Johannes, mit dem lateinischen Zunamen Markus (Apg. 12,12), gehörte nicht zu dem ältesten Jüngerkreis Jesu. Denn dass er einer der Siebzig (Luk. 10,1) gewesen sei, ist nichts als eine leere Fabel. In seinem Elternhaus scheint Jesus sein letztes Passahmahl gehalten zu haben. Vielleicht ist er auch der Jüngling, der bei Jesu Gefangennahme in Gefahr geriet (Mark. 14,51-52).
Markus war ein Vetter des Barnabas (Kol. 4,10). Waren ihre Väter Brüder, so wäre er ebenso wie Barnabas ein Levit gewesen (Apg. 4,36). Nun sagt auch eine ältere Überlieferung, Markus habe sich, um für das alttestamentliche Priesteramt unfähig zu werden, einen Daumen abgeschnitten (3. Mos. 21,19). Tatsache ist jedenfalls, dass er im Anfang des dritten Jahrhunderts in Rom der Stummelfingrige genannt wurde. Durch Petrus ist er zum Glauben an Christus gekommen. Darum nennt ihn dieser Apostel auch seinen geistlichen Sohn (1. Petr. 5,13).
Als Paulus und Barnabas von Antiochia aus zu den Heiden zogen, begleitete sie Markus bis Perge. Dort aber trennte er sich von ihnen (Apg. 13,13); vielleicht konnte er sich damals noch nicht in eine Arbeit unter den Heiden finden. Später begab er sich mit Barnabas nach Zypern (Apg. 15,39). Nach einer alten Überlieferung hat er um das Jahr 49 n. Chr. die Kirche in Alexandria in Ägypten gegründet. Zur Zeit der Abfassung des Kolosserbriefes treffen wir ihn als einen Mitarbeiter des Paulus (Kol. 4,10). Nachher ist er bei Petrus in Rom (1. Petr. 5,13). Um das Jahr 63 hält er sich in Kleinasien, wahrscheinlich in Ephesus auf; von dort soll ihn Timotheus mit nach Rom bringen, damit er da dem Apostel Paulus zur Seite stehe (2. Tim. 4,11). In Alexandria soll Markus den Märtyrertod erlitten haben. Von dort wurde sein angeblicher Leichnam im Jahr 827 nach Venedig gebracht. Mit seinem Abzeichen, dem Löwen, ist er noch heute der Schutzheilige dieser Stadt.
Über die Entstehung des Markusevangeliums geben uns die ältesten Kirchenväter beachtenswerte Mitteilungen. Eusebius erzählt: Als Petrus im zweiten Regierungsjahr des Kaisers Klaudius, also 42 n. Chr., von Antiochia (Gal. 2,11ff.) nach Rom kam und dort die Heilsbotschaft verkündigte, baten seine Zuhörer seinen Begleiter Markus dringend, er möge ihnen auch ein schriftliches Denkmal der mündlich vorgetragenen Lehre hinterlassen. Markus erfüllte endlich diese Bitte. Petrus soll davon durch eine besondere Offenbarung des Geistes Kenntnis erhalten und dann die Schrift des Markus für den kirchlichen Gebrauch bestätigt haben (Euseb. h.e. II, 14,6; 155, und Chronik Vgl. meine ersten 15 Jahre der Kirche, S. 205 und 272, Anmerkung 18).
Etwas anders lautet der noch frühere Bericht des Klemens von Alexandria (gestorben um 220), der sich dabei auf die Aussagen der Ältesten stützt: Als Petrus in Rom das Wort Gottes öffentlich verkündigte, wurde Markus von den zahlreichen Zuhörern, namentlich von kaiserlichen Hofleuten ritterlichen Standes, gebeten, er möge die Worte des Petrus niederschreiben, weil er ja als dessen langjähriger Begleiter seine Vorträge im Gedächtnis habe. Als Petrus dies erfuhr, hinderte er ihn nicht daran, aber ermunterte ihn auch nicht dazu. So verfasste denn Markus sein Evangelium und übergab es denen, die ihn darum baten (Euseb. h.e. V, 14, 6-7; Clem. adumbr. ad 1. Ep. Petri).
In dieser Nachricht des Klemens fehlt erstlich die nähere Angabe für die Zeit der Wirksamkeit des Petrus in Rom. Sodann sagt sie nichts davon, dass Petrus das Evangelium des Markus gebilligt oder gar für den kirchlichen Gebrauch verordnet habe. Der Apostel verhält sich vielmehr dem Werk seines Begleiters gegenüber vollkommen gleichgültig. Markus schreibt ganz auf seine eigene Verantwortlichkeit, und sein Werk wird in keiner Weise von Petrus empfohlen.
Das älteste Zeugnis über die Entstehung des Markusevangeliums hat uns der Bischof Papias von Hierapolis aus dem Mund des Presbyters Johannes in Ephesus überliefert. Markus - so meldet er - hat als Dolmetscher des Petrus alle Worte und Werke Christi, deren er sich erinnerte, mit Sorgfalt, aber nicht in der rechten Reihenfolge aufgezeichnet. Er selbst hat nämlich den Herrn nicht gehört und ist auch nicht im Gefolge seiner Jünger gewesen. Später aber begleitete er den Petrus. Dieser richtete seine Belehrungen nach dem Bedürfnis seiner Zuhörer ein, ohne eine genaue Zusammenstellung von den Reden des Herrn zu geben. Darum hat auch Markus keinen Fehler begangen, indem er nur einiges aufzeichnete, und zwar so, wie er sich dessen erinnerte. Denn seine einzige Sorge war, nichts von dem, was er gehört, zu übergehen und nichts Unwahres in seinem Bericht aufzunehmen (Euseb. h.e. III, 39,15).
In diesen Worten des Papias wird Rom als Abfassungsort des Markusevangeliums nicht erwähnt. Dagegen wird ebenso wie in den Berichten des Eusebius und des Klemens die mündliche Predigt des Petrus als Quelle für die Schrift des Markus angegeben. Sodann wird noch bemerkt, Markus habe nur eine Auswahl von Jesu Worten und Werken aufgezeichnet; aber in dieser Aufzeichnung sei alles durchaus zuverlässig, wenn auch das einzelne ohne Rücksicht auf die rechte Reihenfolge zusammengestellt worden sei.
In welchem Sinn Markus in der Nachricht des Papias als Dolmetscher des Petrus bezeichnet wird, darüber sind die Ansichten verschieden. Einige meinen, gerade durch die Abfassung seines Evangeliums sei Markus der Dolmetscher des Petrus geworden; denn darin habe er denen, die des Apostels Erzählungen von Jesus nicht mit eigenen Ohren gehört hätten, einen schriftlichen Bericht darüber vermittelt. Auch dadurch, dass Markus im Auftrag des Petrus in Ägypten, namentlich in Alexandria, die Heilsbotschaft verkündigt habe, sei er des Petrus Dolmetscher oder der Vermittler des Zeugnisses geworden. Andere wollen die Dolmetscherstellung des Markus aus einer Einrichtung des älteren jüdischen Gottesdienstes erklären. Da sprach der Vortragende gewöhnlich nicht selbst zur Gemeinde, sondern er wandte sich an seinen Dolmetscher, der dann die Worte des Lehrers mit lauter Stimme der Gemeinde verkündigte, das nur kurz Angedeutete weiter ausführte, schwierige Ausdrücke in die Volkssprache übertrug und auf Fragen antwortete. Ähnlich scheint nun in der Tat die Aufgabe des Markus als Dolmetscher des Petrus gewesen zu sein. Er hat den Zuhörern die mündlichen Vorträge des Apostels näher erläutert und sie dann später für ihre Bedürfnisse in seinem Evangelium niedergelegt.
Denn so viel ist auf Grund der alten Zeugnisse und nach dem ganzen Inhalt unseres zweiten Evangeliums sicher, dass Markus in seinem Bericht von Petrus abhängig ist, wenn auch Origenes und Eusebius zu weit gehen, indem sie behaupten, Markus habe sein Evangelium nach den Angaben des Petrus abgefasst (Euseb. h.e. VI, 25,5), und Petrus habe das Buch des Markus für den kirchlichen Gebrauch bestätigt. Vor allem die große Frische und Anschaulichkeit in der Erzählung des Markus erklären sich durch seine Abhängigkeit von Petrus. Auf Petrus als Augen- und Ohrenzeugen gehen namentlich so manche kleine Züge zurück, die wir weder bei Matthäus noch bei Lukas finden: Vier Männer sind es, die den Gelähmten tragen (2,3); die Tochter des Jairus ist zwölf Jahre alt, und sofort nach ihrer Erweckung steht sie auf und geht umher (5,42); die Jünger haben nur ein einziges Brot im Fahrzeug bei sich (8,14); die von den Aposteln, die näher nach der Zerstörung Jerusalems fragen, werden mit Namen genannt, und Petrus ist der erste unter ihnen (13,3-4). Und wie anschaulich wird Jesus selbst geschildert: Zornig und zugleich voll Trauer blickt er die Pharisäer im Versammlungshaus an (3,5); seine Augen suchen in der Runde, um die herauszufinden, die seine Kleider angerührt hat (5,32); er ist verwundert über den Unglauben der Bewohner Nazareths (6,6); bei der Heilung des Taubstummen blickt er seufzend auf zum Himmel (7,34); aus tiefstem Herzen seufzt er über die Pharisäer (8,12); voll Liebe sieht er den reichen Jüngling an (10,21); er umarmt die kleinen Kinder (9,36; 10,16); er geht seinen erstaunten und entsetzten Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem kühn voran (10,32). Ein Zeichen von Ursprünglichkeit in dem Bericht des Markus ist es auch, dass Jesu Worte bei der Auferweckung der Tochter des Jairus, bei der Heilung des Taubstummen und bei seiner Gottverlassenheit am Kreuz hebräisch mitgeteilt werden, d.h. so, wie sie dem Petrus noch immer in den Ohren klangen (5,41; 7,34; 15,34). Auch sonst fehlt es in dem Markusevangelium nicht an Einzelheiten, die offenbar aus dem mündlichen Bericht des Petrus stammen (5,5; 9,14-27; 10,46; 15,21).
Dass Markus für römische, mit Palästina und dem dortigen Judentum nicht bekannte Zuhörer des Petrus geschrieben hat, dafür zeugen auch so manche Kleinigkeiten in seinem Evangelium: Er lässt öfter lateinische Ausdrücke einfließen (6,27; 12,42; 15, 39.44.45); er erklärt seinen Lesern die ihnen unbekannten jüdischen Gebräuche und Lehren (7,3-4; 12,18; 14,12); er übersetzt hebräische Worte (3,17; 5,41; 7,11.34; 14,36; 15,34); er schätzt den Wert der jüdischen Münzen in römischem Geld ab (12,42); er bemerkt ausdrücklich, der Jordan sei ein Fluss (1,5), und der Ölberg liege dem Tempel gegenüber (13,3).
Auch die Nachricht des Eusebius, Markus habe sein Evangelium schon während der Regierung des Kaisers Klaudius (41-54) in Rom verfasst, braucht nicht bezweifelt zu werden. Ist Petrus im Jahre 42 zum ersten Mal nach Rom gekommen, so wird er die Stadt um 48 wieder verlassen haben; denn Anfang 49 finden wir ihn auf der Versammlung in Jerusalem (Apg. 15). Die gefährliche Lage der Juden in Rom, die im Jahre 49 zu ihrer Vertreibung führte, mag den Apostel bewogen haben, seine Wirksamkeit in der Welthauptstadt beizeiten abzubrechen. Also zwischen den Jahren 42 und 48 kann Markus sein Evangelium in Rom geschrieben haben. Denn als er im Jahre 49 nach Ägypten kam und dort die Kirche in Alexandria gründete, soll es schon vorhanden gewesen sein (Euseb. h.e. II, 16,1).
Dieser Annahme, Markus habe sein Evangelium schon vor dem Jahre 49 geschrieben, scheint nun aber ein Zeugnis des Kirchenvaters Irenäus zu widersprechen. Dieser meldet nämlich: nach dem Tod des Petrus und des Paulus (also erst nach dem Jahre 64) hat uns auch Markus, der Schüler und Dolmetscher des Petrus, die mündliche Predigt des Petrus schriftlich übergeben (ebenso wie Matthäus seine mündliche Verkündigung bei den Hebräern in ihrer Muttersprache schriftlich herausgegeben hat. - Euseb. h.e. V, 8,3).
Aber diese Nachricht des Irenäus über die Entstehungszeit des Markusevangeliums lässt sich mit der des Eusebius ohne Schwierigkeit vereinigen. Eusebius sagt, dass das Markusevangelium ursprünglich nur als Privatschrift für die römischen Zuhörer des Apostels Petrus bestimmt gewesen sei. Irenäus dagegen meldet, es sei nach dem Jahr 64 auch zum Gemeingut der Kirche geworden. Denn damals - nach dem Tod des Petrus und Paulus - hat Markus nach den Worten des Irenäus seine Schrift uns, d.h. allen christlichen Gemeinden übergeben.
Die wohl nur kleine Schar der von Petrus bekehrten Römer, für die Markus um das Jahr 45 zunächst sein Evangelium bestimmt hat, ist jedenfalls aus den sogenannten Gottesfürchtigen gesammelt worden, d.h. aus jenen Heiden, die sich zu der jüdischen Gemeinde hielten. Denn dort, inmitten seiner Volksgenossen, und noch nicht draußen unter der heidnischen Bevölkerung der Welthauptstadt, wird sich Petrus damals bei seinem ersten Aufenthalt in Rom sein Arbeitsfeld gesucht haben.
Abweichend von Matthäus berichtet Markus, außer in Kap. 13, keine längeren Reden Jesu. Von der Bergpredigt findet sich keine Spur; die Anweisungen an die Apostel sind ganz kurz (6,8-11); an Gleichnissen werden nur vier berichtet (4,3-8.26-29.31-32; 12,1-11). Markus kennt das schon um 40 n. Chr. entstandene hebräische Matthäusevangelium und hat es auch benutzt; denn nur so erklären sich die Übereinstimmungen zwischen dem ersten und dem zweiten Evangelium. Aber beide Werke sind andererseits auch sehr verschieden voneinander. Während Matthäus in seiner für Juden und Judenchristen bestimmten Schrift häufig auf das Alte Testament verweist, wird bei Markus, der sich an Heidenchristen wendet, nur an einer einzigen Stelle (1,2-3) ein alttestamentlicher Ausspruch angeführt. Das mosaische Gesetz wird von Markus nicht erwähnt. Statt der den Judenchristen Palästinas wohlbekannten Ausdrücke gebraucht er Bezeichnungen, die den Heidenchristen in Rom verständlicher waren. So heißt es bei ihm nicht wie bei Matthäus Königreich der Himmel, sondern stets Königreich Gottes. Was Markus seinen Lesern hauptsächlich schildert, das sind Jesu Vorbild und Taten, besonders seine Wunder; denn eine solche Schilderung musste gerade auf Römer Eindruck machen, weil diese die Tatkraft liebten und nach Übernatürlichem begierig waren. Die römischen Leser des Markusevangeliums sollten durch die Schrift vor allem von Jesu Macht und göttlicher Erhabenheit überzeugt werden, so dass sie in höherem Sinne einstimmen konnten in das Bekenntnis ihres heidnischen Volksgenossen: Wahrhaftig, dieser Mann ist Gottes Sohn! (15,39).