Taylor, Hudson - Ein Brief an seine Schwester, Frau Broomhall

Taylor, Hudson - Ein Brief an seine Schwester, Frau Broomhall

Chinkiang, den 17. Okt. 1869

Meine geliebte Schwester!

Innigen Dank für Deinen langen, lieben Brief. Ich glaube, Du hast mir noch nie so geschrieben, seitdem ich in China bin. Ich weiß, es geht Dir so wie mir — Du kannst nicht, obgleich Du gern wolltest. Geist und Körper können nur bis zu einem gewissen Grade Anstrengung ertragen und vermögen nur ein bestimmtes Maß von Arbeit zu verrichten. Nun war aber meine Arbeit nie so vielseitig, nie so verantwortungsvoll, nie so schwierig wie gerade jetzt; doch das Gefühl von Druck und Anstrengung ist ganz verschwunden. Der letzte Monat ist vielleicht die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen, und ich verlange danach, Dir ein wenig zu erzählen von dem, was der Herr an meiner Seele getan hat. Ich weiß nicht, wie weit ich mich in der Sache verständlich werde machen können; denn es ist eigentlich nichts Neues oder Seltsames und Wunderbares dabei — und doch ist alles neu! Kurz gesagt:

„Ich war blind und bin nun sehend“

Vielleicht kann ich Dir die Sache klarer machen, wenn ich ein wenig zurückgreife. Sieh, während der letzten sechs bis acht Monate habe ich innerlich viel durchgemacht. Ich fühlte, daß ich für mich persönlich wie für die ganze Mission mehr Heiligkeit, mehr Leben, mehr Kraft bedürfe. Ich empfand, welche Undankbarkeit, Gefahr und Sünde darin lag, daß ich nicht ganz nahe bei Gott lebte. Ich betete, fastete, rang, faßte Entschlüsse, las das Wort Gottes fleißiger, suchte mir mehr Stille zu nehmen, um über die göttlichen Dinge nachzudenken — alles war wirkungslos. Jeden Tag, ja jede Stunde stand ich unter dem Druck der Sünde. Ich wußte, daß alles gut sein würde, wenn ich nur in Jesus bliebe; aber ich konnte nicht. Ich begann den Tag mit Gebet und war entschlossen, meine Augen nicht einen Augenblick von ihm abzuwenden. Aber der Druck der Pflichten, die bisweilen sehr schwer waren, die beständigen Unterbrechungen, die so ermüdend wirkten, veranlaßten mich oft, ihn zu vergessen. In diesem Klima werden die Nerven so leicht erregt, daß Versuchung zur Reizbarkeit, harten Gedanken und auch bisweilen zu unfreundlichen Worten viel schwieriger zu kontrollieren sind als anderswo. Jeder Tag brachte ein ganzes Register von Sünde und Zukurzkommen, von Mangel an Kraft. Wohl hatte ich allezeit das Wollen, aber das Vollbringen fand ich nicht.

Dann kam die Frage: „Gibt es wirklich keine Rettung? Muß es so bis zum Ende bleiben — beständiger Kampf und anstatt Sieg oft Niederlage?„ Auch konnte ich doch nicht mit Aufrichtigkeit verkündigen, daß Jesus allen denen, die ihn aufnehmen, Kraft gibt, Gottes Kinder zu werden (d. h. Gottes Art tragend), wenn das nicht meine Erfahrung war. Anstatt stärker zu werden, schien es, als ob ich immer schwächer würde und weniger Kraft gegen die Sünde hätte. Das war ja auch kein Wunder; denn Glauben und Hoffnung waren sehr gering. Ich verabscheute mich; ich haßte meine Sünde, und doch gewann ich keine Kraft zur Überwindung derselben. Ich war mir bewußt, daß ich ein Kind Gottes sei; sein Geist rief in meinem Herzen trotz allem: „Abba, lieber Vater!“ Aber aufzustehen und mein Kindesrecht in Anspruch zu nehmen, dazu war ich nicht imstande. Ich dachte, daß Heiligung, praktische Heiligung, allmählich erreicht würde durch fleißigen Gebrauch der Gnadenmittel. Ich fühlte, daß ich nichts auf der Welt so sehr begehrte und nichts so sehr bedurfte als dieselbe. Aber je mehr ich mich nach der Heiligung ausstreckte und mich bemühte, sie zu erlangen, desto weniger konnte ich sie fassen. Fast gab ich die Hoffnung auf, jemals in den Besitz derselben zu gelangen, und ich kam auf den Gedanken, Gott wolle uns vielleicht den Himmel noch lieblicher machen dadurch, daß er sie uns hienieden nicht erreichen läßt. Ich glaube nicht, daß ich jemals in eigener Kraft dies Ziel zu erreichen suchte; ich wußte ja, daß ich machtlos war. Ich sagte es dem Herrn und bat ihn, mir Hilfe und Kraft zu verleihen, und bisweilen war mir zumute, als ob er mich bewahren und aufrechterhalten würde. Aber wenn ich am Abend auf den Tag zurückblickte, ach, dann war nur Sünde und Zukurzkommen da, was ich vor Gott bekennen und betrauern mußte.

Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, als ob dies die tägliche Erfahrung all dieser langen, trüben Monate gewesen sei. Aber ich mußte immer wieder sehen, daß das, wonach ich strebte, mir entschwand, und dadurch geriet ich fast in Verzweiflung. Und doch war Jesus mir nie kostbarer erschienen; ich wußte, er war ein Heiland, der einen solchen Sünder retten konnte und der es auch wollte. Bisweilen kamen Zeiten, wo nicht nur Frieden, sondern auch Freude im Herrn mein Herz erfüllte. Aber sie gingen vorüber, und ich war so kraftlos wie zuvor. O wie gut war der Herr, daß er diesem Widerstreit ein Ende machte!

Die ganze Zeit hindurch war ich gewiß, daß in Christus alles war, was ich brauchte; aber ich wußte nicht, wie ich es mir aneignen sollte. Er war reich, ich aber war arm; er war stark, aber ich blieb schwach. Ich wußte, daß in der Wurzel, im Stamm genügend Kraft und Fettigkeit war. Die Frage war jedoch, wie ich dieselbe in meinen winzig kleinen Zweig bekommen sollte. Als allmählich das Licht anfing aufzudämmern, sah ich, daß der Glaube die einzige Vorbedingung sei, — die Hand, mit der ich seine Fülle ergreifen und mir zu eigen machen könnte. Aber ich hatte diesen Glauben nicht. Ich strebte danach, aber er wollte nicht kommen; ich versuchte, ihn zu üben, aber es gelang mir nicht. Je mehr ich den wunderbaren Reichtum der Gnade, die in Jesus liegt, erkannte und die Fülle in unserem kostbaren Erlöser sah, desto größer schien meine Hilflosigkeit und Schuld zu werden. Sünden, die ich beging, erschienen mir gering im Vergleich zu der Sünde des Unglaubens, der Gott nicht beim Worte nehmen konnte und wollte, sondern ihn zum Lügner machte! Der Unglaube war, das fühlte ich, die Sünde, um welcher willen die Welt verdammt wird, und doch mußte ich diesem immer wieder nachgeben. Ich betete um Glauben, aber er kam nicht. Was sollte ich tun?

Als meine Seelenangst ihren Höhepunkt erreicht hatte, gebrauchte der Herr einen Satz in einem Brief des lieben Bruders McCarthy, um mir die Schuppen von den Augen zu nehmen, und der Geist Gottes offenbarte mir die Wahrheit unseres Einsseins mit Jesus, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. McCarthy, der durch dieselben inneren Nöte wie ich gegangen war, aber dem das Licht vor mir aufging, schrieb (ich führe aus dem Gedächtnis an): „Aber wie soll unser Glaube gestärkt werden? Nicht dadurch, daß wir um Glauben ringen, sondern dadurch, daß wir ruhen in dem, der treu ist.„

Als ich das las, da wurden meine Augen geöffnet! „Wenn wir nicht glauben, so bleibt er treu“ Ich schaute Jesus an und erkannte — und was für Freude strömte da in meine Seele — ich erkannte, daß er gesagt hatte: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.„ „O das gibt Ruhe!“ dachte ich. „Ich habe mich umsonst bemüht, die Ruhe in ihm zu finden. Ich will mich nicht mehr anstrengen. Er hat ja verheißen, daß er mich nie verlassen, mich nie versäumen will.„ Und Geliebte, er wird es nie tun!

Aber dies war nicht alles, was er mir zeigte, nicht einmal die Hälfte. Als ich an den Weinstock und die Reben dachte, da strömte der werte Heilige Geist kostbares Licht in meine Seele. Wie groß erschien mir der Fehler, den ich begangen hatte, indem ich wünschte, daß ich den Saft, die Fülle aus ihm heraus durch meine Anstrengungen bekommen möchte. Ich erkannte nicht nur, daß Jesus mich nie verlassen würde, sondern auch, daß ich ein Glied an seinem Leibe bin, von seinem Fleisch und seinem Gebein. Ich sah auch, daß der Weinstock nicht nur die Wurzel ist, sondern alles: Wurzel, Stamm, Reben, Ranken, Blätter, Blüten, Früchte. Und Jesus ist nicht nur das, er ist auch Erdboden und Sonnenschein, Luft und Regen und zehntausendmal mehr als alles, was wir geträumt, gewünscht und verlangt haben. O die Freude, diese Wahrheit zu verstehen! Ich bete, daß die Augen Deines Verständnisses erleuchtet werden möchten, damit Du die Reichtümer, die uns frei und umsonst in Christus geschenkt sind, erkennen und in den Genuß derselben eintreten kannst. O meine teure Schwester, es ist etwas Wunderbares, wirklich eins zu sein mit einem auferstandenen und erhöhten Christus, ein Glied an seinem Leibe zu sein! Denke, was das bedeutet! Kann Christus reich sein und ich arm? Kann Deine rechte Hand reich sein und die linke arm? Oder kann Dein Kopf wohlgenährt sein, während Dein Leib verhungert? Bedenke auch, was diese Wahrheit für das Gebetsleben ausmacht! Könnte ein Bankbeamter zu einem Kunden sagen: „Nur Ihre Hand hat den Scheck geschrieben, nicht Sie selbst“, oder: „Ich kann diese Summe nicht Ihrer Hand, sondern nur Ihnen selbst auszahlen„? Ebensowenig können Deine wie meine Gebete abgewiesen werden, wenn sie im Namen Jesu dargebracht werden von solchen, die Glieder seines Leibes sind.

Wenn wir um etwas bitten würden, das nicht im Einklang ist mit dem Willen Gottes, dann natürlich läge die Sache anders. Aber „wenn wir etwas bitten nach seinem Willen, so hört er uns, und wir wissen, daß wir die Bitten haben, die wir von ihm erwarten“. Das Lieblichste — wenn man auf diesem Gebiet davon sprechen darf, daß eine Sache lieblicher sei als die andere — ist die Ruhe, welche das volle Sicheinswissen mit Jesus bringt. Wenn ich dies erfaßt habe, so bin ich nicht länger ängstlich über irgend etwas; denn ich weiß, er kann seinen Willen ausführen, und sein Wille ist auch mein Wille. Es macht mir nichts aus, wohin er mich stellt und wie er es tut. Es ist seine Sache, das zu überlegen, nicht die meinige; denn in den leichtesten Stellungen muß er mir seine Gnade geben, und auch in den schwierigsten genügt seine Gnade für mich. Es macht für einen Diener wenig aus, ob ich ihm den Auftrag gebe, einige Kleinigkeiten für mich zu kaufen oder die kostbarsten Sachen. In jedem Falle erwartet er das Geld von mir und bringt mir seine Einkäufe. Wenn Gott mich in große Schwierigkeiten stellt, so darf ich von ihm die Leitung erwarten; er wird mir in schwierigen Lagen viel Gnade geben, und in drückenden und versuchungsvollen Umständen wird er viel Kraft darreichen. Wir brauchen uns nicht zu fürchten, daß seine Hilfsquellen für unsere Bedürfnisse nicht genügen könnten. Und seine Hilfsquellen gehören mir; denn er ist mein und ist bei mir und wohnt in mir. Alles dies kommt von dem Einssein des Gläubigen mit Christus. Und seitdem Christus durch den Glauben in meinem Herzen wohnt, bin ich so unaussprechlich glücklich. Ich wünschte, ich hätte Dir alles erzählen können, anstatt Dir davon zu schreiben …

Dein Dich innig liebender Bruder

J. Hudson Taylor

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