Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Vierte Betrachtung. Wie der Sünder seine Seele ermuntern soll, die Sünden gut zu machen.

Meine Seele, elende und garstige Seele, richte sorgfältig alle deine Körpersinne auf dich nach Innen, und noch sorgfältiger betrachte und siehe, wie schwer innerlich verwundet und niedergeworfen du bist. Denn während dir noch die unermessliche Güte deines Schöpfers das Leben gibt; während seine unaussprechliche Barmherzigkeit auf deine Besserung und entsprechende Genugtuung geduldig und mit großer Sanftmut wartet, sollst du nicht träg und langsam sein, deine Wunden zu heilen, deine Sünden gut zu machen, deinen Schöpfer mit dir zu versöhnen, den du beleidigt hast; um alle seine Heiligen mit dir auszusöhnen, die du durch die Beleidigung ihres und deines Schöpfers, ihres und deines Herrn, dir zu Gegnern gemacht hast. Würdest du stets gerade und rein, sowie dich dein Schöpfer gerade und rein erschaffen hat, stehen und hättest du seinem Willen, wie du wohl könntest, wenn du gewollt hättest, unausgesetzt angehangen, so würdest du jetzt vergnügt und glücklich das gegenwärtige Leben als ein vergnügtes und glückliches durchlaufen, nach dessen Lauf und Vollendung würdest du vergnügt und glücklich unter dem Beistande dessen, der dich erschaffen hat, Leben und Glückseligkeit ohne Ende zum Besitz erhalten. Weil du nun aber, Unglückliche und Elende, den Willen deines Schöpfers hintangesetzt, und deinen fleischlichen Vergnügungen unglücklich und elend angehangen hast, wenn du eifrig und mit großem Fleiß, ohne Schmeichelei und Schonung untersuchst, von wie großen Übeln und Bosheiten du umgeben bist, bei der Untersuchung und Reue dich zur Genugtuung und Besserung umzukehren anschickt, so wirf das zuerst aus deinem Inneren, nämlich den Willen zu sündigen, und umfasse und tue das, von dem du weißt, dass es deinem Schöpfer durchweg gefällt.

Aber wenn du deine ungeheuren Vergehungen untersuchst und an der Nachsicht und Erlassung wegen deiner beständigen garstigen Bosheiten verzweifelst, sagst du vielleicht bei dir selbst: Wie vermag ich jetzt das noch gut zu machen, was ich beinahe mein ganzes Leben lang wider Gottes Willen tue, ich führe ein Leben immer nur auf jede Bosheit und alle böse Begierden und böse Werke bedacht, und liege so verhärtet in Sünden wie ein Stein, den weder Eisen zerschneiden noch Feuer erweichen kann? Indem ich also die Gerechtigkeit meines Schöpfers näher ansehe und die bösen Werke, die ich stets vollbracht habe, ebenso genau ansehe, so weiß ich, dass Qualen und Strafen, welche man mit bösen Werken verdient, auf mich warten, da er einem Jeden nach seinen Werken vergelten wird. Deine Behauptung ist wahr, dass Gott als gerechter Richter, liebend die Billigkeit, bösen Werken und Sünden Qualen zuerkennt; jedoch aber nach eben der Gerechtigkeit, mit der er die in der Bosheit Beharrenden straft, die von dem Bösen sich Erholende und gute Werke Verrichtende mit ewigem Lohne belohnt. Deshalb habe ich etwas weiter oben dich ermahnt, du möchtest dein ganzes Innere samt dem, was du äußerlich tust, untersuchen, und ebenso sorgfältig sehen, zu welchem Endziel Alles gelangen werde. Und ich glaube, dass wenn du das ohne Unterlass tust, und mit der Erinnerung daran wie mit eisernen Hämmern dein hartes Herz beständig zermalmst, du, wenn du bei gesunder Vernunft sein solltest, das tun wirst, was dir Glück und Freuden einbringt; dagegen dem den Abschied geben wirst, womit du Qualen und Traurigkeit verdienst. Deshalb ermahne ich dringend, du sollst dich ohne Unterlass erinnern, wie süß und gut dein Schöpfer gegen dich ist, welch' große Güte es von ihm gewesen, dass er dich erschaffen, als du nicht warst; und dass er dich zu keinem Vieh oder vernunftlosen Geschöpf, sondern zu dem Geschöpf gemacht hat, das im Stande wäre, ihn zu erkennen und zu lieben, und mit ihm ewig und selig sich in den Besitz seiner Ewigkeit zu teilen; und dass er dich so sehr geliebt hat, dass, während er wusste, du werdest Vieles wider seinen Willen tun, er nicht wollte, dass du es nicht tust, sondern wollte, dass du es tust und das Dasein hättest; und dass er dich mit so großer Sanftmut in seiner Güte und Barmherzigkeit noch duldet, indem er auf deine Besserung wartet. Es wartet aber dein Schöpfer, er wartet, wie gesagt, auf deine Besserung; weil der, dem es beliebte, dich zu schaffen, als du nicht warst, den Wunsch hat, du möchtest einst ganz und gar nicht verloren gehen, sondern zu seinem so liebevollen Mitleiden umkehren, und dir mittels der Buße eines gereinigten und gebesserten Lebens die Seligkeit des ewigen, die du durch die Sünde eingebüßt hattest, wieder verschaffen.

Bedenke also und überdenke die so große Güte deines Schöpfers gegen dich; und richte dich, wie es recht ist, samt allen deinen Sinnen hin zu seiner unaussprechlichen Liebe. Denn die Liebe zu ihm leidet keinen Sündenunrat, stimmt nicht dazu, dass das Vergnügen an fleischlichen Lüsten neben ihr wohne. Wo die Liebe zu ihm weilt, dort ist höchster Friede, höchste Ruhe und große Leichtigkeit im Vollbringen und Denken alles dessen, wodurch man die ewige Seligkeit erwirbt. Bei all deinem Tun und Denken sollst du die Gewissheit in dir tragen, dass zwei gegenwärtig sind, der Eine dein Freund und der Andere dein Feind. Dein Freund ist dein Schöpfer, der sich über deine gute Werke freut; dein Feind aber der Teufel, der über eben diese deine gute Werke trauert. Dagegen stellt dir der Teufel immer nach, und freut sich, wenn er dich böse Werke tun und eitlen und törichten Gedanken nachhängen sieht, um dich damit vor dem höchsten Richter verklagen, und nach der Anklage und Verdammung mit sich ins Verderben ziehen zu können. Der Teufel, stets lüstern nach dem Verderben der Gläubigen, klagt sie nicht bloß der bösen Werke, die sie tun, an; sondern sucht auch ihre guten Taten und guten Gedanken mit ungerechter Anklage zu bemakeln. Sei du also wider seine seine Betrügereien und wider seine Ränke voll Betrug vorsichtig, auf deiner Hut; und rufe deinen Schöpfer und süßesten Herrn an, dass er dich nicht durch seine Ränke und Betrügereien verführen lasse. Entfliehe unter dem Schatten seiner Flügel dem Angesicht der Gottlosen, die dich mutlos machen, die dich, nachdem sie dich mutlos gemacht und in den Tod gestürzt, auch in den Untergang zu ziehen bestrebt sind. Dein Schöpfer und dein Herr ist liebevoller und barmherziger, als sich sagen oder auch denken lässt: daher richtet sich Niemand zu Grunde, außer es sei seine eigene große Schuld und große Bosheit. Vater und Mutter dem Fleisch nach haben gewöhnlich große Liebe zu denen, die sie gezeugt haben: und wenn sie sehen, dass irgend ein Schmerz oder eine leibliche Traurigkeit über sie gekommen, opfern sie sich und ihre Habe, wenn es die Umstände erfordern, gerne der Wiedererlangung ihres Wohlseins auf. Ja, viele Tiere scheuen sich nicht, für ihre Junge öfters den Tod auf sich zu nehmen, und stürzen sich selbst in den Tod, nur damit ihre Jungen dem Tod entrinnen möchten. Woher anders aber, woher anders haben sie jene natürliche Liebe, als von dem, der die Quelle der Liebe ist, der Niemand zu Grunde gehen lassen will, noch sich am Verderben der Sterbenden freut? Wenn nun unser Schöpfer, die Quelle der Liebe, die Quelle der Barmherzigkeit, der Süßeste und Liebenswürdigste, uns seine Geschöpfe von irgend einer Sünde angesteckt und besudelt, oder sogar durch schwere und vielfache Wunden oder Verbrechen schier bis zum Tod verletzt sieht, verwendet er noch weit mehr und größere Sorgfalt auf uns, um uns von unsern Sünden zu heilen, unsere Krankheit zu heilen, vom Aussatz und Schmutz unserer Verbrechen uns zu reinigen, wie auch von den Eitelkeiten und dem Staub unserer Gedanken, als ein leiblicher Vater, oder ein Vieh auf seine Kinder oder auf seine Jungen. Und er begnügt sich nicht damit, unsere Krankheit zu heilen und so sie uns zu vergeben; sondern er macht uns nach der Heilung zu seinen Vertrautesten, und nimmt uns hierauf wie seine teuersten Kinder in die Arme, beruhigt und tröstet uns unter Umarmungen und Küssen über alle Sünden und Aussatz-Krankheit, in die wir durch Torheit gerieten; auch vergisst er gänzlich aller Beleidigungen, die wir ihm durch Verachtung seiner Gebote zugefügt haben. Er ehrt uns im gegenwärtigen Leben, krönt uns im künftigen, macht uns zu Königen, unsere Seele macht er zu einer Königin; daher er uns, die wir bereits Könige geworden, im Psalm ermahnt: Und nun, Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch belehren, ihr, die ihr die Erde richtet (Ps. 2,10.). Dann sind wir in Wahrheit Könige, wenn wir unsere unordentlichen Leidenschaften beherrschen, und sie zu unseres Schöpfers Vernunft und Willen zurückbringen. Belehren aber lassen wir uns, während wir die Erde richten, das heißt, wenn wir unser Herz, sobald wir wahrnehmen, dass es nach Irdischem Verlangen trägt, zur Verachtung des Irdischen und zur Liebe des Himmlischen antreiben. Eine Königin wird unsere Seele, weil sie in bunte Gewande gehüllt, das heißt mit verschiedenen Tugendgaben geschmückt, mit Christus, ihrem Bräutigam, der in dem Himmel ist, indessen, so lange sie auf Erden weilt, mit beständigem Sinn, Tun und Haltung verbunden ist. Es war unserem Schöpfer nicht genug, uns zu erschaffen, die Erschaffenen zu regieren, und seine Engel, so oft es not tat, zu unserm Schutz zu senden; sondern er selbst nahm unsere Gestalt, nahm unsere Natur an, aus Mitleid mit seinem Geschöpf, und stieg zu uns herab, sah sorgfältig nach unsern Wunden und Tod, sah nach und berührte und betastete sie; seufzte von Liebe bewogen voll Teilnahme über das Elend, das er an uns sah. Und hierauf machte er von seinem Fleisch, das er uns zu lieb angenommen hatte, gleichsam ein Pflaster, und indem er es auf unsere Schmerzen legte, heilte er unsere ganze Krankheit vollständig. Um uns dabei zu zeigen, wie sehr er uns liebe, gab er das Fleisch selbst, das er uns zu lieb angenommen hatte, uns zur Speise; und gibt es uns noch unaufhörlich in seinem Altaropfer.

Du aber, meine Seele, belebt und getröstet durch die süße Erinnerung an all dieses, bitte deinen Schöpfer, rufe alle seine Heilige an, dass sie dir beistehen, damit du unterstützt und getröstet seist durch ihre Vermittlung und der, der dich erschaffen hat, dir verleihe, so im gegenwärtigen Aufenthalte zu leben und dich von deinen Bosheiten durch wahre Reue und Bekenntnis so zu reinigen, dass du nach vollendetem Laufe in der Zeit zu den ewigen Freuden aufzusteigen verdienst, indem es der gewährt, der als Gott lebt und regiert in aller Ewigkeit. Amen.