Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Luk. 15,1-10

Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Luk. 15,1-10

Ich weiß es nicht, ob auch Manchem von euch die Stunden der Versuchung schon gekommen sind, wo einem die Menschheit so unbeschreiblich nichtig und verächtlich vorkommt, wo es einem scheinen kann, als könne es über diesem dumpfen Gewirre von Elend und von Sünde, wo Eine Thorheit und Ein Verbrechen das andere jagt, und Ein Jammer den andern überbietet, kein Gottesauge mehr geben und kein waltendes Vaterherz. Sind selbst über Prophetenherzen solche Stunden der Versuchung gekommen, wie könnten wir uns wundern, wenn sie auch bei solchen, wie wir sind, nicht fehlen! Warum lässest du die Menschen gehen, wie Fische im Meere, wie Gewürm, das keinen Herrn hat. hat ein Habakuk in einer seiner schwachen Stunden zu Gott gerufen. Ein Gottes-Bild ist das Menschenkind, so werden wir gelehrt- o sehet das Gottes- Bild hier in den Schenken, dort an den Galeerenbänken, seht es auf seinem Strohlager und in seinen Lazarethen! Gottes Bild das Menschenkind - sehet wie diese Gottesbilder die Faust gegen einander ballen, wie sie die Brandkugeln als Brudergruß einander zuwerfen, wie sie mit einem: was geht's mich an! sich gegenseitig verhungern lassen in den Lehmhütten und an den Landstraßen! Ich sage noch mehr: kommen sie nicht die Stunden, wo dieses Gottesbild sich in sich selbst so gründlich verachten muß, daß es in sich selbst kein Erbarmen finden kann mit sich selbst? - Aber verachte dich wie du willst, verachte die Menschheit wie du willst, doch bist du, doch ist die Menschheit theuer geachtet vor Gott, und das mußt du glauben, wenn's besser werden soll mit der Menschheit und mit dir. So soll uns denn unser heutiges Evangelium die Wahrheit aufs Neue bestätigen: Trotz allem, was dagegen spricht, doch ist jede Menschenseele unaussprechlich theuer geachtet vor Gott. Vernehmet unsre Textesworte Lucä 15, 1-10:

Es naheten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn höreten. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murreten, und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an, und isset mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichniß und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schaafe hat, und so er der Eins verlieret, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste, und hingehe nach dem verlornen, bis daß er es finde? Und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn, und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel seyn über Einen Sünder, der Buße thut, vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Oder, welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie der Einen verlieret, die nicht ein Licht anzünde, und kehre das Haus, und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen, und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte. Also auch, sage ich euch, wird Freude seyn vor den Engeln Gottes über Einen Sünder, der Buße thut.

Trotz allem, was dagegen spricht, wie theuer ist jede Menschenseele vor Gott geachtet! Seht, wie diese Wahrheit in unserm Evangelium in jedem seiner Züge ausgeprägt liegt, und was für hohe, tröstliche, warnende und mahnende Gedanken es uns damit an's Herz legt.

Das Ebenbild des großen Königs war einmal dem Groschen aufgeprägt, er war in den Koth getreten, aber das Bild war nur mit Schmutz und Koth bedeckt, verloren und ganz verwischt war es noch nicht. Wenn nun aber der Sohn, wie er selbst sagt, nichts Anderes thun kann, als was er den Vater thun sieht. wenn der Sohn selbst vom Vater zeugt: das ist aber der Wille des Vaters, daß ich Nichts verliere von Allem, was er mir gegeben hat. und wenn wir hier weiter lesen von der Freude, die von der Erde bis in den Himmel hinaufschallt über jeden Sünder der Buße thut, muß es nicht doch wahr seyn - trotz allem Nein und Aber, welches der Augenschein dagegensetzt - daß jede Menschenseele unaussprechlich theuer geachtet ist vor Gott? Was aber die Jahrtausende betrifft, die hingegangen sind ehe noch der gute Hirt erschienen war, der mit seiner Hirtentreue die verlornen Schäflein sucht und die Millionen, die jetzt in jeder Minute dahinsterben, ohne daß der gute Hirt sie gesucht hat: werden wir nicht zunächst, was das Letztere betrifft, nur die Untreue der gefundenen Schafe anzuklagen haben, d. i. der lau gewordenen Christenheit, denn warum, o warum ist der Missionseifer jenes ersten Christenhäufleins so bald erloschen? Wäre geschehen, was hätte geschehen sollen, müßte nicht jetzt eigentlich kein Volk mehr auf Erden seyn, das den Namen seines Heilands nicht kennte: müßte es nicht mithin auch so stehen, daß so viel ihrer verloren gingen nur verloren gingen nicht durch fremde sondern durch eigene Schuld? Weiter aber, da sie doch nicht büßen können, was wir gesündigt haben, was sollen wir sagen? Wissen wir, wie theuer jede Menschenseele vor Gott geachtet, wissen wir ferner, was er selbst ausgesprochen, daß er der harte Herr nicht ist, der erndten will, wo er nicht gesäet hat“ - sollen wir nicht glauben an eine zukünftige Welt, wo er seinen Namen rechtfertigen wird an jenen Millionen Seelen, die wir trägen Christen durch unsere Schuld haben leben und sterben lassen ohne Heiland und ohne Gott? Wer die ersten Acte eines großen Dramas sieht, dem ist Alles noch Räthsel: so glauben auch wir unterdeß daran, daß mit dem letzten Acte des großen Weltdramas sich alle Räthsel lösen werden in das Bekenntniß: Wie unendlich theuer ist jede Menschenseele geachtet vor Gott!

Seht also, wie in diesem Evangelium der Mund unsres Heilandes uns durch jeden Zug desselben diese Wahrheit bestätigt. Die Hunderte von Kindern treten mir vor Augen, die man in jeder Stadt aufwachsen sieht, ohne daß eine Menschenseele sich ernstlich um ihr Heil bekümmert, die Tausende von Jünglingen, die geistig und leiblich verloren gehen in den Lazarethen, - auf der See, in den Kriegen, die vielleicht nicht eine einzige Seele haben, die sie nur vermißt. Die Nation, welche den dritten Theil des Menschengeschlechts ausmacht, die 300 Millionen Chinesen, von denen in jeder dritten Secunde einer aus der Zeit in die Ewigkeit geht, ohne von einem Gott, einem Heilande und einer Ewigkeit etwas zu wissen. Und dennoch, dennoch ist es wahr nach meines Heilandes Munde: Es giebt einen Gott, der jedes verlorne Schäflein seiner Heerde vermißt, der jeden Groschen, das ist jede Menschenseele gezählt hat, welchem Gott sein königliches Ebenbild aufgeprägt hat - auch die Verachtetsten nicht ausgenommen, denn die, welche im Evangelium zum Herrn hinzutreten die Zöllner, das waren damals die Verachtetsten in Israel. Uns scheinen sie hinzugehen wie die Fische im Meer und wie das Gewürm, das keinen Herrn hat. Und doch hat er in der Fülle der Zeit seinen Sohn ausgeschickt, um auch die Geringsten und Verachtetsten unter den Vermißten, ja gerade diese am Meisten aufzusuchen. Warum? Denn sie sind einmal Glieder seiner Heerde, sie sind sein Gott gegebenes Eigenthum, wie der Evangelist spricht: „Er kam in sein Eigenthum“ und wie der Herr selbst spricht: „du hast mir Macht gegeben über alles Fleisch“. - Wie manchen weiten Weg hat er laufen müssen, durch wie manches Dornengebüsch und durch wie manchen Sumpf hindurch, wie manchen Berg hinauf, wie manchen Abgrund hinunter! und doch hat er es nicht gescheut. Und wie groß ist seine Freude über die Einzelnen gewesen, wie hat er das wiedergefundene Schäflein, damit es ja nicht auf's Neue irre gehe, auf seine Achseln genommen, und als er zurückgekommen, alle Nachbarn und Freunde zur Mitfreude herbeigerufen! Nie hat er um des Einen verlornen Groschens willen das Licht angezündet, das Haus gekehrt, gesucht und wieder gesucht mit Fleiß, bis daß er ihn gefunden und Nachbarn und Freunde zur Mitfreude herbeigerufen - warum?

Wenn nun unser Evangelium in jedem seiner Züge diese Wahrheit ausprägt, so sehet ferner auch, wie hohe und tröstliche, warnende und mahnende Gedanken dieselbe uns ans Herz legt, zuerst in Bezug auf uns selbst, sodann in Bezug auf unsre Mitmenschen neben uns.

Was für hohe Gedanken in Bezug auf uns selbst! Der hat freilich sich noch nicht selbst erkannt, dem die Stunden fremd sind, wo man sich so innerlich in sich selbst verachten kann, daß man kaum vor sich selbst das Auge aufzuschlagen wagt. Und doch haben wir noch nicht Alles ausgesprochen über das, was von uns gilt, wenn wir ausrufen: Otterngezücht für die Hölle reif! Ja Otterngezücht für die Hölle reif aber - trotz alledem so theuer geachtet vor Gott, daß er auch seines eignen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für uns Alle dahingegeben. Hat dich nun dein Gott nicht weggeworfen Mensch, so darfst du dich auch nicht selbst wegwerfen. Ich habe gemeint, ich würde zu seiner Heerde nicht mehr gezählt, und doch darf ich mich dazu zählen, denn Er hat mich dazu gezählt, als er die 99 in der Wüste ließ und mich aufsuchte auf den Bergeshöhen und in den Abgründen. Ach, wie schmählich ist der verlorene Groschen in den Koth getreten worden, ich habe gemeint, daß auch kein blasser Zug mehr daran aufzufinden sei von dem Königsbilde, das ihm ursprünglich aufgeprägt worden, und doch kann es noch nicht ganz daran verlöscht seyn: meines Schöpfers Augen müssen es noch daran erblicken, denn das Licht hat er angezündet, hat gekehrt und gesucht und keine Mühe sich verdrießen lassen bis er mich gefunden. Wir lesen nicht, daß er gefallene Engel erlöst hat, aber gefallene Menschenseelen ist er zu erlösen gekommen. So muß doch noch ein edler Gefangener in dir gewesen seyn, der zur Freiheit kommen konnte, - hast du ihn nicht auch manchmal an seiner Kette rasseln hören? Heißt es nicht, daß das Wort Gottes, das von Anfang war, jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt, nur daß die Finsterniß nicht das Licht ergriffen hat? Ja es ist und muß in jeder Seele etwas dem Sohne Gottes Verwandtes seyn, sonst wäre der Mensch nicht vorzugsweise sein Eigenthum, sonst wäre der Gottessohn auch nicht ihn vorzugsweise suchen gegangen. - Das sind die hohen Gedanken, auf welche diese Wahrheit uns führt. Höret auch die warnenden und mahnenden. Der Sohn Gottes ist mich suchen gegangen, weil er doch noch etwas ihm Verwandtes in mir gefunden: das ist mein christliches Ehrgefühl, das ich vor jedem Ehrenverächter und Ehrenräuber der Menschheit vertheidige, das ich auch vor mir selber retten möchte. Ja, warnend und mahnend tritt diese hohe Wahrheit an unser Gewissen, ihr studirenden Jünglinge, ihr wißt euch soviel mit eurem studentischen Ehrgefühl, o hättet ihr auch das christliche Ehrgefühl, das ihr haben solltet! Hättet ihr es, wie könntet ihr so oft an euch selbst die ärgsten Ehrenräuber werden und eure Schande für eure Ehre halten? O Jünglinge, die ihr dem Worte Gottes glaubt, schreibt es tief in euer Herz: es giebt keine höhere Ehre für euch, als daß Gott eurer Seele seinen Namenszug eingeprägt, und weil derselbe noch nicht völlig erblaßt, der Sohn Gottes gekommen ist euch zu suchen.

Was euch in dieser Wahrheit zur Mahnung dient, das laßt aber auch euren Trost seyn. Fühlet den Trost, der darin liegt, wenn die Wellen des Jammers und der Noth euch verschlingen wollen, wenn deine liebsten Hoffnungen dir vereitelt werden, wenn die heißesten Gebete unerfüllt bleiben. Was auch der Grund sei, den Grund kann es nicht haben, daß Gott dich verachtet und verworfen habe. Wenn ein Ruthenschlag nach dem andern auf dich fällt, wenn du unter der Hitze der Anfechtung kaum zu Odem kommen kannst, das muß doch feststehn: du bist doch theuer vor ihm geachtet, es muß auch von dir wahr seyn, was er beim Propheten spricht: ist nicht Ephraim mein trautes Kind! darum bricht mir das Herz, so oft ich ihn schlugen muß. Das ist das selige trostreiche Dennoch Assaphs, als er sah, wie es den Gottlosen in der Welt so wohl ging, dennoch bleibe ich stets an dir. So sind die sauren Tritte, die du auf dem harten Felsenweg und durch die Dornenspitzen hindurch thun mußt, doch nur der kürzeste Weg, auf dem du zu Jesu Heerde zurückgeführt wirst.

Wie theuer ist jede Menschenseele vor Gott geachtet, wie hohe und trostreiche, wie mahnende und warnende Gedanken bringt dieses Wort uns auch ans Herz in Bezug auf die Mitmenschen neben uns!

Was für hohe und trostreiche Gedanken, wenn es Einem würklich so oft wie dem Propheten geht, wenn es Einem scheinen will, daß die Menschenkinder dahingehen „wie die Fische im Meer und das Gewürm der Erde, das keinen Herrn hat. Sollte Mancher von euch die Stärke eines solchen versuchenden Gedankens noch nicht empfunden haben, so kann es nur darum seyn, weil die Trübsal noch nicht recht an ihn selbst herangereicht hat oder weil er den theilnehmenden Blick nicht auf die Stätten des Elends und des Jammers, die in der Menschheit sind, hinrichtet. Weil in euch noch zu wenig von der suchenden Sünderliebe Jesu ist, darum habt ihr euch noch nicht um die Klagelieder der demüthigen oder die Verwünschungen der trotzigen Armuth gekümmert, die neben euren Bällen und Concerten laut werden; um die Thränen und die Sünden derer, denen kein guter Hirt in Menschengestalt nachgeht. Ihr aber, die ihr einige Blicke in diese Abgründe der Noth gethan habt, welche keine Wohlthätigkeit des Einzelnen ganz auszufüllen vermag; in diese Abgründe der Gottentfremdung und der Sünde, aus denen keine Bußpredigt und kein Liebesruf des Einzelnen herauszuziehen vermag, ihr werdet die Erhebung empfinden, die der Gedanke giebt: und doch sind auch diese Seelen theuer geachtet vor Gott! Und den Trost sich sagen zu dürfen: nun, es giebt doch Einen, der heißer liebt als ich und vor denen auch diese Menschenseelen theuer geachtet sind als vor mir! Rechte Christen müssen eigentlich immer mit Paulus sprechen können: „wer ist schwach und ich werde nicht schwach? wer wird geärgert und ich brenne nicht?- Ihr Christen nun mit diesem feineren Saitenbezuge der Herzen, nicht wahr, der geistliche und leibliche Jammer Unzähliger in dieser Welt wäre nicht zu tragen, wenn wir uns nicht trösten dürften: diese Alle sind doch vor Gott theuer geachtet, auch wenn ich und meinesgleichen die Heilung nicht zu bringen vermag, und - über fremder Schuld soll keine Seele zu Grunde gehn! Welche warnenden und mahnenden Gedanken ruft nun aber auch zugleich diese Wahrheit in uns auf! In welches ernste Licht tritt zunächst des Herrn Wort von den Aergernissen, jenes Wehe: „es müssen Aergernisse kommen, aber wehe dem, durch den sie kommen. wer ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt würde und er gesenkt würde, da das Meer am Tiefsten ist. Wie brennt an sich dieses Wehe auf die Seele und zumal wenn auf der andern Seite der Blick auf die Sünderliebe Jesu fällt. Ich spreche zunächst von den Aergernissen der Verführung, wenn durch unser Wort und Beispiel die Schaafe, die auf dem geraden Wege hinter dem Hirten gehn, vom rechten Wege abgeführt werden. Ich darf hoffen, daß zum größten Theil die Zeit vorüber ist, wo die Mutter, welche unter Thränen und Gebet ihr Kind zu einem Gotteskinde erzogen zu haben glauben durfte, mit Erbeben der Zeit entgegensah, wo es zur Universität entlassen wurde und wo an der Schwelle seiner neuen Laufbahn frohlockend das Laster es in Empfang nahm, um es in die Mysterien seiner eigenen Lasterwege einzuweihen. Ist auch noch nicht ganz diese Zeit vorüber, wenigstens verfällt doch nicht mehr der Jüngling unter euch der Fehme, der sich halten will nach Gottes Worte. Indeß weiden auch die nickt mehr absichtlich von der rechten Bahn abgeführt, die sich zu dem guten Hirten halten, wie Viele aber von euch, die wenigstens das Wehe treffen mag, die Irrenden auf ihrem Irrwege zu bestärken! Wie manches leichtsinnige Wort, wie mancher frivole Scherz, der aus eurem Gedächtniß längst ausgewischt und der, wenn ihr dereinst in dem Priesterrock vor dem Altar steht, in fremder Brust noch fortwuchern und euch anklagen wird; wie manche Stunde des Uebermuthes oder der Völlerei, die Gottes Gnade euch vielleicht längst vergeben haben wird, während die jüngeren Genossen, deren Seelen ihr dadurch verpestet habt, das Brandmal ihres Gewissens nicht los werden können! O werdet nicht zu Verführern an den Schwachen, ihr wißt es ja nun, wie theuer jede Seele vor Gott geachtet ist! O entschuldigt euch nicht: soll ich denn meines Bruders Hüter seyn? Ihr wißt ja, wer das Wort zuerst ausgesprochen hat - Kam, der Brudermörder. - Ihr andern aber, die ihr von diesem Aergerniß der Verführung euch frei wisset, wie werdet ihr andrerseits durch euere lieblosen und unbedachten Urtheile angeklagt über die Seelen, die Gott so theuer geachtet, daß er seinen Sohn für sie bat in den Tod gehen lassen; ja auch gegen das Aergerniß der lieblosen Urtheile, die unter euch im Schwange gehn, muß ich Zeugniß ablegen. Ist es doch so weit gekommen, daß Manche die Stärke ihres Glaubens nur durch die Härte ihres Urtheils über Andere erkennen geben zu müssen glauben. Was Manche heut zu Tage entschiedenen Glauben nennen, ist das in ihrem Sinne nicht bloß „entschieden im Urtheil über den Andern?- O stünde das Eine vor euren Augen, wie theuer jede Seele vor Gott geachtet ist und was der Heiland es sich hat kosten lassen, auch die Verirrtesten zu seiner Heerde zurückzubringen, wie würde man, auch wenn ihr verurtheilt, aus euren Verurtheilungen noch den Hauch der Liebe herausempfinden.

Stellt man es sich vor Augen, was der Herr es sich hat kosten lassen, auch die verirrtesten Schaafe noch aufzusuchen, wie muß nicht Schaamröthe unsre Wangen bedecken bei der Frage: und was lasse ich es mich kosten leiblich und geistig die Verlorenen unter meinen Brüdern aufzusuchen, die auch seine Brüder sind? Freilich ist im Großen und Ganzen genommen dieses Aufsuchen zunächst die Pflicht des geistlichen Amtes; aber wer für seine Hausgenossen nicht sorgt, heißt es nicht von dem, „daß er schlimmer ist als ein Heide?' Das spricht Paulus von dem leiblichen Sorgen, aber soll es nicht vielmehr auch von dem geistlichen gelten? O ihr zukünftigen Diener der Kirche, daran ob solcher Trieb in eurer Seele wohnt, merket recht, ob ihr schon den Beruf von oben zum geistlichen Amte empfangen habt. Haltet dereinst die wohlstudirtesten Predigten, laßt, wenn ihr's könnt, allen Glanz der Beredtsamkeit darin leuchten: so lange man durch eine Predigt die suchende Sünderliebe Jesu nicht hindurchfühlt, ist doch Alles nur eine klingende Schelle und ein tönendes Erz.

O ewiger Vater, vor dem eine Menschenseele so theuer bleibt auch noch in ihrem tiefsten Falle, hilf vor allen Dingen, daß Keiner unter diesen Jünglingen, von denen so Viele zum Amte der Seelsorge berufen sind, sich selbst und seine eigne Seele verachte oder seine Ehre in seiner Schande suche; hilf, daß wir an diesen ursprünglichen Adel der Menschenseele auch noch in dem am tiefsten Gefallenen glauben und ihn anerkennen. Erfülle auch unsere Herzen mit der suchenden Sünderliebe deines Sohnes, damit wir nachgehn dem, das verloren ist und es zu seiner Heerde bringen helfen. Amen!

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