Anselm von Canterbury - Homilien und Ermahnungen. Zweite Homilie.

Über das Evangelium nach Matthäus: Als Jesus die Scharen sah, stieg er den Berg hinan. Und nachdem er sich gesetzt hatte, lehrte er seine Schüler und sprach: Selig die Armen im Geiste (Mat. 5,1).

Selig die Armen im Geiste, die nicht aus Not, sondern mit freiwilliger Hingabe Alles verachten und für Gott leben. Diese Armut hat zwei Teile: Lossagung von den Dingen, auch wenn man sie nicht für sich hat, sondern zu einem frommen Werke; und Zerknirschung des Geistes, dass er sich von sich selbst lossagt. Diese Tugend, nämlich die Armut, wird mit Recht zuerst aufgeführt, denn wenn sie nicht den Vortritt hat, hat das Nachfolgende keine Wirkung; und wenn sie auch ohne das Nachfolgende den Menschen nicht vollkommen macht; so verdient sie doch mit Hilfe der göttlichen Gnade die Seligkeit. Weil sie aber trotz der Verachtung ihrer Sachen doch noch wegen der Gebrechlichkeit des Fleisches durch irgend eine Schmach sich aufbringen lassen könnte, so setzt er bei: Selig die Sanften. Die nämlich, welche der Zorn oder etwas der Art nicht angreift, sondern die Alles mit Gleichmut ertragen. Diese Tugend wird an Moses gelobt. Christus selbst macht sich zu ihrem Lehrer nach ihrer Größe, wenn er sagt: Lernt von mir, denn ich bin sanft und demütig von Herzen (Matth. 11,29). Diese besitzt das wahre Land. Bemerke das entsprechende Aufsteigen. Das erste ist nämlich die Weltverachtung, dem mit Recht das Ewige verheißen wird. An die zweite Stelle wird die Sanftmut gesetzt, welche die wahre Armut erhält und schützt, dass man sie auf keine Weise beunruhigen kann. An dritter Stelle folgt: Selig, die trauern: nachdem wir das, was der Welt gehört, gänzlich weggeworfen haben, und schlimmem Betragen durch Sanftmut Einhalt taten, bleibt uns übrig, zu trauern für vergangene Sünden, und das ist die Bewässerung von unten; und um der Sehnsucht nach dem himmlischen Vaterlande willen, und das ist die Bewässerung von oben; aber die von unten wäscht den gegenwärtigen Schmutz ab, während die von oben die Liebhaber des zukünftigen Lebens entzündet.

Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit. Bemerke, dass man eine dreifache Gerechtigkeit unterscheidet: wenn wir unserer Natur erhalten, was ihr gehört; wenn wir dem Nächsten das tun, was wir wollen, dass man uns tut; wenn wir an Gott entrichten, was Gott gehört. Diese Gerechtigkeit kommt an uns so lange nicht zu gänzlicher Erfüllung, bis Gott Alles in Allem ist; darum setzte er hungern - nicht satt werden. Denn Liebhaber des wahren Guts dürsten stets und es genügt ihnen nicht, dass sie gerecht sind.

Selig die Barmherzigen. Die Barmherzigkeit geht aus dem Vorhergehenden hervor; denn es gibt kein wahres Mitleiden mit dem Unglücklichen, wenn nicht wahre Armut und wahre Demut vorausgeht, und wenn die Seele nicht sanft wird, indem sie sich den göttlichen Gesetzen unterwirft, wenn sie nicht anfängt, Anderer Begegnisse zu beweinen und nach Gerechtigkeit zu hungern: aus all diesem erzeugt sich die wahre Barmherzigkeit. Bemerke, dass die Gerechtigkeit dieser Tugend vorangeht. Denn das Licht der Gerechtigkeit ist Barmherzigkeit; die Tugend der Barmherzigkeit ist Gerechtigkeit.

Selig, die rein im Herzen sind. Herzensreinheit kommt an die sechste Stelle, damit der am sechsten Tage erschaffene Mensch durch diese Reinheit Gottes Bild wieder gewinne, das die Finsternis der Laster zerstört hat; damit er entfernt vom Geräusche menschlicher Gedanken, mit reinem Herzen und dem verbesserten Bild Gottes, nur an das. denke was Gott gehört und sich in Allem an die göttlichen Gebote halte. Selig die Friedfertigen. Der Friede wird mit Recht an die siebente Stelle gesetzt. Denn hat es der Mensch mit sich soweit gebracht, dass er Alles, was der Welt gehört, verachtet und im Stande ist, nur das Ewige zu lieben und zu denken, was Sache der Beschaulichen ist; so bleibt nichts anderes übrig, als dass er Gott zum Lohne bekomme, welcher der wahre Friede ist, nach dem er schaute.

Diesen genannten sieben Stufen von Tugenden nun entspricht das siebenfache Wirken des heiligen Geistes, von dem man bei Jesaias liest: Auf ihm wird der Geist des Herrn ruhen, der Geist der Weisheit und Einsicht, der Geist des Rats und der Stärke, der Geist der Wissenschaft und Frömmigkeit und erfüllen wird ihn die Furcht des Herrn (Jes. 11,2). Aber jener beginnt zu Oberst, dieser zu unterst; dort wird gelehrt, wie der Sohn Gottes zum Untersten herabsteigen, hier, wie der Mensch zur Ähnlichkeit mit Gott aufsteigen werde. Unter diesen Stufen ist die erste der Geist der Furcht, der schön zu den Demütigen passt, von welchen es heißt: Selig die Armen im Geiste. Denn das ist jene kindliche Liebe, von der es heißt: Der Anfang der Weisheit ist die Furcht Gottes (Ps. 110,10), Die Furcht Gottes bewirkt Verachtung dieser Welt und die Bereicherung des Menschen mit Seligkeit, der freiwillig arm ist. Daher hat er in himmlischer Gnade Vorsorge für unser Heil treffend uns das Gebet erteilt, um durch dasselbe in der siebenfachen Bitte den siebenfachen Geist erlangen zu können: um durch die Unterstützung der siebenfachen Gnade die sieben obengenannten Tugenden zu erlangen, und durch sie zur Seligkeit zu gelangen zu verdienen. Indem wir im legten Teile des Gebets des Herrn die Bitte aussprechen: Erlöse uns von dem Übel, scheint es wir beten darum, dass durch den Geist der Furcht Gottes aller aufblähende Stolz von uns weichen und an seine Stelle die Demut wahrer Armut treten möchte, der die Seligkeit des himmlischen Lebens verliehen werden mag. Das zweite ist der Geist der Frömmigkeit, der bei den Sanften sich findet: denn wer fromm zu leben sucht, sinnt über die heilige Schrift nach, und tadelt nicht was er noch nicht versteht, leistet daher auch keinen Widerstand und das heißt sanft werden. Um sich diese Tugend beständig zu erhalten, betet er, er möchte nicht in Versuchung geführt werden.

An dritter Stelle steht der Geist der Wissenschaft, der bei den Trauernden sich findet, weil sie schon wissen, in welchen Banden von Übeln sie liegen. Bevor sie es noch in den Schriften lasen, strebten sie danach, und deshalb seufzen sie nach dem Vaterlande. Und damit ihre Tränen von Nutzen sind, mögen sie beten und sagen: Vergib uns unsere Schulden, nämlich die Sünden, die uns in Besitz nehmen, damit wir frei ins Vaterland zurückkehren.

An vierter Stelle folgt der Geist der Stärke, der zu jenen passt, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten; denn die, die nach wahrer Freude verlangen, geben sich Mühe um die Erquickung mit wahren Gütern und daher ihr Hunger. Aber dieser Hunger nach Sättigung stützt sich auf den Geist der Stärke, um nicht auf dem Wege zu ermatten, und deshalb beten wir: Unser tägliches Brot gib uns heute.

An fünfter Stelle steht der Geist des Rats, der bei den Barmherzigen sich findet. Denn Niemand ist barmherzig, als wer sich vom Geiste des Rats regieren lässt. Daher beten wir: Es geschehe dein Wille, wie im Himmel, so auch auf Erden. So weit wir den Willen Gottes zu Rate ziehen, mögen wir barmherzig sein, wo wir sehen, dass Barmherzigkeit not tut.

An sechster Stelle steht die Einsicht, die den im Herzen Reinen zukommt. Jenen nämlich, die mit gereinigtem Herzensauge sehen, was kein leibliches Auge sehen noch ein Ohr hören kann. Von diesem reinen Herzen aber heißt es, es schaue das Reich Gottes; nicht jenes, das weder Anfang noch Ende hat; sondern das, das in uns ist, indem die Laster und Gewalt des Teufels ausgeschlossen werden. Daher beten wir: Es komme dein Reich: das heißt, verleihe uns durch den Geist der Einsicht barmherzig sein zu können und dir in uns ein Reich zu bereiten.

Als Siebentes wird gesetzt der Geist der Geduld, der den Friedfertigen entspricht, da in ihnen keine aufrührerische Bewegung stattfindet, so dass sie nicht im Widerspruche mit der Heiligung des Namens Gottes sind, sondern am Leben, im Betragen sich der Name des Vaters an den Kindern zeigt. Daher muss man beten: Geheiligt werde dein Name.

Bemerke aber auch die Stufen dieser Tugenden noch von folgender Seite. Den Armen wird das Himmelreich verheißen, jenen nämlich, die durch den Geist der Furcht des Herrn all ihren Besitz verachteten. Den Sanften die Erbschaft, gleichsam ein Vermächtnis des Vaters an die, die mit Frömmigkeit suchen. Jenen, die trauern, weil sie wissen, in welchen Übeln sie stecken, wird Trost verheißen. Den Hungernden und Dürstenden Sättigung. Den Barmherzigen wird Barmherzigkeit verheißen, weil sie Anderen ihren umsichtigen Rat zukommen ließen. Den im Herzen Reinen das Vermögen, Gott zu sehen. Den Friedfertigen Gottähnlichkeit, weil sie Kinder Gottes heißen werden. Das ist der Höchste, der es verdient, ein Kind Gottes zu heißen. Selig die, die Verfolgung um der Gerechtigkeit willen leis den, weil das Himmelreich ihnen gehört (Matth. 5,10). Alle heißt man selig, die Alles haben, was sie wünschen. Denn Seligkeit ist der durch die Vereinigung alles Guten vollkommenste Zustand. Sieben Stücke gibt es also, welche vollenden; das achte ist das, welches verherrlicht; denn Vollendung ist die Probe derer, die Gott gehören. Daher liest man: Man zünde den Ofen an, um das Gold zu erproben (Wsh. 3,6).