Thomasius, Christian - Aus einem Brief

Thomasius, Christian - Aus einem Brief

Im Jahre 1696

Wille muß durch Wille bestritten werden, und wenn wir tugendhaft werden wollen, muß ein guter Wille den Bösen bestreiten. Wo will der Mensch aber den guten Willen hernehmen, indem er noch in dem Stande ist, daß er den herrschenden bösen Willen für etwas Gutes hält, und da der gute Wille von dem Bösen annoch gefesselt gehalten wird? Dieß kann nicht durch eine Einwirkung von außen, durch einen andern guten Menschen geschehen. Denn wo wollen wir tugendhafte Leute finden, die das kleine Fünkchen der vernünftigen Liebe, das bei uns ist, stark befeuern sollten, indem wir sie, wenn es ihrer auch gibt, ja nicht kennen können, weil wir ihnen so ungleich sind? Und es ist gewiß, daß wir nur das lieben, was uns gleich kommt. Es ist daher falsch, daß der Mensch einen freien Willen hat. Zwar die Eine Seite des Willens, nämlich zum Schlimmerwerden hin, ist frei, es wohnt dem Menschen ein Vermögen inne, sich wenigstens zu halten, daß er nicht immer tiefer sinke. Denn das Gewissen mahnt doch den Menschen, auch den verdorbenen und elenden, und er vermag, wenn er auf die Mahnung achtet, das zu erreichen, daß er nicht schlimmer wird. Dieses macht die Zurechnung möglich. Wie nun aber der Mensch von der Menschheit und bloßen Vernunft zum wahren Christenthum geleitet werden soll, das zeigt die Heilige Schrift, und dazu hilft ihm die göttliche Gnade. Die Erkenntniß des Unvermögens natürlicher Kräfte ist die erste Berührung göttlicher Gnade und des Lichts der Natur. Ich glaube, daß Gottes Heiliger Geist, der Geist der Weisheit und der Erkenntniß, das Hauchen der göttlichen Kraft und der Strahl der Herrlichkeit des Allmächtigen den Menschen gebe die Weisheit, durch die sie selig werden. Und zwar ist nur Eine Seligkeit des Menschen, die in dieser Welt angefangen und in jener vollendet werden muß. Denn wie der Baum fällt, so bleibt er liegen.

Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren

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