Anselm von Canterbury - Homilien und Ermahnungen. Fünfte Homilie.

Über das Evangelium nach Matthäus: Jesus der Herr trug seinen Schülern folgende Gleichnisrede vor: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, einem König, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte. Und da er anfing abzurechnen, wurde Einer vor ihn gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldete. usw. (Mat. 18.)

In diesem Abschnitt werden wir ermahnt, den Brüdern, die sich an uns versündigen, zu vergeben, wenn wir wollen, dass uns von Gott das, was wir gegen ihn versündigt haben, vergeben werde; oder vielmehr, wenn wir wünschen, er möchte das, was er uns bereits erlassen hat, nicht mehr von uns fordern. Denn siehe wie erzählt wird, erlangte der Knecht, der zehntausend Talente schuldig war, die Erlassung der ganzen Schuld von seinem Herrn: weil er aber hierauf seinem Mitknechte hundert Denare nicht erlassen wollte, ward er genötigt, alles, was ihm von seinem Herrn erlassen worden war, zu erstatten. Denn er hätte seinem Mitknechte gerne das Geringere erlassen sollen, da ihm, wie er wusste, vom Herrn das Größere erlassen worden war. Aber sehen wir uns die Worte des heiligen Abschnitts nach einander an. Es gleicht, heißt es, das Himmelreich einem Menschen, einem Könige, denn wie dieser König nach der Beschreibung gehandelt hat, wird auch nach dem Beschlusse im Himmelreiche gehandelt werden. Himmelreich aber heißt auch auf dieser Welt die Kirche der Gläubigen; weil der Herr bereits über sie, wie über Engel regiert, so lange sie sich bestreben, nach Kräften ein himmlisches Leben auf Erden zu führen. Und wegen ihres ausgezeichneten Verdienstes heißt die Gesamtkirche, deren Glieder sie sind, Himmelreich; obgleich es in ihr Viele gibt, die mehr das Irdische als das Himmlische suchen, und in ihrem Betragen Christum noch nicht, wie es sein sollte, regieren lassen. Unter dem Menschen aber, dem Könige, dem dieses Reich gleicht, versteht man den Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Christus Jesus, von dem es an einer andern Stelle heißt: Ein gewisser Edelmann verreiste in ein fernes Land, um ein Königreich in Empfang zu nehmen und zurückzukehren (Luk. 19, 12).

Welcher mit seinen Knechten Rechenschaft halten wollte, weil es ihm beliebte, gerichtliche Rechenschaft von Allen über ihr Tun zu fordern. Und da er anfing abzurechnen, ward Einer vor ihn gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldig war. Er beginnt abzurechnen, denn wie Petrus sagt: Ist es Zeit, dass das Gericht am Hause Gottes anfange (1. Ptr. 4,17). Er beginnt abzurechnen, wenn er mittels der Beschwerde der Krankheit die Menschen aufs Bett und zum Tode schleppt, um sie zu nötigen, Rechenschaft zu geben, indem er im Gerichte Untersuchung über ihre einzelnen Handlungen anstellt. Indem er nun so begann, abzurechnen, das heißt, wenn er will mit Krankheit zu bedrängen, damit man sich gleichsam schon vor den Richterstuhl gestellt denke, um ihm Rechenschaft zu geben, so ward Einer vor ihn gebracht, das heißt mittels des Dienstes der Engel zum Sterben genötigt, der ihm zehntausend Talente schuldig war, das heißt vieler schweren Verbrechen wegen festgehalten wurde. Denn die Zehnerzahl bezeichnet die Erfüllung der göttlichen Gebote, wegen der zehn Gebote des Gesetzes. Die Tausendzahl aber (bedeutet) die gänzliche Vollbringung. Das Talent aber ist, wie man sagt, die größte unter allen Gattungen von Summen. Zehntausend Talente also bezeichnen die Vollbringung schwerer und großer Verbrechen, begangen durch vollständige Überschreitung der Gebote Gottes. Und in so großer Schuld steckte der, von dem es heißt, er sei vor den König gebracht worden, das heißt er ward durch Krankheit von Engeln zum Tode gedrängt. Da er aber nicht hatte, womit er zurückzahlte, befahl der Herr ihn und sein Weib und seine Kinder, samt Allem, was er hatte, zu verkaufen und zurückzuzahlen. Er hatte nicht, womit er zurückzahlte, da er aus sich nur seine Verschuldung hatte; aber aus sich selbst hatte er nicht, womit er zur Erlassung sich erheben mochte. Und darum befahl der Herr, ihn zu verkaufen, das heißt ihn den Teufeln zur ewigen Verdammnis zu übergeben, und ihn zu bestrafen. Und das Weib, das heißt seine fleischliche Lust und Begierde, und Kinder, das heißt seine sündhafte Werke; und Alles was er hatte, das heißt seine Worte und Gedanken. Denn er wird verkauft mit Weib und Kindern samt Allem, was er hat, um seine Schuld zu bezahlen, wann er durch den leiblichen Tod diesem Leben entzogen wird; und mit dem Vergehen seiner fleischlichen Lust und Begierde und seiner Werke und Worte und Gedanken wird er auf ewig den bösen Geistern zum Besitz übergeben, um ewige Strafen zu büßen, und so der göttlichen Gerechtigkeit genug zu tun. Jener Knecht aber fiel nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, so werde ich dir Alles zurückbezahlen. Alsdann fiel der Knecht vor dem Herrn nieder und flehte demütig um Befreiung vom Verkaufe, das heißt von der Verdammnis; wenn der, welcher um seiner Sünden willen den nahen Tod im Bewusstsein seiner Verdammnis fürchtete, sich in Demut der Milde Gottes überlässt und durch wahre Buße und reine Seelenaufrichtigkeit zu Gott bekehrt, mit dem Versprechen, er wolle im Übrigen Gott Alles erstatten, was er ihm schuldig sei, wenn er dem ihm drohenden Todesurteil entgehe. Denn wer alle seine Übeltaten gut macht, und sofort fromm lebt, erstattet Alles, was er dem Herrn schuldig war. Der Herr aber erbarmte sich jenes Knechts, ließ ihn gehen, und erließ ihm die Schuld. Der Knecht bat demütig um Aufschub, und der Herr gewährte barmherzig Erlassung. Denn er ließ ihn gehen, das heißt er ließ ihn freiwillig los, indem er ihm wieder das Leben schenkte. Und mittels Nachlass und Buße erließ er ihm die ganze Sünden schuld. Als aber jener Knecht hinausgegangen war, fand er Einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Und er ergriff und würgte ihn, indem er sagte: Zahle, was du schuldig bist. So lange der Knecht in der Not vorbenannter Verlegenheit sich befand, stand er gewissermaßen vor dem Angesichte des Herrn. Sobald er aber entlassen ist, so dass er nun ganz beliebig Gutes oder Böses tun konnte; dann ging er weg von seinem Herrn, denn Gott der Herr ist überall, und Niemand kann irgendwo weggehen, wo er nicht wäre. Aber wie gesagt, dann ging der Knecht nicht dem Orte, sondern seiner Befreiung nach vom Herrn weg, als er wieder seinem freien Willen überlassen wurde. Nach dem er aber hinaus gegangen war, fand er Einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Dieser Mitknecht war auch ein Mensch, der wie jener sich vorgenommen hatte, dem Könige zu dienen. Aber er war ihm hundert Denare schuldig, weil er gesündigt hatte, indem er ihm einige Beleidigungen zugefügt hatte. Denn die hundert Denare bezeichnen die Sünden, die der Mensch gegen den Menschen begeht; sowie zehntausend Talente das bezeichnet, was er wider Gott begeht. Denn sowie der Betrag von hundert Denaren klein ist im Vergleiche mit dem Betrage und der Zahl von zehntausend Talenten, so ist Alles, womit sich ein Mensch an uns versündigt, klein und wenig im Vergleiche mit den Sünden, die wir gegen Gott Tag und Nacht und in jeder einzelnen Stunde begehen. Denn wenn gleich der Hundertfache Vollbringung bedeutet, so bezeichnet doch der Tausendfache vollständigere Vollendung. Auch ist ein Talent unglaublich mehr als ein Denar. Damit wird klar dargetan, dass das, womit wir uns an Gott versündigen, groß und viel ist, das aber, womit sich Menschen an uns versündigen, klein und wenig ist. Und deshalb, wenn uns Gott gerne so vieles und großes Böse, das wir wider ihn begehen, erlässt, sollen wir viel leichter den Menschen das Wenige und Geringe vergeben, womit sie sich an uns versündigt haben. Aber jener Knecht wollte nicht so handeln. Denn er fand, wie gesagt, Einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war und ergriff und würgte ihn. Er ergriff ihn, weil er ihm nicht erlassen wollte, womit er sich an ihm versündigt hatte. Und er würgte ihn, das heißt er ängstigte ihn am Geiste, und strengte sich an, ihn wegen der an ihm begangenen Sünden zu töten. Denn der ergreift seinen Schuldner, den Mitknecht, das heißt seinen Bruder, der sich an ihm versündigte, der ihm das, womit er sich an ihm versündigt hat, nicht vergibt; sondern die Beleidigung, die er von ihm erlitten hat, mit dem Herzen im Gedächtnisse behält. Er würgt ihn auch, indem er seine Seele geistig zu erdrosseln sucht und niederbeugt, und in Angst setzt durch die Gefahr der Sünde, indem er ihm nicht erlässt, was er wider ihn begangen hat, sondern ihn mit der Versündigung fesselt. Bezahle, sagte er, was du schuldig bist, das heißt, entrichte mir nun unverweilt, was Recht ist wegen aller Beleidigungen, die du mir zugefügt hast. Und sein Mitknecht fiel nieder, bat ihn und sagte: Habe Geduld mit mir, so will ich dir Alles bezahlen. Sein Mitknecht fiel nieder und bat ihn, weil er demütig ihn wenigstens um Aufschub bat, indem er sagte: Habe Geduld, warte mir geduldig zu; so will ich dir Alles bezahlen, das heißt, ich will Alles, womit ich mich an dir versündigt habe, gut machen, und mich in der Folge gut gegen dich betragen. Jener wollte aber nicht; sondern ging fort und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlen würde. wollte seinem Mitknecht nicht geduldig zuwarten, dass er es gut mache, er wollte ihm keinen Aufschub gestatten; sondern ging fort ohne Scheu vor seinem Herrn, und ließ ihn ins Gefängnis werfen. Er ging fort, das heißt, indem er einen Abfall beging und zum Schlechteren sich zurückwandte, ging er fort, und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlen würde, das heißt, er stürzte ihn, soviel es in der Macht seines bösartigen und hartnäckigen Willens lag, in die Hölle, bis er für seine Schuld ewige Strafen litt. Denn es gibt manche Menschen von bösartigem Sinne, deren Bild jener Knecht ist, die die schweren Sünden, die sie begangen haben, vergessen und daher, wenn sie auch nur leicht durch die Schuld eines Bruders, der sich an ihnen versündigt, beleidigt werden, einer solchen Hartnäckigkeit sich hingeben, dass, was man nicht einmal sagen sollte, sie wünschen, ihr Bruder möchte lieber in ewigen Strafen zu Grunde gehen, als dass sie ihm das verzeihen, womit er sich an ihnen versündigt hatte. Als aber seine Mitknechte sahen, was geschah, wurden sie sehr betrübt. Und sie kamen und erzählten ihrem Herrn Alles, was geschehen war. Unter Unter seinen Mitknechten versteht man hier Priester und fromme Leute, die sehen, was Schlimmes von ihm dem Bruder zugefügt wurde, und sehr betrübt sind. Und sie kamen und erzählten das Alles ihrem Herrn. Denn sie kehrten in ihrem Herzen ein, und gaben sich dort der Betrachtung Gottes hin und beklagten sich in ihrem Gebete vor ihm über das Alles. Auch die heiligen Engel kann man unter den Mitknechten verstehen. Denn als Johannes in der Offenbarung einen Engel anbeten wollte, sprach der Engel zu ihm: Siehe zu, dass du es nicht tust, ich bin dein Mitknecht und gehöre zu deinen Brüdern (Offbr. 22,9). Mitknechte sind also die Engel, die sahen, was der böse Knecht tat und sehr betrübt wurden: denn sie sind uns zum Schutze beigegeben, und sehen aufmerksam nach Allem, was wir tun, und freuen sich über unsere guten Handlungen, sind aber über die bösen betrübt. Sie können jedoch nicht der Betrübnis sich hingeben, weil sie vollkommen selig sind; sondern ihre Traurigkeit besteht darin, dass ihnen unser Böses missfällt. Sie wurden also sehr betrübt, das heißt, es missfiel ihnen sehr, dass sie Unrecht tun sahen. Und sie kamen und erzählten ihrem Herrn Alles, was sich begeben hatte: denn sie tragen Alles, was wir tun, sei es gut oder bös, Gott vor, um zu erfahren, was sein Befehl über das Alles sei. Hierauf rief ihn sein Herr und sprach zu ihm: Nichtswürdiger Knecht, die ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. Hättest du dich nicht auch deines Mitknechtes erbarmen sollen, gleichwie auch ich mich deiner erbarmet habe? Den ungerechten Knecht ruft der Herr wieder; und hält ihm vor, warum er, der Barmherzigkeit erlangt habe vom Herrn, sich seines Mitknechts nicht habe erbarmen wollen; wenn er den, der uneingedenk der von Gott erhaltenen Nachsicht dem Bruder nicht das verzeihen will, womit er sich an ihm versündigt hatte, zum Tode durch leibliche Krankheit ruft, und so zum Gerichte, und auch seine Sünden wälzt er wieder auf sein Haupt, deren Erlass durch Buße er sich bereits erfreute. Denn ein Gericht ohne Barmherzigkeit ergeht über den, der nicht Barmherzigkeit geübt hat (Off. 11,13). Daher heißt es auch sogleich weiter: Und sein Herr ward zornig und übergab ihn den Peinigern, bis er die ganze Schuld zurückbezahlen würde. Denn wer mit seinem Bruder keine Nachsicht haben wollte, sondern ihn für eine Schuld ins Gefängnis werfen ließ, verliert selbst mit Recht die Nachsicht, die ihm zu Teil geworden, und kommt in die Hände der Peiniger. Denn wer einem Menschen nach Gottes Bild geschaffen auf seine Bitten seine Sünde nicht erlässt, sondern ihn mit verhärtetem Sinne, so sehr es ihm möglich ist, dem höllischen Gefängnisse zur Strafe übergibt, ist bei Gott verhasst, und erwirbt sich unzweifelhaft die gleiche Verdammnis. Sein Herr wird also zornig, das heißt, er übte gegen ihn die Härte gerechter Rache aus. Denn Gott kann nicht seiner Natur nach zornig werden, da er in beständiger Ruhe und Unveränderlichkeit verharrt; sondern er scheint denen zornig, denen er mit Rache vergilt. Und deshalb heißt die Rache selbst sein Zorn. Er ward also zornig und übergab ihn den Peinigern, das heißt den bösen Geistern, dass sie ihn in der Hölle quälen sollten, bis er die ganze Schuld zurück bezahlen würde, das heißt ohne Ende. Denn jeder, der einmal unwiderruflich den grausamen Engeln übergeben ist, deren Amt es ist, die Verworfenen zu quälen, ist nicht mehr im Stande, die Schuld heimzuzahlen: denn er kann nicht mehr durch Buße und gute Werke seine Übeltaten gut machen, und muss deshalb ewige Strafen leiden. Worauf aber diese Gleichnisrede ziele, zeigt der Herr unmittelbar, indem er beisetzt: So wird mein himmlischer Vater auch euch tun, wenn ihr nicht, ein Jeder seinem Bruder von eurem Herzen vergebet. Gleichwie er aber vom Knechte Alles wieder forderte, was er erlassen hatte, und ihn, da er nicht bezahlen konnte, verdammte, weil er seinem Mit-knechte nichts erlassen wollte; so wird auch mein Vater an einen jeden von euch Alles fordern, was er ihm durch Buße erlassen hat; wenn jener seinem Bruder Alles, womit er sich an ihm versündigt hat, nicht von Herzen erlassen haben sollte. So wird mein Vater jeden Einzelnen von euch vor Gericht rufen, und wieder fordern, was er zuerst aus Mitleid erlassen hat, und euch den Peiniger-Engeln übergeben: wenn ihr nicht, ein Jeder seinem Bruder jede Sünde vergebet, die an euch jener. Bruder begangen hat; und zwar nicht heuchlerisch sondern wahrhaft von eurem Herzen vergebt, so dass nichts im Herzen zurückbleibt, nachdem ihr es mit dem Mund vergeben habt. Der Vater wird jedoch nicht durch sich selbst solches Gericht halten, sondern durch den Sohn: weil, wie der Apostel sagt, Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird (Röm. 2,16). Deshalb müsst ihr von euren Herzen des Bruders Sünde vergeben, weil Gott das Verborgene der Menschen richten wird, damit er es nicht jetzt in der Verborgenheit unserer Herzen verborgen liegen sieht, und dann dafür die offene Verdammnis verhängt. Beeifern wir uns, Barmherzigkeit und Liebe gegen den Nächsten zu haben, indem wir ihm barmherzig das erlassen, womit er gegen uns gefehlt hat, und ihn von reinem Herzen lieben, damit auch wir ein Gleiches von unserem milden Richter erlangen, der lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.