Spurgeon, Charles Haddon - Die Schafe vor den Scherern

Spurgeon, Charles Haddon - Die Schafe vor den Scherern

„Wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut.“
Jesaja 53, 7

„Wie ein Schaf vor seinen Scherern stumm ist, so tat er seinen Mund nicht auf.“
(Engl. Übers.)

Unser Herr Jesus nahm unsere Stelle so ein, dass wir in diesem Kapitel mit Schafen verglichen werden: „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe“, und er auch mit einem Schaf verglichen wird: „Wie ein Schaf vor seinen Scherern stumm ist.“ Es ist wunderbar, wie vollständig der Tausch der Stellungen zwischen Christo und seinem Volk war, so dass er ward, was sie waren, damit sie werden möchten, was er ist. Wir können wohl verstehen, dass wir die Schafe und er der Hirt ist, aber den Sohn des Höchsten mit einem Schaf zu vergleichen, würde unverzeihliche Vermessenheit gewesen sein, wenn nicht sein eigener Geist das herablassende Bild gebraucht hätte. Obgleich dies Sinnbild ein sehr huldreiches ist, so ist doch der Gebrauch desselben an dieser Stelle keineswegs sonderbar, denn unser Herr war lange vor Jesajas Tagen als das Lamm des Passahs vorgebildet. Seitdem ist er verkündet als „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“, und sogar in seiner Herrlichkeit ist er „das Lamm in der Mitte des Thrones“.

Bei der Auslegung dieses göttlichen Sinnbildes möchte ich euch auffordern, zu betrachten zuerst unseres Heilandes Geduld, dargestellt unter dem Bilde eines Schafes, das stumm vor seinem Scherer ist.

Unser Herr ward zu seinen Scherern gebracht, damit sie ihm seinen Trost nähmen, seine Ehre, seinen guten Namen sogar und zuletzt das Leben, aber vor diesen Scherern war er still wie ein Schaf. Wie geduldig war er vor Pilatus und Herodes und Kaiphas und am Kreuz! Ihr habt keinen Bericht davon, dass er einen ungeduldigen Ausruf geäußert hat über den Schmerz und die Schande, die er von der Hand dieser gottlosen Leute erlitt. Ihr hört kein bitteres Wort. Pilatus ruft: „Antwortest du nichts? Sieh, wie hart sie dich verklagen“, und Herodes ist sehr enttäuscht, denn er hoffte ein Wunder von ihm zu sehen. Alles, was unser Herr spricht ist in ergebenem Ton wie das Blöken eines Schafes, obgleich unendlich voller von Bedeutung. Er spricht Worte wie diese: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll“ und: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Im übrigen ist er ganz geduldig und stillschweigend.

Gedenkt zuerst daran, dass unser Herr stumm war und seinen Mund nicht auftat wider seine Gegner und nicht einen von ihnen der Grausamkeit und Ungerechtigkeit anklagte. Sie verleumdeten ihn, aber er antwortete nicht; falsche Zeugen standen auf, aber er erwiderte ihnen nichts. Man hätte denken sollen, er müsste gesprochen haben, als sie ihm ins Angesicht spien. Hätte er nicht sagen können: „Freund, warum tust du dies? Welches von allen meinen Werken ist es, um deswillen du mich beschimpfst?“ Aber die Zeit für solche Auseinandersetzungen war vorüber. Als sie ihn mit Fäusten ins Gesicht schlugen, wäre es nicht zum Verwundern gewesen, wenn er gesagt hätte: „Warum schlagt ihr mich so?“ Aber nein, es ist als wenn er ihre Schmähungen nicht hörte. Er bringt keine Anklage vor seinen Vater. Er brauchte nur seine Augen zum Himmel zu heben, und Legionen Engel würden die rohen Kriegsknechte hinweg gejagt haben; ein Strahl von dem Flügel eines Seraphs, und Herodes würde von Würmern gefressen sein, und Pilatus wäre den Tod gestorben, den er als ein ungerechter Richter wohl verdiente. Der Hügel des Kreuzes hätte der Schlund eines Vulkans werden können, um die ganze Menge zu verschlingen, die dort höhnend und spottend um ihn stand, aber nein, es war keine Machtentfaltung da, oder vielmehr, es war eine solche Entfaltung der Macht über sich selber da, dass er die Allmacht selbst mit einer Stärke zurückhielt, die nie gemessen werden kann. Wiederum, wie er kein Wort wider seine Gegner äußerte, so sagt er auch kein Wort gegen irgend einen von uns. Ihr erinnert euch, wie Zippora zu Mose sprach: „Du bist mir ein Blutbräutigam“, als sie ihr Kind bluten sah; und gewiss hätte Jesu dies zu seiner Kirche sagen können: „Du bist eine Braut, die mich viel gekostet und all diese Schmach und dies Blutvergießen über mich gebracht hat.“ Aber er gibt reichlich, er öffnet die Quelle seines Herzens, und er drückts niemand auf. Er hatte die äußersten Kosten berechnet, und deshalb erduldete er das Kreuz und achtete der Schmach nicht.

„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld
der Welt und ihrer Kinder.
Es geht und büßet in Geduld
die Sünden aller Sünder.
Es geht dahin, wird matt und krank,
ergibt sich auf die Würgebank,
entzieht sich aller Freuden.
Es nimmt auf sich Schmach, Hohn und Spott,
Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod
und spricht: Ich wills gern leiden.“

Ohne Zweifel blickte er in die Zeiten hinein; denn dies sein Auge war nicht trübe, selbst als es am Kreuz mit Blut gerötet war; er muss eure und meine Gleichgültigkeit vorausgesehen haben, unsere Kaltherzigkeit und niedrige Untreue, und er hätte uns Worte hinterlassen können wie etwa diese: „Ich leide für die, welche meiner Beachtung ganz unwürdig sind; ihre Liebe wird eine elende Erwiderung der meinigen sein. Ob ich gleich mein ganzes Herz für sie gebe, so ist doch ihre Liebe zu mir lauwarm. Ich bin ihrer überdrüssig. Ich bin ihrer müde, und mir ist wehe, dass ich mein Herzblut hingebe für ein so wertloses Geschlecht, wie dies Volk es ist.“ Aber es ist keine Andeutung eines solchen Gefühles da. Nein. „Wie er hatte geliebt die Seinen, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende“, und er äußerte keine Silbe, die wie Murren über ein Leiden um ihretwillen oder wie Bedauern, dass er das Werk angefangen, klang.

Und dann, wie kein Wort wider seine Gegner da war, keins gegen euch und mich, so war auch kein Wort da gegen seinen Vater und keine Silbe des Missvergnügens über die Strenge der Strafe, die um unsertwillen auf ihn gelegt war. Ihr und ich haben gemurrt, wenn wir unter einem vergleichungsweise leichten Kummer litten, und glaubten uns dann hart behandelt. Wir haben gewagt, gegen Gott auszurufen: „Mein Antlitz ist geschwollen vom Weinen, und meine Augenlider sind verdunkelt; wiewohl kein Frevel in meiner Hand ist, und mein Gebet ist rein.“ Aber nicht so der Heiland; in seinem Munde war keine Klage. Es ist ganz unmöglich für uns, zu verstehen, wie der Vater ihn beugte und schlug, doch war kein Murren da. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ist ein Ausruf des erstaunten Schmerzes, aber es ist nicht die Stimme der Klage. Er zeigt die Menschheit in Schwachheit, aber nicht die Menschheit in Empörung. Viel sind der Klagen Jeremias, aber wenig sind der Klagen Jesu. Jesus weinte, und Jesus schwitzte große Blutstropfen, aber er murrte nie und fühlte nie Empörung in seinem Herzen.

Seht euren Herrn und Heiland, wie er in leidender Ergebung vor den Scherern liegt, als sie alles hinwegnehmen, was ihm lieb ist, und doch den Mund nicht auftut. Ich sehe hierin unseres Herrn vollständige Unterwerfung. Er gibt sich selbst auf; er behält sich nichts vor. Das Opfer brauchte nicht mit Stricken an die Hörner des Altars gebunden zu werden. Wie verschieden von euch und mir! Er stand da, willig, zu leiden, verspeit, schändlich behandelt zu werden und zu sterben, denn in ihm war eine vollständige Überlassung. Er gab sich ganz dem hin, des Vaters Willen zu tun und unsere Erlösung zu vollenden. Es war auch eine völlige Selbstüberwindung. In ihm erhob sich keine seiner Kräfte, um Freiheit zu verlangen und Entbindung von der allgemeinen Anspannung; kein Glied des Leibes, kein Teil des Geistes, keine Fähigkeit der Seele wich zurück, sondern alle unterwarfen sich dem göttlichen Willen: der ganze Christus gab sein ganzes Wesen an Gott auf, damit er sich vollkommen, ohne Flecken für unsere Erlösung darbieten könnte.

Es war nicht nur Selbstüberwindung, sondern vollständiges Aufgehen in sein Werk. Das Schaf, wenn es daliegt, denkt nicht mehr an die Weiden, es gibt sich dem Scherer hin. Der Eifer um des Herrn Haus fraß unseren Herrn in der Halle des Pilatus ebenso wohl als an anderen Orten, denn er legte hier ein gutes Bekenntnis ab. Keinen anderen Gedanken hatte er als den an die Rechtfertigung der Ehre Gottes und die Errettung der Erwählten Gottes. Brüder, ich möchte, wir könnten dahin gelangen, unsere ganze Seele Gott zu unterwerfen, Selbstüberwindung zu lernen und das gänzliche Hingeben des überwundenen Selbst an Gott. Die wunderbare Gelassenheit und Unterwerfung unseres Herrn werden noch besser durch unseren Text dargestellt, wenn es in der Tat wahr ist, dass die Schafe im Orient noch folgsamer sind als bei uns. Diejenigen, welche den Lärm und die Rauheit gesehen, die häufig bei unserem Waschen und Scheren stattfindet, werden kaum dem Zeugnis jenes alten Schriftstellers Philo-Judäus glauben, wenn er behauptet, dass die Schafe freiwillig kamen, um sich scheren zu lassen. Er sagt: „Willige Widder, mit dicken Vliesen beladen, gaben sich in die Hände des Hirten, um ihre Wolle scheren zu lassen, da sie gewohnt waren, so ihren jährlichen Tribut an den Menschen, ihren König, zu zahlen. Das Schaf steht in ruhiger, gebeugter Stellung, ohne Zwang unter der Hand des Scherers. Dies mag denen sonderbar erscheinen, welche nicht die Folgsamkeit der Schafe kennen, aber es ist wahr.“ Staunenswert war in der Tat diese Unterwerfung bei unserem Herrn; lasst uns bewundern und nachahmen.

So habe ich euch in schwachen Umrissen die Geduld unseres teuren Meisters dargestellt. Nun möchte ich, dass ihr mir folgtet, zweitens, um uns selbst unter dem gleichen Bilde zu betrachten wie das, welches von unserem Herrn gebraucht wird.

Begann ich nicht damit, dass ich sagte, weil wir Schafe seien, ließe er sich herab, sich selbst mit einem Schaf zu vergleichen? Lasst uns es von einem anderen Gesichtspunkt aus ansehen: unser Herr war ein Schaf vor den Scherern, und wie er, so sind auch wir in dieser Welt. Obgleich wir niemals wie Lämmer als Sühnopfer im Tempel dargebracht werden, so waren dennoch die Heiligen aller Zeitalter die Schlachtherde, wie geschrieben steht: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, wir sind geachtet wie Schlachtschafe!“ Jesus sendet uns aus wie Schafe unter die Wölfe, und wir sollen uns als lebendige Opfer betrachten, bereit, dargebracht zu werden. Ich verweile indes ausführlicher bei dem zweiten Sinnbild: wir werden wie Schafe unter des Scherers Hand gebracht. Gerade wie das Schaf vom Scherer genommen und all seine Wolle abgeschnitten wird, so nimmt der Herr die Seinen und schert sie, indem er all ihre irdischen Annehmlichkeiten hinwegnimmt und sie entblößt lässt. Ich wünsche, dass es, wenn an uns die Reihe käme, uns dieser Operation des Scherens zu unterwerfen, von uns heißen könnte wie von unserem Herrn: „Wie ein Schaf vor seinen Scherern stumm ist, so tat er seinen Mund nicht auf.“ Ich fürchte, wir tun unseren Mund sehr weit auf und klagen unaufhörlich ohne anscheinende Ursache oder aus dem geringsten Grunde. Aber nun zu dem Bilde.

Zuerst erinnert euch daran, dass ein Schaf seinen Eigentümer für alle seine Sorge und Mühe belohnt, indem es geschoren wird. Ich weiß nichts anderes, was ein Schaf tun könnte. Es liefert Speise, wenn es getötet wird, aber solange es lebt, ist die einzige Zahlung, die das Schaf dem Hirten gewähren kann, die, ihm zur rechten Zeit sein Vlies zu geben. Manche Kinder Gottes können Christo einen Tribut ihrer Dankbarkeit durch tätigen Dienst darbringen, und freudig sollten sie dies jeden Tag ihres Lebens tun; aber viele andere vermögen nicht viel in tätigem Dienst zu tun, und fast die einzige Vergeltung, die sie ihrem Herrn bringen können, ist es, wenn sie ihr Vlies aufgeben, indem sie leiden, wenn er sie zum Leiden beruft, und sich ergeben dem Verlust ihrer persönlichen Annehmlichkeiten unterwerfen, wenn die Zeit für geduldiges Ertragen da ist. Hier kommt der Scherer; er nimmt das Schaf und beginnt zu schneiden, schneiden, schneiden und nimmt die Wolle massenweise hinweg. Trübsal wird oft als die große Schere gebraucht. Der Gatte oder vielleicht die Gattin wird hinweggenommen; kleine Kinder sterben, das Vermögen wird abgeschoren, und die Gesundheit schwindet. Zuweilen schneidet die Schere den guten Namen eines Mannes ab; Verleumdung folgt; die Behaglichkeit des Lebens ist dahin. Wohl, dies ist die Zeit des Scherens, und es mag sein, dass ihr nicht imstande seid, Gott zu verherrlichen in irgend einer ausgedehnteren Weise, wenn ihr euch nicht diesem Verfahren unterzieht. Wenn dies so ist, meint ihr nicht, dass wir gleich guten Schafen Christi uns freudig hingeben sollten und sprechen: „Ich lege mich nieder mit dieser Absicht, dass du alles und jedes von mir nehmen sollst und mit mir tun, was du willst, denn ich bin nicht mein eigen, ich bin teuer erkauft“

Beachtet, dass dem Schafe selbst das Scheren gut ist. Ehe man das Scheren beginnt, ist die Wolle lang und alt, und jeder Busch und Dorn reißt ein bisschen davon ab. Wenn die Wolle ihm gelassen würde, so wäre das Schaf in der Hitze des Sommers nicht imstande, sich selber zu tragen, es würde, wie wir es tun, wenn wir unsere geborgte Wolle, unsere Winterkleider und unser dickes Tuch zulange tragen. So, Brüder, wenn der Herr uns schert, gefällt uns diese Operation nicht mehr, als sie den Schafen gefällt; aber zuerst, es ist zu seiner Ehre, und zweitens, es ist für unser Wohl, und deshalb sind wir verbunden, uns willig zu unterwerfen. Es gibt viele Dinge, die wir gerne behalten hätten, die aber doch, wenn wir es getan, uns nicht zum Segen, sondern zum Fluch geworden wären. Ein altgewordener Segen ist ein Fluch. Das Manna, ob es gleich vom Himmel kam, war nur so lange gut, als Gottes Gebot es zu einem Segen machte, aber wenn sie es über die gehörige Zeit hinaus behielten, wuchsen Würmer darin, und es stank, und dann war es kein Segen. Viele Leute würden ihre Güter behalten, bis sie ganz verdorben wären, aber Gott will das nicht haben. Bis zu einem gewissen Punkt hin war es ein Segen für dich, reich zu sein; es wäre nicht länger ein solcher gewesen, und deshalb nahm der Herr deine Reichtümer hinweg. Bis zu jenem Punkt hin war dein Kind ein Gut, es wäre dies nicht länger gewesen, deshalb wurde es krank und starb. Du magst nicht fähig sein, es zu sehen, aber es ist so, dass Gott, wenn er den Seinen einen Segen entzieht, ihn hinwegnimmt, weil er nicht länger ein Segen sein würde. Ehe die Schafe geschoren werden, werden sie immer gewaschen. Wart ihr je dabei, wenn sie hinunter an den Bach getrieben werden? Die Männer stellen sich in Reihen, die zu dem Hirten führen, der im Wasser steht. Die Schafe werden hinuntergetrieben, und die Männer ergreifen sie, werfen sie ins Wasser, das Gesicht übers Wasser haltend, und drehen sie rund und rund und rund, um die Wolle zu waschen, ehe sie dieselbe abschneiden. Ihr seht sie an der anderen Seite herauskommen, halb zu Tode geängstigt, die armen Dinger, und sich fürchtend vor dem, was nun kommen wird. Ich möchte euch raten, Brüder, dass ihr, wenn immer ein Leiden über euch zu kommen droht, den Herrn bittet, es euch zu heiligen. Wenn der gute Hirte eure Wolle abschneiden will, bittet ihn, sie zu waschen, ehe er sie abnimmt. Es ist eine sehr gute Gewohnheit der Christen, um Segen für ihre Mahlzeit zu bitten, ehe sie Brot essen. Meint ihr nicht, dass es sogar noch notwendiger wäre, um einen Segen für eure Leiden zu bitten, ehe ihr in dieselben hineingeht? Hier ist euer liebes Kind dem Sterben nahe; wollt ihr nicht, liebe Eltern, euch vereinen und Gott bitten, den Tod dieses Kindes euch zu segnen, wenn er stattfinden soll? Die Ernte missrät; würde es nicht gut sein, zu sagen: „Herr, heilige diese Armut, diesen Verlust, dieses Jahres schlechte Ernte, lass sie ein Gnadenmittel für uns sein?“ Warum nicht um einen Segen bitten für den Kelch der Bitterkeit sowohl wie für den Kelch der Danksagung?

Bittet darum, gewaschen zu werden, ehe ihr geschoren werdet, und wenn das Scheren kommen muss, so lasst es eure Hauptsorge sein, reine Wolle zu geben. Nach dem Waschen, wenn das Schaf getrocknet ist, so verliert es das, was ihm Behaglichkeit gewährte. Das Schaf wird niedergeworfen, und die Scherer gehen ans Werk; das arme Geschöpf verliert sein behagliches Vlies. Auch ihr werdet euch von dem zu trennen haben, was euch behaglich war. Wollt ihr hieran gedenken? Das nächste Mal, wenn ihr ein neues Gut erhaltet, nennt es ein geliehenes. Armes Schaf, es ist keine Wolle auf deinem Rücken, die nicht herunterkommen wird; Kind Gottes, es ist kein irdisches Gut in deinem Besitz, das dich nicht verlassen wird oder das du nicht verlassen musst. Nichts ist unser eigen als unser Gott. „Wie“, sagt jemand, „nicht unsere Sünde?“ Die Sünde war unser eigen, aber Jesus hat sie auf sich genommen, und sie ist fort. Es ist nichts unser eigen als unser Gott, denn alle seine Gaben sind uns nur geliehen und können zurückgefordert werden, sobald sein unumschränkter Wille es gebietet. Wir halten törichterweise dafür, dass unsere Güter uns gehören, und wenn der Herr sie hinwegnimmt, murren wir halbwegs.

„Geliehen Gut, sagt man, muss lachend wiederkommen, und so sollten auch wir uns freuen, wenn der Herr das zurücknimmt, was er uns geliehen hatte. Alle unsere Besitztümer sind nur kurze Gunsterzeigungen, auf eine Stunde geborgt. Wie das Schaf seine Wolle aufgibt und so seine Behaglichkeit verliert, so müssen wir all unser irdisches Eigentum aufgeben; oder wenn es uns bleibt, bis wir sterben, so werden wir dann davon scheiden, wir werden nicht das geringste mit uns über den Strom des Todes nehmen.

Die Scherer tragen Sorge, das Schaf nicht zu verletzten; sie schneiden ab, soviel sie können, aber sie schneiden nicht in die Haut. Wenn möglich, werden sie kein Blut fließen lassen, auch nicht das mindeste. Wenn sie eine Wunde machen, so ist es, weil das Schaf nicht stilliegt; aber ein sorgfältiger Scherer hat eine unblutige Schere. Es ist das Sträuben und Stoßen, was das Scheren schwer macht, aber wenn wir stumm vor den Scherern liegen, kann uns kein Schaden geschehen. Der Herr mag sehr kurz schneiden; ich habe ihn einige so kurz schneiden sehen, dass sie nicht ein bisschen Wolle behalten zu haben schienen, denn es war ihnen alles abgestreift wie bei Hiob, als er rief: „Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren.“ Doch haben sie wie Hiob hinzugefügt: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“

Beachtet, dass die Scherer immer zu einer passenden Zeit scheren. Es würde sehr schlecht, grausam und unweise sein, das Scheren zur Winterszeit zu beginnen. Es gibt ein Sprichwort, das davon redet, dass „Gott den Wind mildert für das geschorene Lamm“. Es mag so sein, aber es ist etwas sehr Grausames, Lämmer zu scheren, solange der Wind der Milderung bedarf. Die Schafe werden geschoren, wenn es warmes, freundliches Wetter ist und sie es vertragen können, ihr Vlies zu verlieren, und besser daran sind, wenn sie davon befreit werden. Wenn der Sommer kommt, so kommt die Zeit fürs Schafscheren. Habt ihr je bemerkt, dass der Herr, wenn er uns Trübsal sendet, immer die bestmöglichste Zeit wählt? Es ist ein Gebet, das er den Jüngern in den Mund legt: „Bittet aber, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter“. Der Geist dieses Gebetes mag in der Angemessenheit der Zeit unserer Leiden gesehen werden. Er will uns nicht unsere schlimmsten Trübsale zu unseren schlimmsten Zeiten senden. Wenn eure Seele niedergedrückt ist, so sendet euch der Herr nicht eine sehr schwere Bürde. Er behält solche Last auf für Zeiten, wenn ihr Freude in dem Herrn habt, die eure Stärke ist. Es ist bei uns eine Art Gefühl geworden, dass ein Leiden nahe ist, wenn wir viel Freude haben, aber dass die Erlösung sich naht, wenn die Trübsale dichter werden. Der Herr schickt uns nicht zwei Bürden zur selben Zeit; oder wenn er es tut, sendet er uns doppelte Kraft. Seine Zeit des Scherens wird mit zarter Umsicht gewählt.

Es ist noch an etwas anderes zu denken. Es ist mit uns wie mit den Schafen, es kommt neue Wolle. Wenn immer der Herr unsere irdischen Güter mit der einen Hand hinwegnimmt, eins, zwei, drei, so gibt er mit der anderen Hand wieder, sechs, zwanzig, hundert; wir schreien und weinen über den kleinen Verlust, und doch ist er notwendig, damit wir fähig sein mögen, den großen Gewinn zu empfangen. Ja, es wird so sein, wir werden noch Ursache haben, uns zu freuen, „des Morgens kommt die Freude“. Wenn wir eine Anstellung verloren haben, so ist eine andere für uns da; wenn wir aus einem Ort vertrieben sind, so ist eine bessere Zuflucht bereitet. Die Vorsehung öffnet eine zweite Tür, wenn sie die erste schließt. Wenn der Herr das Manna wegnimmt, wie er es bei seinem Volk Israel tat, so ist es, weil sie das Getreide des Landes Kanaan haben und davon leben können. Wenn das Wasser des Felsens den Stämmen nicht länger folgte, so war es, weil sie nun aus dem Jordan und den Bächen tranken. O, ihr Schafe von der Herde des Herrn, es kommt neue Wolle; deshalb ängstigt euch nicht beim Scheren. Ich habe diese Gedanken in der Kürze gegeben, damit wir zum letzten Wort kommen. Lasst uns drittens versuchen, das Beispiel unseres Herrn nachzuahmen, wenn an uns die Reihe kommt, geschoren zu werden. Lasst uns stumm vor den Scherern sein, unterwürfig, ergeben, wie er es war.

Ich habe bei allem, was ich gesagt, einen Grund angegeben. Ich habe gezeigt, dass unser Geschorenwerden durch die Trübsale Gott verherrlicht, den Hirten belohnt und uns selber Nutzen bringt. Ich habe gezeigt, dass der Herr unsere Trübsale misst und mäßigt und das Leiden zur rechten Zeit sendet. Ich habe euch auf vielerlei Art gezeigt, dass es weise ist, uns zu unterwerfen wie das Schaf dem Scherer, und dass, je vollständiger wir dies tun, desto besser es ist. Wir sträuben uns viel zu sehr und sind geneigt, dies zu entschuldigen. Zuweilen sagen wir: „O, dies tut so weh, ich kann nicht geduldig sein! Ich könnte alles andere ertragen haben, nur dies nicht.“ Wenn ein Vater sein Kind züchtigen will, wählt er etwas Angenehmes aus? Nein, das Schmerzliche der Strafe ist das Wesentliche derselben, und ebenso ist die Bitterkeit unseres Leidens die Seele der Züchtigung.

Durch die Blässe der Wunde wird das Herz besser gemacht werden. Murrt nicht, weil eure Prüfung seltsam und scharf scheint. Das hieße im Grunde sagen: „Wenn ich alles nach eigenem Wunsch habe, so will ich, aber wenn nicht alles mir gefällt, so will ich mich auflehnen“; und das ist nicht der rechte Sinn für ein Gotteskind.

Zuweilen klagen wir über unsere große Schwachheit: „Herr wäre ich kräftiger, so könnte ich diesen schweren Verlust wohl tragen, aber ich bin schwach.“ Aber wer soll Richter über die Angemessenheit eures Leidens sein? Ihr oder Gott? Da der Herr dies Leiden eurer Schwachheit für angemessen hält, so mögt ihr gewiss sein, dass es so ist. Liegt still! Liegt still! „Ach“, sagst du, „mein Kummer kommt von der grausamsten Seite; dies Leiden kam nicht direkt von Gott, es kam von meinem Vetter oder Bruder, der mir Dankbarkeit hätte erzeigen sollen. Es war kein Feind, dann hätte ich es ertragen können.“ Mein Bruder, lass mich dich versichern, dass in Wirklichkeit das Leiden überhaupt nicht von einem Feind kommt. Gott ist der Urheber all deiner Trübsal; blicke durch alle zweiten Ursachen hindurch auf die große erste Ursache. Es ist ein großer Irrtum, wenn wir über das menschliche Werkzeug murren, das uns schlägt, und die Hand vergessen, welche die Rute gebraucht. Wenn ich einen Hund schlage, so beißt er den Stock; armes Geschöpf, er weiß es nicht besser, aber wenn er ein wenig denken könnte, würde er mich beißen oder sonst den Schlag unterwürfig hinnehmen. Nun, du musst nicht anfangen, den Stock zu beißen. Im Grunde ist es doch dein himmlischer Vater, der den Stab gebraucht; ob er von Ebenholz oder Schwarzdorn ist, er ist in seiner Hand. Es ist gut, wenn wir mit dem Auspicken und Auswählen unserer Leiden aufhören und die ganze Sache in der Hand der unbegrenzten Weisheit lassen.

Wie gut ist’s, wenn der Eigenwill
gebrochen und gelassen still
in Gottes Händen lieget!
Wie gut ist’s, wenn der stolze Sinn
vor Gottes Gegenwart sinkt hin
und sich in Demut beuget.

Dies ist der Kern meiner Predigt; o Gläubiger, gib dich hin! Liege still in Gottes Hand! Gib dich hin und sträube dich nicht! Das Sträuben nützt nichts, denn wenn unser großer Scherer zu scheren beabsichtigt, so wird er es tun. Sagte ich nicht eben, dass das Schaf durch sein Sträuben von der Schere geschnitten werden könnte? So werdet ihr und ich, wenn wir uns gegen Gott sträuben, zwei Streiche statt eines erhalten; und im Grunde ist nicht halb soviel Leiden in dem Leiden als in dem Sichauflehnen wider das Leiden. Der orientalische Pflüger hat einen Stachel und piekt den Ochsen, damit er sich schneller bewege; er verletzt ihn nicht sehr durch sein leises Anstacheln, aber gesetzt, der Ochse schlüge mit dem Beine aus im Augenblick, wo der Stachel ihn berührte, so würde er diesen ins Fleisch hineintreiben und bluten. So ist es mit uns; wir werden es schwer finden, wider den Stachel zu löcken; wir werden viel mehr Schmerz leiden durch unsere Empörung, als wenn wir uns dem göttlichen Willen ergeben hätten. Was für Gutes kommt aus dem Sträuben? Wir können nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Ihr, die ihr unruhig seid, ruht mit uns, denn ihr könnt weder Regen noch Sonnenschein, weder schön noch schlecht machen mit all eurem Seufzen. Brachtet ihr je einen Pfennig in das Schubfach durch Unruhe oder schafftet ihr ein Brot auf den Tisch durch Klagen? Murren ist Vergeudung des Atems, und Unruhe ist Verschwendung der Zeit. Still in Gottes Hand zu liegen, bringt der Seele Segen. Ich möchte selber gerne ruhiger, gelassener, gefasster sein. Ich sehne mich danach, beständig auszurufen: Herr, tue, was du willst, wann du willst, wie du willst, mit mir, deinem Knecht; bestimme mir Ehre oder Unehre, Reichtum oder Armut, Krankheit oder Gesundheit, Freudigkeit oder Niedergeschlagenheit, und ich will alles fröhlich aus deiner Hand nehmen. Der Mensch ist nicht fern von den Pforten des Himmels, wenn er völlig dem Willen Gottes unterworfen ist.

Ihr, die ihr geschoren worden seid, habt, wie ich hoffe, Trost erlangt durch den Geist Gottes. Möge Gott euch segnen! O, dass auch der Sünder sich demütigen wollte unter die gewaltige Hand Gottes! Unterwerft euch Gott, nehmt alle Vernunft gefangen unter ihn, und der Herr sende seinen Segen um Christi willen!

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