(Am Sonntage Septuagesimae 1855.)
Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen.
Amen.
Unser heutiger Text steht geschrieben
Ev. St. Joh. Kap. 2, V. 23-25:
Als er aber zu Jerusalem war in den Ostern auf dem Fest, glaubten Viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht, denn er kannte sie Alle, und bedurfte nicht, dass Jemand Zeugnis gäbe von einem Menschen; denn er wusste wohl, was im Menschen war.
In Christo Jesu geliebte Gemeinde. Die Epiphanienzeit hindurch hat teils der Vater die Gottheit und Herrlichkeit seines lieben Sohnes offenbart, teils hat es der Sohn selbst getan. Der Vater hat bei der Taufe Christi die heilige Gotteskindschaft versiegelt, indem er das Zeugnis ablegte: „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“ Der Sohn hat sich durch Zeichen und Wunder kräftig erwiesen als das Wort, welches von Ewigkeit her beim Vater war und in der Fülle der Zeit Fleisch geworden ist. Auf der Hochzeit zu Cana verwandelte er das Wasser in Wein. Das war das erste Zeichen, welches Jesus tat. Wiederum heilte er von Cana aus den Sohn des Königischen zu Kapernaum, ohne in die Stadt und in das Haus zu kommen. Das war das andere Zeichen, mit welchem er den Glauben in seinen Jüngern pflanzte und stärkte.
Neben diesen sichtbaren und lauten Zeichen, welche eine äußere Frucht zurückließen, ist sein Leben voll von stillen Wundern, welche aber für den Bau des Heiles in einzelnen Seelen ebenso viel wirkten wie jene. Heute vor acht Tagen sahen wir den Herrn im Gespräch mit Nathanael. Dieser Mann trat zum ersten Male in seinem Leben vor ihn. Dennoch zeichnet ihm der Herr mit wenigen Worten den Stand seines Herzens: „Siehe, ein rechter Israelit, in welchem kein, Falsch ist.“ Betroffen fragte Nathanael: „Woher kennst du mich?“ Jesus antwortete: „Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaume warst, sah ich dich.“ Ohne ihn mit dem äußeren Auge zu sehen, hat ihn der Herr doch gesehen, und zwar in einer Tat, oder einem Gebet, oder einem Gespräch, welches die ganze Herzenstiefe des Mannes aufgeschlossen hatte. Er hatte nicht allein das äußere Angesicht, sondern auch die ganzen Züge des innern Menschen gesehen. - Ihr könnt euch denken, teure Gemeinde, was das auf den Mann für einen Eindruck machte. Es war eine, es war seine Epiphanie oder Erscheinung Jesu Christi. Er ward in derselben überwunden. So kannte damals Jesus einen Jeglichen, der vor ihm stand. Er wusste, was in dem Menschen war, und bedurfte nicht, dass ihm Jemand Zeugnis gab. Noch viel mehr kennt er jetzt in seiner Erhöhung jedes Menschenherz, auch dein Herz. Er muss es kennen. Er ist der Arzt, und du bist der Kranke; der Arzt muss den Kranken kennen. Er ist das neue Leben, welches in dich einziehen will. Das Leben muss die Stätte kennen, welche es zu seiner Wohnung nehmen will. Es gibt Herzen, in welchen Christus immer aufs Neue gekreuzigt wird. In diesen kann er nicht dauernd Wohnung machen. Es gibt Herzen, in welchen man ihm kaum ein kleines Quartier gönnt, ein abgelegenes Kämmerlein neben dem großen Getreibe der Sünde und der Sicherheit. In solchen kann ihm auch nicht wohl sein. Es gibt endlich Herzen, in welchen er zu seinem Rechte kommt, in welchen er der längst Ersehnte, der Freund der Seelen, der Bräutigam und der Herr ist. In diese zieht er ein; in diesen bleibt er auch, wenn es Abend wird, und wenn der Tag sich neigt. Von solchen Herzen wollen wir heute unter Anleitung unseres Textes reden. Namentlich wollen wir erforschen, ob unsere eigenen Herzen solche sind. Wir stellen dazu unserer Andacht den Hauptgedanken voran:
Nur dem, welcher an den Herrn selbst glaubt, vertraut er sich.
Du lieber treuer Herr und Herzenskündiger, du erforscht unser aller Herzen. Es ist Nichts vor dir verborgen. Wir können auch vor deinem Auge Nichts verschließen. O wie müssten wir uns vor dir schämen, wenn wir deine heilige Person recht fest und deutlich vor uns hätten, wenn wir mit unserem innern und äußeren Wandel vor dir ständen Mann gegen Mann und Auge in Auge. Aber der Unglaube hat dich so ferne weggeschoben und deine heilige Gestalt verwischt. Obschon gegenwärtig, obschon bei uns alle Tage bis an der Welt Ende, sehen wir dich doch nicht gegenwärtig. Wir haben uns ferne gestellt, darum bist du uns so ferne. So komm doch, Herr, und ziehe uns an dich. Ziehe uns mit deiner Liebe und mit deinem Wort. Und ob wir uns auch heute vor dir verbergen wollten, so halte uns doch fest und siehe uns an, wie du Jene angesehen hast, welche dich in der Stadt Jerusalem umstanden. Und dann gib uns Gnade, dass du uns nicht allein erkennst, sondern dass auch wir uns erkennen und wissen, was in unsern Herzen ist. Erkennen wir dann unsern Glauben als einen kranken und halben; glauben wir nur an deine Taten, aber nicht an dich: dann zeuch uns noch einmal zu dir. Zeige uns dein Herz und deine Liebe, dein Leben und dein heiliges Ich, und erwecke in uns den heiligen Zug, durch den es in der Seele heißt: „Dich suche ich, dich liebe ich, an dich glaube ich. Ich will nicht deine Kräfte, ich will nicht deine Taten, ich will nicht den Saum deines Kleides, ich will dich haben. Ja, Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde, und ob mir gleich Leib und Seele verschmachte, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil. Segne heute dein Wort, dass wir dich wahrer und tiefer ergreifen. Ja segne es uns aus Gnaden. Amen.
In dem Herrn geliebte Gemeinde. Es kann kein Lichtstrahl in gerader Linie in das Wasser eindringen und auf seinen Grund hinuntergehen. Er wird erst an der Oberfläche gebrochen, und gebrochen steigt er in die Tiefe hinab. So kann auch kein Menschenauge auf geradem Wege in das Herz des Nächsten eindringen. Es findet hier noch viel mehr Widerstand, als die Sonne auf der Wasserfläche. Nur Weniges können wir dem Menschen vom Gesicht herunterlesen. Wenn wir ein Mehreres wissen wollen, muss der Mensch reden, oder schreiben, oder wir müssen ihn in seinen Taten begleiten. Und dabei laufen wir immer noch Gefahr, dass er uns ein falsches, gefärbtes Bild von sich selbst gebe, denn er kann in Rede, Schrift und Werken lügen und heucheln. Er kann vor Menschen die Tür seines Herzens so fest zuschließen, dass oft Vater und Mutter nicht in das Herz ihres Kindes, der Mann nicht in das Herz seines Weibes, und der Freund nicht in das Herz des Freundes sehen kann.
Anders steht der Mensch vor seinem Gotte. Gott sieht nicht wie Menschen sehen. Sein Auge braucht nicht zu warten, bis ihm der Mensch eine Pforte in sein Herz aufschließt. Dies Licht und Auge geht nicht in gebrochenem Strahl oder auf krummem Wege in unsere Tiefen hinunter, sondern geraden Weges. Gott braucht nicht zu fragen, und wir brauchen nicht zu antworten. Wir brauchen uns ihm nicht zu offenbaren; es ist Alles bloß und entdeckt vor seinen Augen. Darum singt David im Psalmbuch: „Herr, du erforscht mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich, und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht Alles weißt.“ Vor ihm gilt kein Lügen, kein Heucheln, kein Verbergen und Verstecken. Er sieht auch Alles in seinem wahren Lichte und in seinem rechten Zusammenhange. Vor Menschen kannst du deinen Taten eine andere Farbe und Verbindung geben, als sie in dir gehabt haben. Vor Gott vermagst du dies nimmer. Wie sie aus deinem Herzen geboren sind, so sieht er sie. Alle die schönen Schleier, welche du nachher darüber hängst, sind für ihn nicht da. Ja wenn du dir selber unklar bist, wenn die verborgene Bosheit in dir noch keine klare Gestalt gewonnen hat, sondern noch wie ein matter Puls unter deinem Leben klopft, so sieht er sie doch schon ganz klar in Gestalt und Entwicklung. Und wenn du noch in dir mengst und mischt und Gutes und Böses und Allerlei unter einander wirfst, damit dich nur die Schuld mit ihrem scharfen Auge nicht erblicken soll: vor ihm wird doch nicht gemengt noch gemischt. Er scheidet, was du selbst nicht scheiden willst oder scheiden kannst.
Er ist der Einzige, der uns recht kennt, besser denn wir selbst. Und wie der Vater dies tut, also tut es auch der Sohn. Er spricht: „Ich und der Vater sind Eins. Der Sohn kann Nichts von ihm selbst tun, denn was er sieht den Vater tun; denn was derselbige tut, das tut gleich auch der Sohn.“ Dieser Sohn, in dem Herrn geliebte Gemeinde, wandelte unter den Menschen. Er sah sie an von Angesicht zu Angesicht. Ei, was muss das bei ihm für mannigfaltige Herzensbilder gegeben haben! Er sah, wie wir neulich gehört haben, den Johannes, Andreas, Petrus und Nathanael. Bei diesen Allen war es im Grunde richtig. Sie kannten sich Alle als hilflose arme Sünder, und sie Alle klammerten sich mit stärkerer oder schwächerer Glaubenshand an ihn als ihren Heiland an. Freilich gab es in Allen neben diesem richtigen Anfange auch noch viel eigenes unreines Wesen, und zwar bei jeder Person in anderer Gestaltung und Mischung. Die Rose, welche durch die Dornen hindurch in ihrem Herzen emporwuchs, war umstanden von allerlei Unkraut und Gestrüpp. Der Garten eines jeglichen Herzens sah anders aus. Zu andern Zeiten standen vor dem Herrn stolze Priester und Pharisäer. In ihres Herzens Mittelpunkte stand der Hochmut der eigenen Gerechtigkeit und daneben der Grimm gegen ihn selbst. Er sah da schon das Holz wachsen, aus welchem später das Kreuz gezimmert wurde. Wieder in andern Herzen, namentlich in denen der üppigen Sadduzäer, sah er nur die schönen Weltblumen. Kein Baum des Glaubens stand dazwischen, nicht einmal ein Keim dazu schaute aus dem toten Boden heraus. Ja nicht einmal ein scharfer, bitterer Hass gegen ihn war da. Sie standen in ihrer Weisheit viel zu hoch, der Jesus von Nazareth war ihnen viel zu gleichgültig, als dass sie ihn hätten hassen sollen. Sie gingen ihres Weges und ihn ließen sie auch seines Weges gehn. Nur einmal legen sie ihm, um ihre Weisheit und ihren Witz an ihm zu proben, eine verfängliche Frage vor. Als er ihnen aber den Mund gestopft hatte, kümmerten sie sich nicht mehr um ihn, sondern überließen seine Bestreitung, Verfolgung und seinen Tod den Pharisäern. In unserem Texte hat er halbe Leute vor sich, welche durch seinen Namen und seine Taten zusammengerufen sind. Sie gehen dem Klange des Namens und der Wunder nach, aber nicht dem Erlöser. Auch ihre Bilder stehen in seinem Herzen, auch sie hat er durchschaut bis in den Grund.
Nun, geliebte Gemeinde, dieser Jesus lebt noch. Er ist erhöht zur Rechten Gottes seines himmlischen Vaters. Damit ist sein Auge nicht blöde geworden, damit ist er uns nicht in die Ferne gerückt. Im Gegenteil, was von menschlicher Schwachheit an ihm war, das hat er im Tode gelassen, und die letzten Bande der Erniedrigung hat er in der Himmelfahrt abgestreift. Wie vor dem Vater, so liegt auch vor dem Sohne die ganze Welt und auch jedes einzelne Herz aufgeschlossen. Wie damals von Allen, welche zu ihm kamen, das innere Bild vor seinen Augen stand, so steht es jetzt von der ganzen Christenheit, von der ganzen Menschheit vor ihm. Teure Gemeinde, auch von uns Allen, die wir hier versammelt sind, hat er ein klares Herzensbild vor sich. Der, welcher dich geliebt hat bis in den Tod, der, welcher sich selbst für deine Sünde in den Tod gegeben hat, damit du sie unter sein Kreuz trägst und in den Tod gibst, der sieht Alles, was du von Sünde in dir noch übrig behalten hast. Er kennt die kranke Wurzel deines Herzens, die letzte Angel, um welche sich deine Gedanken und Hoffnungen drehen. Er kennt deine innere Kälte; dein erstes und dein letztes liebloses Wort klingt noch in seinem Ohr. Er kennt deine alte Trägheit in der Heilsarbeit; deine letzte faule Entschuldigung steht noch vor ihm. Er kennt deine innere Unreinigkeit; deine alten Taten und dein jüngster Gedanke stehen klar in seinem Gedächtnis. Auch was du diesen Morgen gehadert und gedacht, was du draußen gelassen oder mit in die Kirche gebracht hast, ist vor seinem Auge geschehen. Alle Lüge, alle Untreue, alle Wortbrüchigkeit hast du ihm ins Angesicht getan. Nun erwäge einmal, wie es dir ergeht, wenn dich ein Freund, den du lieb hast und ehrt, auf deinen Sünden betrifft. Die Schamröte steigt dir ins Gesicht, du weißt nicht, was du dem Gesicht für eine Gestalt geben sollst; das Auge läuft hin und her und möchte am Liebsten gar nicht sehen, noch sich sehen lassen; das Wort hinkt und wankt wie ein Lahmer, und das Herz friert und zittert wie der nackte Leib in diesen Tagen des Frostes. Siehe, das tut ein Menschenauge an dir. Und nun denke hinauf. Auf allen deinen Sünden betrifft dich die heilige Liebe, betrifft dich das Auge und Herz dessen, der da spricht: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselbigen vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet.“ Ja, als ihm seine Hände durchbohrt wurden, hat er auch dich mit hineingezeichnet, auch um deinetwillen ist er ans Kreuz geheftet. Es steht dich der,
Dem allemal das Herze bricht,
Wir kommen oder kommen nicht.
Sollen wir uns vor diesem Auge nicht schämen, sollen wir nicht zittern, nicht trauern, nicht ringen, nicht wachen lernen, dass wir in keine Sünde willigen, noch tun wider Gottes Gebot? O dass wir doch fester und wahrer wären in unserem Glauben an den allgegenwärtigen Herrn! Dass uns doch der, welcher uns in der Tat der Nächste ist, nicht so ferne stände! Dass doch der, welcher auch zur Rechten seines himmlischen Vaters seine ganze verklärte menschliche Persönlichkeit mit hinaufgenommen hat, uns nicht eine so unbestimmte, unklare Person geworden wäre! Er ist es nicht, wir haben ihn in unserem Unglauben und in unserer Trägheit nur dazu gemacht. In der Tat, wie er dort von jedem Menschen ein wahres und ganzes Bild in sein Herz nahm, so nimmt er es auch heute. Wie er dort in der Versammlung der Juden stand, so steht er auch unter uns in dieser Versammlung, so erforscht er auch uns. Wonach schaut er aber vornehmlich, wenn er die Herzen mustert?
In unserem Text steht: „Als er aber zu Jerusalem war in den Ostern auf dem Fest, glaubten Viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an.“ Daraus erseht ihr schon, dass es kein rechter Glaube gewesen ist; denn seinen Jüngern und den Freunden in Bethanien, dem Lazarus, der Maria und der Martha, vertraut er sich stets. Lasst uns einmal den Glauben jener Juden mit einander ansehen. Woraus entsprang er? Aus den Taten und Wundern des Herrn. Die Leute schlossen so: „Wer solche Zeichen tun kann, der muss der Heiland sein.“ Der Glaube war aus äußeren, nicht aus inneren Erfahrungen geboren. Er war nicht aus dem Wort geboren. Er war nicht entstanden unter der Vergleichung der Weissagungen der Propheten mit der Person und den Werken Christi. Man hatte nicht so geschlossen: „Die Propheten haben uns aus Eingebung des heiligen Geistes aus der Ferne ein Bild von Christus gezeichnet. Der Erschienene stimmt ganz mit dem Bilde überein, also ist er Christus.“ Nur die Werke hatten die Leute überwältigt. Ihr Glaube war auch nicht aus einer Sehnsucht nach Erlösung geboren. Keiner von diesen vielen Gläubigen kommt und fällt vor Jesu nieder und bekennt ihm seine Sünden.
Sie hatten sich nicht mit dem tiefsten Bedürfnis ihres Herzens an den Herrn gehängt, sondern nur mit dem Verstande, den Augen und den Ohren. Musste er doch dem Volke zu einer andern Zeit sogar sagen: „Ihr sucht mich nicht darum, dass ihr Zeichen gesehen habt, sondern dass ihr von dem Brote gegessen habt und seit satt geworden.“ Sie waren etwa Kopfchristen oder Gläubige in der Phantasie und in ihren äußeren Hoffnungen geworden. Daher war auch ihr Glaube kein fester. Wenn du an die Taten glaubst, kann morgen Einer kommen, welcher ebenso große oder größere tut. Es wird kein Glaube an ihn, sondern nur an seine Werke. Jenen Juden kam es nicht darauf an, von wannen Jesus gekommen war und wer er war, sie ließen sich an den Taten genügen. Die Taten banden sie aber auch nicht an ihn fest. Wenn Not da war, wenn sie der Taten bedurften, dann suchten sie ihn. Wenn er der Not abgeholfen hatte, dann kannten sie ihn nicht mehr. Denkt an die zehn Aussätzigen. Zehne schrien: „Jesu, lieber Meister, erbarme dich über uns.“ So lange alle den äußeren Aussatz hatten, schrien sie aus einem Munde. Als sie geheilt waren, gab nur einer dem Herrn die Ehre. Einer hatte den Heiland, zehn hatten äußere Helfer gesucht. Einer hatte ihn haben wollen, neune hatten nur von ihrem Aussatz ledig werden wollen. Das ist der Glaube an die Taten.
Nun, teure Gemeinde, gibt es denn in der Christenheit, gibt es denn unter uns auch solche, welche Christum nur seiner Taten, seiner Wunder wegen suchen? Gibt es solchen Glauben auch hier? Ja wohl. Es hat nie in der Kirche an Leuten gefehlt, und fehlt auch jetzt nicht an ihnen, die den Herrn nur nehmen als den Nothelfer in einzelnen Fällen. Da sucht ihn Einer auf seinem Krankenlager. Er denkt: „Er ist für so viele Kranke ein Arzt gewesen, er könnte es auch wohl für mich sein.“ Er schließt von Taten auf Taten. Ein Anderer will ihn bloß brauchen als Helfer an der Erziehung seiner Kinder. Er weiß, dass Kinder, welche unter der Zucht des Herrn stehen, welche ihn von Herzen lieb haben, liebe Kinder werden. Der Herr soll ihm dienen an seinen Kindern. Ein Dritter will ihn haben, damit er den Hausfrieden baue. Er will ihn haben, damit er sein eigenes eigenwilliges Wesen oder das seiner Frau breche. Ein Vierter will ihn haben als Mitkämpfer gegen seine eigenen einzelnen Leidenschaften. Und ein Fünfter geht ihm einmal nach, wenn er einen großen Verlust erlitten hat, etwa wenn der Tod ihm eins der Seinen entrissen hat. Er soll neben dem Grabe stehen und Trost in das Herz gießen. Ein Sechster - und dieser Sechsten sind jetzt recht viele - sieht ihn als den Mann an, welcher unsere zerrütteten sozialen Verhältnisse heilen und der Revolution einen Damm entgegensetzen soll.
Es ist wahr, geliebte Gemeinde, er tut das Alles. Sie kommen damit gar nicht an den Unrechten. Er tut auch noch Größeres, als dieses. Dennoch ist es nicht ein Glaube um seinetwillen, sondern um seiner Taten willen. Was wird denn aus solchem Glauben, wenn der Kranke gesund geworden ist, wenn die Kinder glücklich erzogen sind, wenn der Friede hergestellt ist, wenn Herz und Wandel in einige Zucht genommen sind, wenn über die alten blutenden Wunden Gras gewachsen und die Revolution gründlich besiegt und vernichtet ist? Dann braucht man den Herrn nicht mehr. Oder was wird aus solchem Glauben im umgekehrten Falle, wenn der Kranke doch stirbt, wenn die Kinder doch nicht so gedeihen, wenn der andere Teil im Hause, anstatt sich durch das Wort von Christo ziehen zu lassen, sich an ihm verstockt und noch ungebärdiger wird? Was wird dann? Dann sagt man etwa: „Ich habe es auch mit dem Worte Gottes, mit dem Gebet und mit dem Herrn Christus versucht; aber er hat auch nicht helfen können.“ Wir können es nicht leugnen, dass der Herr zuweilen auf diesem Wege einen Segen gibt. Manches Herz ist dadurch zum Glauben gekommen. Wenn man einen Zweig einer Pflanze ergreift, kann man wohl den ganzen Stamm aus der Erde ziehen. Aber der Zweig kann auch abreißen. Und ist er abgerissen, so verdorrt er, und man hat Nichts. Darum sollst du zuerst nach der Wurzel und nach dem Stamme greifen. Nicht die Taten des Herrn sollst du zuerst lieben, nicht um ihretwillen sollst du an ihn glauben. Ihn selbst sollst du suchen. Du hast auch seine Taten nur in ihm und an ihm. Halte dich also, mein lieber Christ, in deinem Herzen zu jenen Jüngern, an denen wir uns heute vor vierzehn Tagen erbauten. Als sie Jesus fragte: Was sucht ihr?“ antworteten sie: „Meister, wo bist du zur Herberge?“ Ihn suchten sie. Ihn suche du auch. Zuerst muss dich seine Person ziehen. Er ist der Lieblichste von Allen, die auf Erden gewandelt haben. Groß und herrlich ist er in seinem Wesen, wahr und mächtig in seinem Worte, lieblich in seiner Liebe, treu über alle Treuen in seinem Leiden und Sterben für uns. Das Alles soll uns zuerst an ihn ziehen. Unsere Kirche singt:
Herzlich lieb hab ich dich, o Herr,
Ich bitt', wollst sein von mir nicht fern
Mit deiner Güt' und Gnaden.
Die ganze Welt erfreut mich nicht,
Nach Erd und Himmel frag' ich nicht,
Wenn ich dich nur kann haben.
Und wenn mir gleich mein Herz zerbricht,
Bist du doch meine Zuversicht,
Mein Teil und meines Herzens Trost,
Der mich durch sein Blut hat erlöst,
Herr Jesu Christ,
Mein Gott und Herr, mein Gott und Herr:
In Schanden lass mich nimmermehr.
Erst ihn! Er ist es wert, dass wir an ihn glauben und ihn lieben. Dann die Erlösung, als seine erste Tat und Gabe! Dann den Frieden Gottes, der allein aus der Erlösung folgt! Und endlich die einzelnen Güter, welche er seinen Getreuen nach seiner Barmherzigkeit noch schenkt. Das ist die rechte christliche Ordnung. Erst müssen wir den Lebensbaum im Garten haben, dann erst können wir von seinen Früchten essen. Findet Jesus solchen Glauben in uns, dann
Jenen Juden, welche bloß an den Namen Jesu glaubten um der Werke willen, die er tat, vertraute er sich nicht. Er ging nicht in ihre Häuser, er blieb nicht bei ihnen über Nacht, sondern wanderte hinaus nach Bethanien am Ölberg, um die Nacht in dem Hause des Lazarus zu bleiben. Er fürchtete, nein, er wusste, dass jene dem Andringen seiner Feinde nicht widerstehen und ihn in ihre Hände überantworten würden. Er hatte Recht. Denn so sie bloß an seine Taten glaubten, konnte eine Tat gegen die andere kommen. Geld und Bestechung ist auch eine Tat, Drohung ist auch eine Tat. Es hätte leicht eine Stunde kommen können, wo diese letzteren bei solchem halben Gläubigen schwerer gewogen hätten, als alle Taten der Güte und Hilfe, welche er von Christo erfahren hatte, und er wäre sein Verräter geworden. Aber die Zeit des Herrn war noch nicht gekommen. Dieselbe Klugheit beobachtet auch ihr in manchen Verhältnissen. Es kommt wohl vor, dass sich ein Mann um eine Jungfrau bewirbt, aber bei seiner Bewerbung im Grunde nicht sie liebt und sucht, sondern ihr Geld, ihr Angesicht, den Einfluss ihrer Familie oder auch ihre Gaben und ihre Geschicklichkeit. Hat sie den rechten Verstand, ist das innere Licht nicht durch Eitelkeit und andere Leidenschaft düster geworden, so sagt sie auch: „Dem vertraue ich mich nicht, denn er sucht nicht mich, sondern nur die Zugabe zu mir.“ Dieselbe Weise und Weisheit beobachtet der Herr auch gegen dich. Wenn du nicht ihn suchst, sondern nur seine Gabe so vertraut er sich dir auch nicht. Es ist wahr, er sieht unsere Schwachheit und Blödigkeit an. Er gibt auch wohl dem, welcher nur einzelne Gaben von ihm haben möchte. Er gibt Hausfrieden, Segen zur Kinderzucht, ein geordneteres Berufsleben, Versöhnung mit Widersachern, lieben, friedlichen Verkehr mit Andern, auch Trost in einzelnen Fällen. Er gibt was man glaubt und sucht. Er gibt, um in uns die Sehnsucht nach dem Ganzen, nach sich selbst zu erwecken. Aber sich gibt er nicht, denn er ist auch hier vor Verrätern nicht sicher.
Viele wissen von seiner Durchhilfe in einzelnen Fällen zu rühmen. Er hat ihnen eine glückliche, ja selige Jugend geschenkt, er hat sie vor groben Übertretungen behütet, er hat sie auch eine Weile mit seiner Freude erquickt und ihnen das Haus gebaut. Und doch haben sie später dem Feinde Ohr und Herz geliehen, sind Gleichgültige, Abtrünnige und Widersacher geworden. In Spott haben sie ihn, so weit sie ihn hatten, samt ihrer glücklichen Jugend an die Welt verraten. Sich gibt er nur, wenn wir mit der ganzen Not zu ihm kommen. Klage du ihm: „Herr, ich bin ganz elend, das ganze Herz ist krank, meine Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid. Wohl drücken mich auch einzelne Nöte; aber ich kann keine einzelne nennen vor der allgemeinen Last der Sündennot. Ich will nicht dies oder das haben, sondern dich will ich haben, dich, meine Liebe, meinen Arzt, meine Arznei, meine Stärke, mein Alles.“ Wer so kommt, dem gibt er, dem vertraut er sich. Er hat es verheißen in dem Wort: „Wer mich liebet, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Darin liegt denn freilich auch die größte Gnade.
Denken wir uns auf einen Augenblick hin in das Haus des Lazarus. Wenn der Herr mit seiner Tagesarbeit fertig war, dann wanderte er von Jerusalem fort am Ölberg entlang nach Bethanien, und kehrte in das Haus seines Freundes ein. Dort war kein Späher, dort war kein Streiter, dort galt es nicht, kalten, klugen Verstand zu überwinden. Die Tür des Hauses war ihm offen, und die Herzen der Bewohner auch. Da hielt er seine Feierabende. Da redete er aus der Fülle und aus dem Frieden Gottes heraus. Wohl möchten wir wissen, was dieser Lazarus für ein Mann, für ein Charakter gewesen sei. Er ist der Einzige, an dessen Grabe der Herr geweint hat. Er nennt ihn, indem er sich mit den Jüngern zusammenschließt, ihren Freund. „Unser Freund Lazarus ist gestorben.“ Aber die Schrift schweigt. Sie sagt uns mehr von den beiden Schwestern, als von dem Bruder. Nur so viel wissen wir, dass der Herr sich ihm ganz vertraute, und dass ihm sein Haus eine Ruhe und Erquickungsstätte war nach den schweren Stunden in Jerusalem. Lazarus Haus war der Ort, über den er seine überschwänglichen Gnaden ausschüttete. Diese Hütte ist lange zerfallen. Man zeigt zwar noch die Stätte, wo der Freund des Herrn gewohnt haben soll. Aber wer will dafür bürgen, dass es dieselbe ist.
Und doch sind noch Hütten da, wo der Herr ebenso einkehrt. Es gibt noch Herzen, denen er sich ganz vertraut, und über die er denselben Segen ausschüttet. O wie selig sind solche Christenseelen! Sie haben nicht die Taten, nicht das Wort des Herrn, sie haben ihn. Er wohnt in ihrem Herzen. Sie stehen mit ihm im innigsten Verkehr. Sie haben nichts Heimliches vor ihm. Ihre Sünde bekennen sie ihm täglich, seine Gnade preisen sie stündlich. Sie erfahren es in sich, wie er mit ihnen redet im Wort. Sie rufen hinauf, und er antwortet. Er ist ihr Himmel. auf der Erde, ihr Reichtum in der Armut, ihre Wärme im Frost, ihr Tod im Leben. Sie suchen ihn nicht bei Gelegenheit, sie haben ihn. Wo sie hingehen, da geht er mit. Gehen sie in Armut, so ist er mit ihnen arm, und doch reich. Gehen sie ins Gefängnis, so lässt er sich mit einschließen. Gehen sie in Schmach, so leidet er sie mit ihnen. Gehen sie in den Tod, so verlässt er sie nicht, sondern steht gerade recht bei ihnen. Gehn sie endlich in das Gericht, so tritt er vor als der, welcher für sie gerichtet ist. -
Fühlt ihr denn wohl, geliebte Gemeinde, was es für ein Unterschied ist, an seine Werke zu glauben, und an ihn zu glauben? etliche von seinen Taten zu haben, und ihn zu haben? Die Taten sind getan, ihre Frucht ist genossen; er aber bleibt, und wo er ist, da ist die Seligkeit. Wer ihn hat, gegen den kann das Meer wüten und wallen, gegen den können sich alle Feinde zusammenrotten, über dem kann die Nacht alles Licht der Welt verdunkeln, er behält doch in seinem Herzen eine lichte, selige Stelle, die da heißt: „Hier ist Immanuel.“ Wer ihn hat, dem kann der Feind alle Reiche der Welt bieten. Er wird ihm antworten: „Ich habe die köstliche Perle gefunden, in der ich Alles habe, und gegen die dein höchstes Anerbieten Nichts ist. Ich will meinen ewigen seligen Schatz nicht um Nichts verkaufen.“ Wohlan denn, teure Gemeinde, eure Herzen sind auf dem Wege zu ihm. Lasst euch nicht aufhalten. Begnügt euch nicht, dass ihr Etwas von ihm haben wollt. Nein ihn selbst wollen wir haben. Alle Gaben, die wir von ihm empfangen, alle Taten, die er an uns tat, sollen uns nur Unterpfänder auf ihn selbst sein. Herr, bereite in Gnaden. unsere Herzen, dass die Stunde bald komme, wo du dich uns vertrauen kannst. Amen.