Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Achte Betrachtung. Erhebung des Reuigen zum Vater.

Blicke, ich flehe, heiliger Vater, allmächtiger ewiger Gott, auf jenen ganz überströmenden Abgrund deiner Barmherzigkeit, wodurch sich gleichsam die Flut deines teuersten eingeborenen Sohnes voll Kostbarkeit und Leben zur Reinigung der Welt ergoss; durch dessen Tod es deiner Güte gefiel uns zu beleben, und durch sein Blut abzuwaschen. Du gabst auch deinem teuersten Sohne den reinen Schild deines guten Willens, damit man sich vor deinem Zorn damit decken und er jenen Tod, den man fürchtet, mit dem Schild, den er deiner Gerechtigkeit und deinem gerechtesten Zorn entgegen hielt, auffangen möchte. Dabei ließt du dich herab, uns zu zeigen, wie sehr gut du es mit uns meinst, während du dich herabließt, deinen teuersten Sohn, wie einen Schild deinem Zorn entgegen zu halten. Und er sollte nach dem Wohlgefallen deiner Barmherzigkeit sowohl deinen Zorn, als auch unsern Tod auf sich nehmen: Zorn und Tod, die wir verdient hatten. Dein Eingeborner selbst aber trug allein unsern Tod.

Gedenke deiner Erbarmungen, Herr, und zwar deiner Erbarmungen, die von Ewigkeit sind, und reiche deine Rechte deinem Geschöpf bei seinem Streben nach dir. Unterstütze seine Schwäche bei seinem Streben nach dir. Ziehe den, von dem du weißt, dass er nicht zu dir kommen kann, wenn du Vater ihn nicht mit deiner Liebe und deinem Verlangen ziehst.

Mache mich zu einem dir angenehmen und wohlgefälligen Knecht, da du weißt, dass ich dir anders nicht gefallen kann. Gib, ich flehe, gib jene Heiligung, durch die allein ich dir gefallen mag, du gibst ja das angenehme Gute denen, die dich bitten; mach doch, dass du allein meine Liebe und mein Verlangen bist, du allein meine Liebe und meine Furcht bist. Eigne mich dir ganz an; weiß ich doch, dass ich Alles, was ich bin, und Alles was in mir ist, ja Alles, woran ich Geschmack finde, Alles, was mich rührt, dir allein verdanke. Kehre mich ganz zu deinem Lob und Ruhm, der ich mich ganz deinem Lob verdanke. Überlass, ich beschwöre dich, Herr, dein Geschöpf nicht deinen Feinden: behalte es für dich, dem es allein vollständig gehört, und vollende, Stück für Stück in mir, was du begonnen hast, und bestärke, was du gewirkt hast. Erhöre, ich flehe, mein Gebet, du verleihst es ja und gibst es mir ein, bevor ich darum anrief. Blicke auf mein Flehen zu dir, der du dich gewürdigt hast, so auf mich zu blicken, während ich betete. Nicht vergeblich, erbarmungsvoller Herr, hast du dich gewürdigt, dieses Gebet einzugeben, nicht umsonst hast du es mir verliehen. Dazu hast du dich ja gewürdigt, es mir zu verleihen, dass du mich erhörst. Dazu hast du es mir gegeben, dass ich zu dir flehen sollte, dass du dich meiner, des Sünders, erbarmst; und da du mir bereits das Pfand deiner Barmherzigkeit erteilt hast, schenke mir, was noch erübrigt. Nimm mich wie der an, Herr mein Gott, und entreiße mich den Händen meiner Feinde, weil auch sie dein sind, und sich deiner Allmacht unterwerfen; die auch an mir nichts hassen, als was du mir in allen guten Handlungen gegeben hast. Sie hassen nichts an mir, als das, dass ich dich liebe. Danach trachten sie mit ihrem ganzen Eifer und aller ihrer Kraft und aller List, dass ich dich nicht lieben soll, um dich nicht zu verherrlichen, noch überhaupt dich zu suchen.

Die Feinde deiner Herrlichkeit mögen mich also nicht überwältigen, sondern vielmehr durch die Größe deiner Barmherzigkeit beschämt werden, wenn sie sehen, dass ich mich ganz zu deinem Lob und deinem Ruhm hinwende und deinem Frieden und deinem Ruhm nachtrachte, den Nachstellern zuwider, während sie mich abwendig zu machen beabsichtigen. Lass, ich flehe dich an, Herr, ihren so ungerechten, so fluchwürdigen Willen über und wider mich nicht in Erfüllung gehen. Verherrliche also, mein Gott, meine Seele, dass sie dein Lob verkündige, und die Ausbreitung deiner Herrlichkeit; damit ich ganz hinfort der Größe deiner Herrlichkeit gemäß lebe, und mein ganzes Leben dich verherrliche. Lade ein und fordere viele Vorherbestimmte durch mein Beispiel zu deiner Verherrlichung auf. Die Anwesenheit deiner lichtvollen und lieblichen Herrlichkeit ziche doch von mir die nichtswürdigsten und unreinsten und abscheulichen Geister der Finsternis ab, welche jene (deine Herrlichkeit) nicht ertragen können. Zerreiße meine Bande und führe mich aus dem Verschleuß1) und aus dem schrecklichen und finsteren und abscheulichsten Gefängnis, und aus dem See des Elends, und dem Kot der Hefe und der Tiefe des Todes und der Finsternis heraus zu deiner bewundernswürdigen Freiheit und deinem Licht.

Erleuchte mich mit deinem Glauben voll Heil, erfreue und befestige mich mit deiner Hoffnung voll Lieblichkeit und Gewissheit. Halte mich herab und demütige mich, und wahre mich mit deiner Furcht voll Stärke, Sicherheit und Unüberwindlichkeit. Beschäme mich zu meinem Heile mit deiner Scham voll Schönheit und Herrlichkeit. So oft ich etwas vor deine Augen bringe, was sie beleidigen möchte, peinige mich, mache mir Schmerzen wie einem Weib2) und mit dem lieblichsten Maß der Züchtigung deiner wirksamsten Arznei, damit ich nicht leer und beschämt von deinem barmherzigen Angesichte weggehe, sondern Alles erhalte, um was ich auf deinen Befehl mit deinem Beistand, und auf deine Eingebung bitte und Alles, was du den Bittenden verheißen hast. Lass mich fühlen, barmherziger, mitleidsvoller Herr, dass man nicht vergeblich seine Zuflucht zu deiner Barmherzigkeit nimmt, und sei da, um dich von denen, die dich suchen, finden zu lassen, und dass ich nicht vergehen mag bei dir, der Quelle deiner Barmherzigkeit, der du mich aus der Tiefe gezogen hast; und der du weißt, was, wie Großes und wie Vieles du erteilt hast. Mit eben dem Vermögen deiner Allmacht, Weisheit und Güte nämlich, womit du sprachst und Alles gemacht ward, kannst du mit derselben Leichtigkeit deiner Barmherzigkeit sprechen, und alles in mir Entstellte wird zu seiner rechten Gestalt werden.

Siehe, allmächtiger und barmherziger Vater, ich habe hergezählt die Menge und Größe deiner Wohltaten, die ich hingenommen; wieder vorgebracht die Menge und Größe des Bösen, womit ich deiner Güte vergolten habe; unglücklich und undankbar bin ich, da ich nach so vielem und großem Bösem, das meiner wartet, und mir droht, noch kalten, harten, unverschämten und törichten Herzens vor dir bin, ohne mich zu schämen. Auf so vielen und so großen Räubereien ertappt, und nur den Höllengalgen in Aussicht, lasse ich mich weder von Furcht erschüttern, noch von Schmerz peinigen, noch von Scham verwirren, noch von der Liebe deiner so liebreichen, so beständigen Güte entzünden. Oder wartest du, süßester Vater, und verschiebst es so lange, auf mich zu blicken und dich meiner zu erbarmen, bis ich nach deiner Barmherzigkeit würdig bin, vor dir zu erscheinen, und dir etwas vortrage, was wert ist, erbeten und von dir erhört zu werden? Siehe einen toten Leichnam, und von Würmern wimmelnd, und schon drei Tage stinkend brachte ich vor dich, als ich zu dir kam, Lebensspender. Siehe einen Blinden stelle ich deiner allmächtigen Barmherzigkeit vor, um ihn sehend zu machen, und einen Kranken, um ihn zu heilen; und einen Menschen voll der größten Schulden, um ihn auszulösen; einen ganz Nackten und Armen, um ihn reich zu machen: ist es ja in deinen Augen so leicht, den Armen plötzlich zu Ehren zu bringen.

Ich kann dir, gütigster Gott, durchaus nichts Andres darbringen, als mich selbst, wie ich bin, und nichts aufweisen, als meinen Tod und meine Wunden, meine Blöße und meine Armut und meine Schulden, wonach ich das Gefängnis des ewigen Todes fürchte. Zeige daher deine barmherzigen. Augen, ob du nicht irgendwie umkehren und verzeihen und die Gnade deiner Beseligung auf mich gießen magst, denn ich kann nicht zu dir umkehren, da ich von so vielen und großen Wunden und Krankheiten und selbst vom Tod niedergebeugt und ohnmächtig geworden bin. Aber kehre du, barmherziger Vater, mich um, dass ich mich zu dir kehre. Kehre mich, Herr zu dir, zermalme und ängstige mein Herz, und lege in dasselbe das Gefühl eines lebendigen Schmerzens. Denn außer dir gibt es keine Quelle des Guten. Es gibt Niemand, von dem ich Liebe und Furcht und Schmerz und Scham bekommen könnte, wodurch ich vor dir der Erbarmung wert. erfunden werden mag, wenn du nicht mit deiner überreichlichen Barmherzigkeit über mich Unwürdigsten Gnade ausgießt. Herr, wenn du mir diese erteilst, werde ich selig sein. Wenn du dich herablässt, an mir meine Verbrechen und Schandtaten nach deinem Gericht und deiner Gerechtigkeit zu rächen, bin ich glücklich; nicht aber, wenn nach deinem Zorn, welcher sich der wider deine Barmherzigkeit Aufrührerischen und Widerspenstigen ohne Ende bemächtigt. Und darin besteht, barmherziger Vater, deine Gerechtigkeit und dein Gericht, dass durch Furcht und Liebe und Scham und Schmerz in den Herzen der wahrhaft Reuigen und zu deiner Güte Zurückkehrenden darauf hingearbeitet wird, dass sie Barmherzigkeit erlangen. Durchbohre also diesen Räuber mit deiner heiligen Furcht, und brenne diesen Abtrünnigen mit dem Feuer deiner Liebe und Freundlichkeit. Durchbohre, Herr, diesen Übeltäter mit deinem lebendigen und heilsamsten Schmerz, beschäme diesen unverschämten Übertreter mit deiner herrlichen Beschämung. Hefte diesen Verbrecher an das Kreuz der Strafarbeit und deiner lieblichen Barmherzigkeit; mach, dass ich mit dem ganzen Leibe nach dir hungere und nach meinem ganzen Innern nach dir dürfte, und die vollste Sehnsucht habe, dich zu umfassen. Mach, dass ich dir allein von ganzer Seele diene und mit ganzem Eifer nach dem trachte, was vor dir wohlgefällig ist, welchem samt deinem Eingebornen und unserem Herrn Jesu Christo und dem heiligen Geist deiner verheißenen heiligsten Gabe alle Ehre und Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit sei. Amen.

1)
Ort, wo man eingeschlossen ist
2)
bei der Geburt