Erkenntniß der Wahrheit erhalten haben, aber Demuth und Selbsterniedrigung nicht besitzen. Es hat nämlich zu allen Zeiten Menschen gegeben, welche nicht nur die Möglichkeit einer vollendeten Heiligkeit auf Erden angenommen und Grade -und Stufen in derselben, sondern auch die Stelle: „Wer aus Gott geboren ist, der thut nicht Sünde, und kann nicht sündigen, denn er ist von Gott geboren“ (1. Joh. 3, 9.) so mißverstanden haben, als ob die Gläubigen nicht mehr sündigen könnten und durch ihre Gemeinschaft mit dem Herrn über jede Fähigkeit zur Sünde vollkommen hinausgekommen wären. Ein ungeheurer Hochmuth! Eine arge Verwechselung der Erde mit dem Himmel! Wie? Paulus schreibt: „Ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich's ergriffen habe“ (Phil. 3, 13.); Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn, der an seiner Brust gelegen und am meisten von seinem Wesen in sich aufgenommen hatte, schreibt: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh. 1, 8.) - und sie bilden sich ein, nicht mehr sündigen zu können? Haben sie denn gar kein Fleisch und Blut mehr in sich? Kämpfen sie denn nicht mehr gegen die Sünde? Sonst lautet die allgemeine Erfahrung aller Christen, daß je weitere Fortschritte sie machen in der Heiligung, sie desto mehr auch die Hindernisse derselben fühlen; daß je mehr sie wachsen im Christenthum, sie desto tiefer auch inne werden, wie viel ihnen noch fehle: haben sie denn an dieser allgemeinen Erfahrung nie Antheil gehabt? Giebt es denn gar keine Stunden mehr in ihrem Leben, wo sie klagen müssen über ihren Unglauben, ihre Selbstsucht und Eigenliebe, ihr heftiges, zorniges und unzufriedenes Temperament? Können sie denn jeden Abend sich zu Bette legen mit dem Bewußtsein: Gottlob, der heutige Tag war ganz dem Herrn geweiht? Gehen sie denn nie zum Abendmahl, wo doch nur die würdig sind, welche sich desselben unwürdig fühlen? Drängt sich denn an ihren Geburtstagen oder zu Neujahr, wenn wieder ein Lebensjahr vor Gottes Gericht steht, keine Beschämung, keine Beugung, kein Schuldbekenntnis keine Bitte um Nachsicht und Vergebung in ihnen auf? Es ist nicht möglich, auf die Dauer kann der Wahn einer vollendeten Heiligung nicht anhalten, und wenn auch nicht früher, auf dem Todtenbette gewiß muß fallen jeder Schleier, den sie sich vor die Augen gezogen haben; da, im Angesichte des Gerichts werden und müssen sie es fühlen, daß es auch im Christenthum bei der Wahrheit bleibt: „Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollten“ (Röm. 3, 21.), daß das Leben wimmelt von Sünden in Gedanken, Worten und Werken, daß jeder Mensch immer noch viel schlechter ist als er sich erkennt, und daß er Ursach über Ursach hat zu beten: „Erlöse uns von dem Bösen.“ Wie lange das Böse auch ruhen mag in der Brust, zu gelegener Zeit wacht es immer wieder auf. Wie oft geschlagen und überwunden es scheinen mag: ehe wir es uns versehen, hat es uns wieder überwunden. So geht es fort von der Kindheit bis zum hohen Alter, und in jeder Lebenszeit erscheinen neue Versuchungen, die sich mit den alten, hundertmal bitter bereuten, beweinten, abgeschwornen und doch immer wieder erwachten zu einem unheimlichen Bündniß verbinden und uns überzeugen, daß wir noch nicht viel besser geworden; ja, oft im hohen Alter erscheinen noch Sünden, die wir in der Jugend vermieden und von denen wir uns nie früher hätten träumen lassen. Was wir auch aufbieten, das wird uns von Jahr zu Jahr klarer: wir können uns nie von der Sünde erlösen. Wie stark wir auch sonst sein mögen: hier sind wir viel zu schwach; äußerlich mögen wir wohl ablegen eine böse Angewöhnung, innerlich werden wir uns nie reinigen; das Wollen des Guten haben wir wohl, aber das Vollbringen desselben fehlt uns. Muß es da nicht heißen alle Morgen und alle Abend: Erlöse uns vom Bösen, von dieser Centnerlast in uns? denn das Böse ist unser größter Feind, alle Qual und Noth des Lebens, aller Jammer und Weh des Herzens rührt einzig und allein daher, daß wir noch so böse sind. O, möchte es bald anders, möchte es endlich einmal besser werden, daß dieses stümperhafte Aufstehen und Fallen, Entschließen und Bereuen, Vorwärts- und Rückwärtsgehen einem steten, festen, ruhigen und sichern Eilen zum Ziele wiche!
Erlöse uns vom Bösen, beten wir. und meinen damit nicht allein das Böse in uns, sondern auch das Böse außer uns. Denn wenn es auch nicht zu läugnen ist, daß seit dem Erscheinen des Christenthums in der Welt sich Vieles in derselben zu ihrem Besten verändert, und eine größere Milde, Geistesfreiheit, Erkenntniß der höher n Welt, Verfeinerung der Sitten, Bildung aller Stände Raum gewonnen hat: so ist es von der andern Seite doch auch wahr, daß das Böse noch nicht ausgerottet; sondern nur mit verfeinert und übertüncht worden ist und nur andere Namen als Bezeichnungen derselben Sache erhalten hat; ja, daß in den verschiedenen Abschnitten und Jahrhunderten die Sünden und Laster hinter einander wie um die Wette abgewechselt haben. Es gab eine Zeit in der Christenheit, in der weniger Wissen war als jetzt, aber mehr Glaube; weniger Verstand, aber mehr Herz; weniger Klugheit, aber mehr Einfalt; weniger Welt, aber mehr Geist; weniger Schein, aber mehr Wahrheit; weniger Glanz, aber mehr innerer, gediegener Werth; weniger Kunst, aber mehr Natur; weniger Reden, aber mehr Thun; weniger Befehlen, aber mehr Gehorchen gang und gäbe war unter unsern Vorfahren. Man fing klein an und endete groß; man nahm böse Tage für gute, weil man beide aus Gottes Hand annahm; es herrschte wohl weniger Anstand als jetzt, aber viel mehr Zucht und Gottesdienst; man hätte es für gewissenlos gehalten, das Vergnügen der Pflicht und Berufsarbeit vorzuziehen, die Familie ging immer der Gesellschaft vor; die Kinder wurden mehr zu Hause erzogen; die Frauen nur von Männern gesucht, während jetzt oft das reine Gegentheil Statt findet. Neben diesen wechselnden Sünden giebt es dann aber auch wieder andere, die durch alle Zeiten gleichmäßig sich hindurchziehen, die ein Geschlecht auf das andere vererbt, und die nimmer aussterben wollen. Dahin gehören nicht allein die offenbaren Sünden der Zwietracht, der Verläumdung, des Diebstahls, der Trunkenheit und Wollust; dahin gehören auch die feineren der Verführung, der Selbstsucht, der Feindschaft gegen das Evangelium, der Weltlust und Vergnügungssucht, der Sicherheit und des Unglaubens. Wie oft treten auch in unsern Tagen diese fürchterlichen Zeichen der Zeit uns verlockend und beängstigend entgegen! Hier das Laster frech sein Haupt erhebend, dort himmelschreiende Ungerechtigkeiten in Menge begangen! Hier die Lüge vor dem Herrscherstuhl und Schmeichelei, dort Gewissenstyrannei und Glaubenszwang! Hier Schulen, in denen die Kinder, statt zu Christen, zu Bekennern des Unglaubens und der Spottsucht gebildet werden; dort Häuser, in denen der Leicht- und Weltsinn der Eltern das zerstört, was treue Lehrer mühsam aufgebaut haben! Während sechshundert Millionen im Heidenthum und seinen Gräueln schmachten, hört man in den christlichen Ländern von Kriegen und Empörung, jeder Schritt ihrer Geschichte ist mit Blut befleckt, und die Zeitungen sind angefüllt von Nachrichten über Verbrechen und unnatürliche Missethaten; Vereine und Gesellschaften zu Tanz, Spiel, Unzucht, Fressen und Saufen sind erlaubt, sittenlose und gottlose Bücher werden gedruckt und zu tausenden von Exemplaren verbreitet; und man traut manchmal kaum seinen Augen, wenn man durch die Straßen geht, und auf der einen Seite Worte hört, bei denen einem die Haare zu Berge stehen, auf der andern Bilder, Gemälde, Darstellungen gewahrt, in denen der Zucht und Sitte Hohn gesprochen wird, und möchte fragen, ob man noch unter Christen lebt oder nicht? Und o! wie viel Versprechungen werden gebrochen, wie selten ist deutsche Ehrlichkeit und Redlichkeit! Wie viel Tausende leben ganz ohne Gott in dieser Welt! Wie viel Ehen werden geschlossen und aufgelöst! Wie viel Selbstmorde begangen! Wie sind die Gefängnisse überfüllt! Wie wird die Jugend in den Fabriken verwahrlost! Wie selten giebt es wahre Freunde und Treue in der Freundschaft beim Wechsel des Glücks! Wie fallen selbst Gläubige, auf die wir uns unbedingt verlassen und Häuser gebaut hätten, in große Schwachheiten und Vergehungen! Und wenn nun gar darunter unsere nächsten Verwandten, unsere Gatten, Geschwister, Kinder, Blutsfreunde sich befinden: möchte man da nicht strafen, eifern, zürnen, von den Dächern Buße predigen, zu Blitz und Donner der Rede greifen und offnen Krieg führen gegen solch ungöttlich Wesen? Ja, wir verstehen euch, ihr heiligen Männer, die der Eifer um das Haus des Herrn verzehrt hat; wir verstehen dich, Moses, daß, als du, vom Sinai herabkommend, das Volk tanzen sahest um das goldene Kalb, du das Götzenbild verbranntest, zu Pulver zermalmtest, in Wasser zu trinken gabst und Dreitausend tödten ließest durch das Schwerdt der Leviten; wir verstehen dich, Elias, daß du hervorbrachst wie ein Feuer, und dein Wort brannte wie eine Fackel, und als nun all dein Predigen, Eifern, Bannen des Götzendienstes umsonst zu sein schien, dich niederwarfst und ausriefst i „Es ist genug, Herr, nimm nun meine Seele von mir, ich bin nicht besser denn meine Väter;“ wir verstehen dich, Petrus, daß du zum Heuchler Ananias sprachst: „Anania, warum hat der Satan dein Herz erfüllt, daß du dem heiligen Geist lügest?. Du hast nicht Menschen, sondern Gott gelogen,“ und zum Zauberer Simon- „Daß du verdammt werdest mit deinem Gelde, daß du meinest, Gottes Gabe werde durch Geld erlanget,“ wir verstehen dich, Luther, großer Reformator, daß du hinausgingst vor Wittenbergs Thor und die päpstliche Bulle ins Feuer warfst mit den Worten Josua’s: „Weil du den Heiligen des Herrn betrübet hast, so betrübe dich das ewige Feuer!“ Hat Jesus doch selbst Wehe gerufen über die Pharisäer; hat Er auf dem Oelberge doch geweint über Jerusalems Verstockung und Schicksal; hat Er in Gethsemane doch mit Zittern und Zagen und ungeheurer Herzensangst die Sünden der ganzen Menschheit durchgefühlt und durchgekämpft in seinem Herzen! Wie sollte uns der Wunsch: „Der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden und die Gottlosen nicht mehr sein“ (Ps. 104, 35.) nicht auch mitunter fortreißen können zur Wehmuth, zum Unmuth, zum Zürnen und Eifern? Doch nein, besser ist es, nicht eifern; besser ist es, das Unsrige thun in Demuth und Weisheit, und dann um so brünstiger beten: „Erlöse uns von dem Bösen,“ Herr, wir vermögen nicht zu helfen, noch die Welt, die im Argen liegt, zu reformiren. Du allein vermagst es; o steure dem Bösen, heile den verzweifelten Schaden, erbarme Dich Deines Eigenthums, Deiner Christenheit und Menschheit, und laß bald fallen der Sünde und des Unglaubens verderbliche Stützen.
Wie nahe liegt nun aber auch die zweite Bitte: Erlöse uns von dem Uebel! Das Böse ist schon an sich das größte Uebel, aber seine Folgen sind nicht minder furchtbar und herzzerreißend. Ach, alles Uebel in der Welt ist Wirkung der Sünde, und wie viel giebt es des Uebels! Schon das Kind in der Wiege fühlt sich unbehaglich in seinem Zustande und meldet seine Gefühle durch Weinen und Schreien, und der Greis, der am Stabe wankt und das Sinken aller Kräfte tagtäglich mehr mit Schrecken gewahrt, muß er nicht beim Rückblick auf's Leben mit Jacob sprechen: Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens? Es ist ein elend jämmerlich Ding um aller Menschen Leben, von Mutterleibe an, bis sie in die Erde begraben werden, die unser aller Mutter ist; da ist immer Sorge, Furcht, Hoffnung und zuletzt der Tod. (Sir. 40, 1. 2.) Tausendfältig ist das Elend und Herzeleid, das die armen Sterblichen martert und quält. Nehmen wir, welchen Menschen wir wollen in der Bibel: er ist ein Kreuzträger gewesen. Hiob lag in Schwären von der Fußsohle bis zum Scheitel. Tobias saß im Finstern und war des Lichts seiner Augen beraubt, Hiskias war todtkrank und flehete weinend um Verlängerung seines Lebens, Jacob hinkte an seiner Hüfte, Joseph schmachtete lange Jahre im Gefängniß, Isaak hatte viel Hauskreuz zu tragen, David erlebte Entsetzliches an ungerathenen Kindern, Johannes wurde enthauptet, Jesus wurde gekreuzigt, und die Apostel litten Verfolgung und blutigen Martertod. Es ist wahr, was die Schrift sagt: „Wir sind zum Leiden geboren und der Schmerz ist immer vor uns.“ (Ps. 38, 8) Wie viel Thränen werden täglich geweint! Wie viel Seufzer steigen aus Millionen Hütten zum Himmel empor! Wie viel Hände werden gerungen! Wie viel kranke, wie viel sterbende Menschen jammern nach Auflösung und Erleichterung! Jede Minute sterben gegen sechzig Menschen. Wer fühlt es nicht, daß es ein armes Leben hienieden ist? Wer hat die Erde nicht schon mit Luther ein Jammerthal genannt? Wer staunt nicht, daß noch so viel kann getragen werden von den Menschen, die keinen Glauben haben und die ohne die Hoffnung des ewigen Lebens sind? Nur Leichtsinnige, nur Schwärmer und Narren können träumen von wonniglichem, paradiesischem Dasein hienieden! Aber das Kreuz ist gut, wir sollen es leiden, und es darf uns nimmer ausgehen, so lange wir hier unten pilgern! Was würde aus uns werden ohne Kreuz? Wer kann ermessen die Segensströme, die gerade in den Tagen der Noth sich in unsere Seele ergießen? wer hat nicht gerade unter solchen Erfahrungen unendlich viel erlernt, was er sonst nimmer erkannt hätte, und was er jetzt zu den gesegnetsten Augenblicken seines Lebens rechnet? wer wird nicht einst im Himmel Gott mehr zu danken haben für die rauhen Wege, für die bösen Tage, für die dunkeln Wolken am Lebenshimmel, für die Wüsten voll Entbehrung und Oede, in denen er aber den Herrn gefunden und in Ihm sich erquickt hatte, als für die heitern Augenblicke seines Daseins? Das Kreuz ist dennoch gut, obwohl es wehe thut; der gute Gott es giebet, drum muß es sein geliebet. Ei, fasse guten Muth! Was bitter ist dem Munde, ist innerlich gesunde, es ist so gut, so gut!
Und doch erlaubt uns der Herr zu bitten: „Erlöse uns von dem Uebel?“ O wie milde und gnädig ist sein Erbarmen! Es hat Gesinnungen gegeben, die, weil sie den Segen des Leides erkannten, nun auch meinten, sie dürften demselben nicht aus dem Wege gehen, noch um Erleichterung bitten, sie müßten vielmehr das Leiden aufsuchen, und die sich daher nach demselben sehnten. So pflegte die heilige Therese zu beten: „Herr, laß mich leiden oder sterben,“ und eine andere Seele wandte sich, wenn sie lange nickt mit Leiden heimgesucht war, in Klagen zu Gott und fragte Ihn, ob Er sie vergessen habe? Wir wollen nicht richten über solche Gesinnung, wir wollen sogar gern die seltene Höhe der Gottesliebe und die Stärke der Selbstverläugnung anerkennen, welche ihr zum Grunde lag; aber das ist jedenfalls gewiß, natürlich ist jene Gesinnung nicht; christlich auch nicht; denn Christus lehrt uns vielmehr beten: „Erlöse uns von dem Uebel,“ und wenn Er sagt: „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht werth“ (Matth, 10, 38.), so spricht Er dort nur von dem durch Gott dem Einzelnen auferlegten, nicht aber von einem selbstherbeigewünschten Kreuze. In der ganzen Bibel findet sich keine einzige Stelle, in der uns gesagt wäre, wir sollten das Leiden wünschen oder gar erbitten; im Gegentheil sind alle Blätter voll von Bittenden, die dem Herrn nahen mit dem Flehen um Erbarmung. - Von der andern Seite hat es aber auch Gesinnungen gegeben, die, weil ihnen das Leiden lästig war, auf alle Weise dasselbe abzuschütteln suchten, und durch ungerechte Mittel, durch Betrug, durch Lüge, durch den Strudel der Ausschweifungen und Zerstreuungen, ja, durch Selbstmord, sich selbst erlösen wollten. Die Unglückseligen! Konnten sie sich wirklich durch solche Mittel erlösen? Vertauschten sie nicht vielmehr nur ein kleines Uebel mit einem großen? Fielen sie nicht um so sicherer dem Verderben und dem Gerichte Gottes in die Arme? Jesus lehrt uns nicht an uns, sondern an Gott uns wenden und beten: „Erlöse uns von dem Uebel;“ Er will, daß wir kindlich und vertrauensvoll mit allem, was uns drückt, unsere Zuflucht zu Gott nehmen sollen, der um alle unsere geheimsten Seufzer weiß und uns besser kennt und mehr liebt, als irgend ein anderes Wesen uns kennen und lieben kann. - „Aber, fragst du, wird Er mich auch erlösen von meinem Uebel?“ Ja, Er wird es, so wahr Er Gott, de Wahrhaftige, der Allmächtige, der Alliebende, so wahr Er dein Gott ist; Er wird es, denn Er hat es unzählige Mal gethan, und sein Arm ist noch nicht verkürzt, seine Liebe hat noch kein Ende. Warte nur in Geduld, harre still und freudig, wirf dein Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat, und benutze dein Kreuz recht zum innern Segen; zu seiner Zeit wirst du erfahren die Wahrheit des Liedes im höhern Chor: „Wann der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen: „„Der Herr hat Großes an ihnen gethan: Der Herr hat Großes an uns gethan, deß sind wir fröhlich.“ (Ps. 126,1-3.) Der letzte Feind, der aufgehoben werden muß, und die Spitze aller Uebel ist der Tod. Indem wir sprechen: „Erlöse uns von dem Uebel,“ beten wir demnach zugleich auch um Erlösung von den Schrecken des Todes und erstehen uns ein seliges Ende. Wir dürfen darum auch bitten; denn das Bedürfniß nach einem sanften Tode ist uns Allen angeboren, und spricht sich selbst aus in dem Seufzen der Creatur und ihrem ängstlichen Harren auf die Offenbarung der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Der alte Jacob flehete: „Herr, ich warte auf Dein Heil.“ Simeon betete: „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren, wie Du gesagt hast, denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen.“ Paulus schrieb an die Philipper: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, welches auch viel besser wäre.“ Johannes schließt seine Offenbarung mit dem Seufzer: „Komm, Herr Jesu, komm bald, Herr Jesu.“ Wer es täglich fühlen muß, daß er hier in der Fremde ist und auf der Reise, sollte der sich nicht sehnen nach der Heimath und ins Vaterhaus? Dort, dort schweigen alle Plagen, dort hat auch die längste und die letzte Noth ihr Ende, dort ist auch die bitterste Thräne versiegt, eingetreten ist vollkommne Erlösung von allem Uebel, und wir sind dann daheim bei dem Herrn, ohne Sünde, ohne Schmerz, ganz sein eigen, auf ewig verloren in sein Anschauen und Genießen, bei Ihm die Unsrigen wiederfindend, nicht mehr als schwache, arme Sünder, sondern als Heilige und Selige Gottes. Unsere Thränen sind Perlen, unsere Kreuze sind Kronen, unsere Seufzer sind Halleluja's geworden. Und o mit welch andern Blicken werden wir dann die Erde anschauen und sagen: wohl war sie ein Jammerthal, aber sie war auch meine Bildungsschule; denn in ihren Prüflingsstunden bin ich zum Herrn Jesu gekommen, in ihr habe ich schon manchmal Gottes Herrlichkeit geschaut, in ihr beten und lieben gelernt; - Wohlan, wir hören den erfrischenden Ruf der heiligen Schrift: Seid fröhlich und getrost, hebet eure Häupter auf, darum, daß sich euer Erlösung nahet, und wartet sehnsuchtsvoll fort und fort auf das Kommen des himmlischen Bräutigams. Bald wird es heißen: „Siehe, ich komme, und mein Lohn mit mir.“ Bald wird auf unsere Bitte: „Erlöse uns von dem Uebel“ die Antwort erklingen: „Siehe, ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Ueber ein Kleines noch, und wir sehen Den, den unsere Seele liebte, noch ehe wir Ihn gesehen, und freuen uns ewig mit unaussprechliche! und herrlicher Freude. Bis dahin aber heiße unser Seufzen:
Mach End, o Herr, mach Ende
Mit aller meiner Noth.
Stärk meine Füß und Hände,
Und laß bis in den Tod
Uns allzeit Deiner Pflege
Und Treu empfohlen sein:
So gehen unsre Wege
Gewiß zum Himmel ein.