Spurgeon, Charles Haddon - Der Christus von Patmos

Spurgeon, Charles Haddon - Der Christus von Patmos

Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich wandte, sah ich sieben goldene Leuchter; und mitten unter den sieben Leuchtern einen, der war eines Menschen Sohn gleich, angetan mit einem Talar und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme; und seine Füße gleich wie gülden Erz, das im Ofen glüht; und seine Stimme wie das Rauschen vieler Wasser; und hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharf zweischneidig Schwert; und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne in ihrer Kraft. Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot.
Off. 1,12-15

Der Herr Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und auch in Ewigkeit (Heb. 13,8). Er hat weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens und ist ein Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks (Heb. 7,3.21). Aber die Vorstellung, die die Seinen sich von ihm machen, ist außerordentlich verschieden. Je nach unserem Fortschritt im Stande der Gnade ist der Standpunkt, von dem aus wir ihn betrachten, unterschiedlich; und je nach dem Standpunkt, aus dem wir den Blick auf ihn richten, ist auch das, was wir von ihm sehen, wieder anders. Christus ist unveränderlich derselbe, aber die Gläubigen schauen ihn nicht alle in derselben Klarheit, noch nahen sie ihm alle in gleich inniger Gemeinschaft. Einige haben nur Erkenntnis seines Erlösungswerkes; andere bewundern nur seine Persönlichkeit; gar wenige stehen in einer persönlichen Beziehung zu ihm; aber dennoch gibt es noch einige, die noch viel tiefer eingedrungen sind und es fühlen, wie die ganze wahre Kirche eins ist mit dem Herrn Jesus Christus als ihrem Haupt. Im alten Bund war die zur Erkenntnis zu bringende Wahrheit die eine, aber die Fassungskraft der Lernenden war eine andere, und danach war auch die Art, wie die Wahrheit nahegelegt wurde, eine andere. Unter der alttestamentlichen Ordnung war der Arme das Vorbild eines unwissenden Christen, der Reiche dagegen stellte den wohlunterrichteten Gläubigen dar. Nun brachte der Arme eine Turteltaube oder ein paar junge Tauben (3. Mo. 1,14-17). Diesen wurde der Hals umgedreht und sie wurden geopfert. Dadurch wurde dem Armen einfach gezeigt, dass seine Sünde nur mit Blut und Tod gesühnt werden konnte. Der reichere Israelit, der es vermochte, brachte einen Farren (3. Mo. 1,3-9). Dieser Farren wurde nicht bloß getötet, sondern er musste auch in Stücke zerlegt werden; die Schenkel, das Fett, die Eingeweide wurden im Wasser gewaschen und zusammen in bestimmter Ordnung auf den Altar gelegt, um ihm zu zeigen, wie ja auch jetzt Christus den verständigen und aufmerksamen Gläubigen belehrt, dass schon im bloßen Blutvergießen eine Ordnung, eine Fülle der Weisheit enthalten ist, die nur geförderte Gläubige fassen können. Der Wüstenbock (3. Mo. 16,8) lehrte eine Wahrheit, das Passah-Lamm eine andere; die Schaubrote stellten eine Lehre dar, die Lampen der Leuchter eine andere. Alle Vorbilder sollten auf das eine große Geheimnis von Christus, geoffenbart im Fleisch und erschienen den Engeln (1. Tim. 3,16), hinweisen; aber sie zeugten auf verschiedene Weise davon, weil die Menschen damals, wie jetzt, verschiedene Fassungskräfte besaßen und nur wenig auf einmal zu begreifen vermochten.

So wie es unter dem alten Bunde war, so ist es nun auch unter dem neuen. Alle Christen kennen Christus, aber sie kennen ihn nicht alle gleich vollkommen und auf gleiche Weise. Es gibt etliche Christen, die Christus anschauen wie einst Simeon. Simeon sah ihn als ein Kind. Er nahm es auf seine Arme und lobte Gott und sprach: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast.“ (Luk 2,28.29). Ihr wisst, wie in der bischöflichen Kirche der Lobgesang Simeons allsonntäglich gesungen wird, so als ob viele unter den Gläubigen nie weiter gekommen wären, als dass sie Christus als ein Kind erkennen, als einen Heiland, den sie auf ihre Arme nehmen können, den sie sich im Glauben aneignen und ihr eigen nennen dürfen. Es gibt jedoch noch eine größere Vollkommenheit dieser Erkenntnis, wenn wir nicht bloß Christus aufnehmen können, sondern wenn wir sehen, wie er uns aufnimmt; wenn wir erkennen, wie wir ihn nicht nur im Glauben ergreifen, sondern wie er uns schon von Ewigkeit her im ewigen Testament angenommen hat und den Samen Abrahams zu seinem Eigentum machte, unsere Gestalt annahm, damit er unsere Seelen versöhnte. Es ist eine große Freude, Christus zu kennen, wenn es auch nur ist als das Kind, den Trost Israels. Es ist ein seliges Vorrecht, ihm mit den Weisen aus dem Morgenland Gold, Weihrauch und Myrrhe darzubringen und Christus, den neugeborenen König, anzubeten. Aber dies ist nur etwas für Anfänger; es ist eine der ersten Silben aus dem Unterrichtsbuch der Gnade. Christus aufzunehmen in unsere Arme ist die gewisse Versiegelung unserer Erlösung, aber dennoch ist es erst die Morgendämmerung des himmlischen Lichtes, das eine reifere Erfahrung uns entschleiert.

Aber, meine teuren Brüder, die Jünger des Herrn kannten ihn in noch höherem Maße als Simeon, denn sie betrachteten ihn nicht nur als den Menschgewordenen, sondern als ihren Propheten und Lehrer. Sie saßen zu seinen Füßen; sie hörten seine Worte; sie hörten, wie gewaltig er predigte, wie nie ein anderer Mensch. Durch seinen Unterricht gelangten sie zu einer hohen Stufe der Erkenntnis. Er verlieh ihnen das göttliche Wort, aus dem sie, nach der Ausgießung des Heiligen Geistes, heilige Lehren zogen, die sie dann dem Volk predigten. darum sage ich, sie hatten eine bessere Erkenntnis von Christus als Simeon. Simeon kannte ihn als den, den er durch den Glauben aufnehmen konnte und den seine Augen mit Freude als das Heil Gottes erkannt hatten; aber die Jünger kannten ihn als den, der sie lehrte; nicht bloß erlöste, sondern auch lehrte. Hunderte von Gläubigen sind bis hierher gelangt. Christus ist ihnen der große Lehrer der Wahrheit, er ist der große Verkündiger des göttlichen Willens und Gesetzes, und voller Ehrfurcht schauen sie zu ihm empor als zu dem Rabbi ihres Glaubens. Ja; aber wenigstens einer unter den Jüngern kannte den Herrn Jesus noch vollkommener. Einer war auserwählt unter den Zwölf, so wie die Zwölf auserwählt waren aus einer Schar von Jüngern; und dieser eine kannte Christus als einen teurer Leiter und Begleiter, als einen liebevollen Freund. Einer wusste, dass er an seiner Brust ein sanftes Ruhekissen fand für sein teures Haupt, einer hatte den Pulsschlag seines Herzens ans seiner Wange gefühlt, er war auch mit gewesen auf dem Berge der Verklärung und hatte sich der Gemeinschaft mit dem Vater erfreuen dürfen durch seinen Sohn Jesus Christus. Ich fürchte aber, derer, die so gefördert sind, wie Johannes war, sind gar wenige. Jene sind erkenntnisreich und haben daher einen großen Vorsprung im Stande der Christen vor denen, die nur gläubig sind und weiter nichts. Johannes aber hatte einen wunderbaren Vorzug vor seinen Mitmenschen darin, dass er sagen dürfte, Christus sei ihm teuer, sei der Gefährte seiner Seele, der Freund seiner Tage. Möge doch der Herr unser Gott uns mehr und mehr lehren, wie wir mit Jesu wandeln und seine Liebe erfahren können.

Aber, teure Brüder, es gab jemanden, der den Herrn Jesus ebenso völlig und innig verstand wie der geliebte Jünger. Es war Maria. Sie kannte ihn als den, der in ihr und aus ihr geboren war. Wohl dem Christen, der sagen kann, dass Christus in ihm eine Gestalt gewonnen hat zur Hoffnung der Herrlichkeit, der Christus nicht nur am Kreuz erblickt, sondern auch in der eigenen Seele; der weiß, dass er den Herrn Jesus ebenso wahrhaftig in sich trägt wie einst seine jungfräuliche Mutter; der fühlt, dass durch den Heiligen Geist Christus auch in ihm empfangen ist, dass in ihm die Natur Christi, das Heilige, das geboren wird aus dem Heiligen Geist, wächst und reift, bis dass es den alten Menschen zerstört und im vollkommenen Mannesalter geboren wird ins ewige Leben. Das, sage ich, verdunkelt noch eines Johannes Erkenntnis, aber vielleicht ist es noch nicht die höchste Stufe. Doch wollen wir uns heute nicht weiter wagen, sondern das können wir erst dann, wenn unsere Augen erleuchteter sind; und dann mögen wir einen Blick tun in eine noch weit größere Herrlichkeit.

O ihr teuren Freunde, die ihr den Heiland von Herzen lieb habt, wünscht euch nichts anderes, als dass ihr ihn immer völliger erkennt. Euer Verlangen steht dahin, ihn zu sehen, wie er ist, doch kann ich wohl begreifen, dass, wenn euer Wunsch erfüllt werden könnte, ihr ihn am liebsten so sehen möchtet, wie er war, als er verklärt wurde. Seht ihr nicht fast mit Blicken des Neides auf jene Bevorzugten, die mit ihm auf den Berg Tabor gehen durften und dort überschattet wurden, die ihn in Kleidern sahen, hell und sehr weiß wie der Schnee, dass sie kein Walker auf Erden so weiß machen kann (Mk. 9,3), und Moses und Elias erscheinen und mit ihm reden sahen? Ihr dürft sie nicht beneiden, denn ihr wisst ja, wie sie von dem Gesehenen überwältigt wurden, dass sie „voll Schlafe“ waren (Luk. 9,32). Auch ihr müsstet schläfrig werden, hättet ihr nicht mehr Kraft als sie und müsstet doch eine solch überschwängliche Herrlichkeit anschauen. Ich weiß auch, dass ihr schon gewünscht habt, ihr hättet ihn im Garten Gethsemane sehen können. Ach, solchen Kampf in Todeskämpfen sehen, solche Seufzer und solches Stöhnen hören; jenen blutigen Schweiß erblicken, wie er in geronnenen, schweren Topfen auf den erstarrten Boden fiel! Welch ein unbeschreiblicher Anblick! Ja, wohl dürft ihr sie beneiden, die erwählt waren, die heilige Nachtwache zu halten und eine Stunde mit ihm zu wachen. Aber ihr werdet euch wohl darauf besinnen, dass sie schliefen: „Er fand sie schlafen vor Traurigkeit.“ (Luk. 22,45). Auch mit der größten Anstrengung der Überwindung müsstet ihr, bloß mit ihrer Kraft ausgestattet, schlaftrunken hinsinken, denn wie die Verklärung, so ist auch diese Todesangst und blutiger Schweiß ein Anblick, den kein Auge ertragen kann; denn es war eine Herrlichkeit und war eine Erniedrigung, die kein Mensch zu fassen vermag.

Aber vielleicht haben einige unter euch verlangt und gewünscht, sie hätten ihn am Kreuz sehen können. O! Ihn am Kreuz erblicken, seine durchgrabenen Hände sehen,

„Die Nägel, welche fest
Die Welterlösung heften.“

die grausam ans Holz festgeschlagenen Füße, obwohl er uns doch Gnade erweisen wollte und die Welt auf sein Kommen gewartet hatte! O! Jenen zerschlagenen, nackten Leib, jene durchstochene Seite ansehen! Johannes, der du solches gesehen und bezeugt hast (Joh. 19,35), wir möchten dich wohl beneiden! Aber, teure Brüder, warumsollten wir das? Warum? Warum? Haben wir denn nicht im Glauben alle Leiden Christi geschaut, doch ohne jedes Entsetzen, das über alle Augenzeugen ergangen sein muss, und über seine Mutter, als ein zweischneidiges Schwert durch ihre Seele drang (Luk. 2,35), weil sie sehen musste, wie ihr Sohn am Kreuz blutete? O! Wie herrlich müsste es gewesen sein, den Heiland am Morgen seiner Auferstehung zu erblicken! Ihn zu sehen, wie er in einem neuen Leben auferstand aus den Kammern des Todes, ihn zu schauen, mitten unter seinen Jüngern bei verschlossenen Türen, als er zu ihnen sprach: „Friede sei mit euch!“ Wie lieblich, wer mit ihm auf den Gipfel des Ölbergs gehen und ihn auffahren sehen konnte, während er die Seinen segnete und eine Wolke ihn vor ihren Augen wegnahm! Gewiss, wir könnten wohl den Wunsch hegen, eine ganze Ewigkeit hindurch solche Erscheinungen zu sehen und anzustaunen. Aber ich glaube, das Bild unseres Textes ist dem allen weit vorzuziehen, und wenn ihr je wünschtet, etwas von dem erblicken zu können, was ich soeben erwähnte, so müsste doch eure Sehnsucht noch viel inniger sein, Christus so zu sehen, wie ihn Johannes in dieser Vision sah, denn dies ist vielleicht die wunderbarste und zugleich erhabenste Offenbarung Christi, die je ein menschliches Auge sah.

Es sind namentlich zwei Dinge, die heute unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen werden: Erstens die Wichtigkeit dieser Erscheinung für uns und zweitens der Zweck der Erscheinung.

I. Der Wert der Erscheinung für uns

Viele mögen vielleicht sagen: „Der Prediger hat heute eine recht sonderbare Schriftstelle ausgewählt; sie mag unsere Phantasie wohl recht reizen, aber wird es für unser Seelenheil auch von Nutzen sein?“ Teure Freunde, ihr seid in einem großen Missverständnis befangen, und ich hoffe, euch sofort davon zu überzeugen. Bedenkt, dass diese Erscheinung, dieses sinnbildliche Gemälde von Christus eine Darstellung ist von demselben Christus, der für unsere Sünden litt. Wie auffallend anders sie auch sein möge, so haben wir hier doch denselben Christus. Der Apostel Johannes nennt ihn des Menschen Sohn, nennt den lieblichen, bescheidenen Namen, mit dem der Herr Jesus sich selbst zu bezeichnen pflegte. Dass er die gleiche und selbe Person war, ist klar am Tage, weil Johannes von ihm sagt, er sei wie des Menschen Sohn, und ich denke, er will damit sagen, er habe in seiner Majestät eine Ähnlichkeit mit dem erkannt, den er noch in der Niedrigkeit gekannt hatte. Nicht der Dornengekrönte stand vor ihm; aber er erkannte sein Antlitz. Er sah nichts von den Wundmalen; vielleicht nahmen die sieben Sterne die Stelle der Nägelmale in seinen Händen ein; aber er erkannte diese Hand. Wir werden nach der Auferstehung aus dem Grab uns gegenseitig ohne Zweifel wieder erkennen, wenn auch der Auferstehungsleib nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Leib haben mag, der im Grab gesät wurde, da er eine wundervolle und herrliche Entwicklung in voller Blüte sein wird von dem armseligen, gebrechlichen, irdischen Samen; und ich zweifle nicht, dass ich eure Züge im Himmel wieder erkennen werde, weil ich sie auf Erden kannte; so entdeckte Johannes, trotz der Herrlichkeit Christi, dieselbe Person, die er in der Erniedrigung und im Leiden gekannt hatte. Christ, schaue mit Ehrfurcht dorthin. Dort ist dein Herr, Christus in der Krippe, Christus in der Wüste, Christus von Kapernaum und Bethsaida, Christus in Gethsemane, Christus auf Golgatha; dort ist er, und es ist nicht gleichgültig, ob du dich zu ihm umwendest, um dieses große Gesicht anschauen.

Weiter zeigt uns diese Vision, was Christus jetzt ist, und darin beruht seine gewaltige Bedeutung. Was er war, als er noch auf Erden wandelte, ist unendlich wichtig für mich; was er aber jetzt ist, ist eine ebenso tiefgreifende Lebensfrage. Manche legen einen ungeheuren Wert darauf, was er sein werde, wenn er kommen wird, zu richten die Erde mit Gerechtigkeit, und das tun auch wir. Aber wir meinen wahrlich, dass der zukünftige Christus der Erkenntnis des Christus von heute nicht vorzuziehen ist; denn wir benötigen heute, inmitten des gegenwärtigen Kampfes, der gegenwärtigen Leiden, der gegenwärtigen Anfechtung eine Erkenntnis dessen, was der Herr Jesus Christus jetzt ist. Und das alles umso mehr, da wir wissen, dass wir einst sein werden, was er jetzt ist; denn wir werden ihm ähnlich sein, wenn wir ihn sehen werden, wie er ist (1. Joh. 3,2).

Und noch eine dritte Erwägung verleiht der Schilderung unserer Schriftstelle Bedeutung, nämlich dass Christus dort dargestellt wird als das, was er den Gemeinden ist. Ihr seht, wie er dargestellt ist als inmitten der goldenen Leuchter stehend, unter denen wir die Kirchen verstehen. Es freut uns, wenn wir wissen, was er den Völkern ist, was er insbesondere seinem Volk, den Juden, ist, was er seinen Feinden sein wird; aber uns, als Gliedern christlicher Kirchen, liegt es ganz besonders nahe, zu wissen, was er in den Kirchen ist, so dass jeder Gehilfe, jeder Älteste, jedes Gemeindeglied sehr achtsam auf diese Stelle sein sollte, weil ihm hier Christus vor die Augen gestellt wird, zu dem seine Kirche aufschaut als zu ihrem Herrn und ihrer Hoffnung, der Messias, dem sie täglich dient und ihre Verehrung darbringt.

Und nun möchte ich noch eines beifügen; ich glaube, dass der Gegenstand unseres Textes von großer Bedeutung für uns ist, wenn wir bedenken, welchen Eindruck er auf uns machen müsste, wenn wir ihn recht verstünden und zu Herzen nähmen; wir würden zu seinen Füßen fallen wie tot (V. 17). Wie selig ist es, zu seine Füßen zu liegen! Erschreckt euch der Tod? Wir sind nie so lebendig, wie wenn wir tot zu seinen Füßen liegen. Wir sind nie so wahrhaft lebendig, wie wenn das Kreatürliche abstirbt in der Gegenwart des hochgelobten Königs der Herrlichkeit. Ich weiß, dass das Absterben aller Sündigkeit, die mir innewohnt und anklebt, meiner Seele größtes Verlangen ist, ja auch der Tod alles dessen, was fleischlich ist und dem alten Adam Nahrung gibt. Ach dass es doch erstürbe! Und wo anders kann es ersterben als zu den Füßen dessen, der das neue Leben hat und der durch die Offenbarung seiner Herrlichkeit Schlamm und Schlacken ausfegt? Ach, wie wollte ich so gerne, dass ich euch heute in der Kraft des Geistes unseren Herrn und Heiland zeigen könnte, um auch ein wenig dazu beitragen zu können, dass ihr zu seinen Füßen fielet, als wäret ihr tot, damit er in uns alles in allem würde.

II. Was ist der Zweck dieser Erscheinung?

„Zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen; denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land.“(2. Mo. 3,5) Wenn Gott schon bei der Offenbarung in einem Busch heilige Ehrfurcht gebietet, was sollen wir sagen, wenn Gott sich in Christo offenbart? Die Worte unserer Schriftstelle sind Sinnbilder; man darf sie nicht buchstäblich auffassen. Gewiss, Christus erscheint im Himmel nicht buchstäblich so; aber so ist die Erscheinung, in der er dem Johannes offenbart wurde. Johannes war nicht so umnachtet, dass er die Erscheinung in irgend einem Stücke buchstäblich aufgefasst hätte. Er wusste, dass die goldenen Leuchter nicht bloße Leuchter bedeuten sollten, sondern die sieben Licht verbreitenden Gemeinden; dass die Sterne nicht Sterne waren, sondern Diener der Gemeinde, Knechte Gottes; und er verstand ganz wohl, dass sich durch die ganze Beschreibung Sinnbilder zogen und er auf den Geist der Vision achten müsste und nicht auf die geschauten Sinnbilder, als wären es die wirklichen und wahren Dinge.

Es heißt zuerst: „Und mitten unter den sieben Leuchtern einen, der war eines Menschen Sohn gleich, angetan mit einem Talar und begürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel!“ Wir haben hier von Christus, wie er jetzt ist, ein Bild seiner hohepriesterlichen Würde und seiner königlichen Herrlichkeit. Angetan mit einem Talar. Das war ein Kleid, wie es die Könige trugen, ein langes, herabwallendes, mantelartiges Gewand, unter dem nur die Füße sichtbar blieben. Dies war auch die besondere Kleidung der Priester. Ein Priester des alten Bundes hatte ein langes, faltiges, weißes Kleid, das bis auf den Boden reichte und ihm ganz umhüllte. Wenn nun Christus so bekleidet erscheint, so bezeugt er damit seine Königswürde und ewiges Priesteramt. Auch mag damit angedeutet sein, dass er sich mit Gerechtigkeit gekleidet hat (Jes. 61,10). Obwohl er einst nackt war, als er als der Bürge für die nackten Sünder litt, die ihre Selbstgerechtigkeit weggeworfen hatten, so ist er jetzt nicht mehr nackt, er trägt das blutbesprengte Kleid, das mit seinem eigenen Blut gefärbt ist, durch und durch gewirkt von seinen eigenen Händen - er selber trägt dieses Kleid, das er über seine mit ihm verbundene Gemeinde wirft, die sein Leib ist.

Aber zugleich haben wir hier auch das Bild seiner hohepriesterlichen Würde und seines Amtes, und wenn ihr lest von dem goldenen Gürtel um seine Brust, so ist das ein Hinweis darauf, wie der Hohepriester gegürtet war. Er war gegürtet mit einem Gürtel, der mit Gold gewirkt war. Die Gürtel der anderen Priester waren nicht golden, aber der Gürtel der Hohepriester bestand aus diesem edlen Metall; und er war gegürtet um die Brust, nicht um die Lenden, sondern um die Brust, als wolle er die Liebe Christi anzeigen oder die Stelle, wo sein liebevolles Herz so mächtig schlägt; da gürtete er sein hohepriesterliches Gewand fest, als ob seine Liebe der treue Gürtel seines Herzens sei, als ob die Inbrunst seines Herzens ihn ewig fest und stark machte in Erfüllung des Hohepriesteramts, das er um unseretwillen übernommen hat. Das Bild ist nicht schwer vor euren Augen darzustellen; es bedarf nur, dass des Christen Gemüt einen Augenblick dabei verweile und es betrachte. Komm, du gläubige Seele; du hast einen Herrn, den du anbeten darfst, und dieser dein Herr ist heute angetan mit Hohepriesterwürde. Komm zu ihm, er kann regieren zu deinem Heil, er ist ein König; er kann für dich flehen, er ist ein Priester. Komm, bete ihn an, er wird angebetet im Himmel; komm und vertrau auf ihn; siehe, an jenem goldenen Gürtel hängen die Schlüssel des Himmels, des Todes, der Hölle. Nun nicht mehr verachtet und verspottet von den Menschen, nicht mehr nackt und bloß, nicht mehr obdachlos, heimatlos, freundlos. Seine Königshoheit versichert ihn des Dienstes der Engel, und seine priesterliche Würde gewinnt ihm das Wohlgefallen des Vaters.

„O Seele, deine Sach' verficht
Er; zweifle an der Gnade nicht.“

Sein Gürtel und Gewand müssen deinen Glauben stärken, dass du deine Seele, ja auch dein zeitliches Anliegen ganz und gar in seine allvermögenden Hände übergeben kannst.

Ihr seht auch, dass noch keine Krone auf seinem Haupt ruht. Diese Krone wird er tragen bei seiner zweiten Ankunft. Bald, bald kommt er, zu herrschen; doch ist er schon jetzt König. Aber jetzt noch ist er als König mit dem Gürtel um seine Brust bekleidet und nicht mit dem Herrscherdiadem. Bald, bald wird er kommen in den Wolken des Himmels, und die seinen werden hingehen, ihm entgegen, und dann werden wir ihn sehen „in der Krone, mit der ihn seine Mutter gekrönt hat am Tag seiner Hochzeit und am Tag der Freude seines Herzens“ (Hoh. 3,11). Unsere Seele sehnt sich und wartet auf den Tag, wo die vielen Kronen sein Haupt schmücken (Off. 19,12); doch er ist schon jetzt ein König aller Könige und ein Herr aller Herren; schon jetzt ist er der Hohepriester unseres Bekenntnisses, als den wir ihn anbeten und auf den wir trauen.

„Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie Schnee“ Als die Brautgemeinde ihn im Hohenlied beschrieb, sagte sie: „Seine Locken sind wallend, schwarz wie ein Rabe“ (Hoh. 3,11). Wie haben wir diesen scheinbaren Widerspruch zu fassen? Liebe Brüder! Die Gemeinde Gottes im Hohenlied schaute vorwärts, sie schaute hinaus in die Tage und Zeiten der Zukunft und hatte seine ewige Jugend im Auge; sie schilderte ihn als einen, der nie alert, dessen Haare stets in jugendlicher Schwärze prangen. Und müssen wir nicht Gott loben und preisen, dass, was sie an ihm sah, Wahrheit war. Wir können von Jesus sagen: „Aus der Morgenröte taut die Jugend (Ps. 110,3); aber die Kirche unserer Zeit schaut zurück auf sein vollbrachtes Werk; wir sehen ihn als den Alten der Tage. Wir glauben, dass er nicht bloß der achtzehnhundertjährige Christus ist, sondern ehe das Tagesgestirn seinen Ort kannte, war er eins mit dem ewigen Vater. Wenn wir im Bild sein Haupt und sein Haar weiß sehen wie Schnee, so stellt sich uns das hohe Alter seiner Herrschaft dar. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ (Joh. 1,1). Da noch nichts war, da die uralten Gebirge ihre schneeverhüllten Häupter noch nicht in die Wolken erhoben, als das noch altersgrauere Meer noch nie im Sturme gewütet und gewogt hatte, ehe noch des Himmels Lampen flimmerten, ja da, als Gott noch einsam in der Unendlichkeit thronte und die still zitternden Fluten des Äthers, wenn er etwa schon war, noch von keines Seraphs Schwingen durchschnitten wurden und die erhabene, ewige Stille von keinem cherubinischen Lobgetöne widerhallte, da war Jesus schon von Ewigkeiten zuvor in Gott. Obwohl wir wissen, wie er um des Wortes willen von Menschen verspottet und verworfen wurde, so begreifen wir doch, was er meinte, als er sprach: „Ehe denn Abraham ward, bin ich“ (Joh. 8,58). Ja, wir wissen, dass er, der starb, als er erst wenig über dreißig Jahre alt war, wahrhaftig der Ewig-Vater (Jes. 9,6) war, ohne Anfang der Tage, noch ohne Ende der Jahre (Heb. 7,3).

Gewiss ist hier mit dem Begriff des hohen Alters auch jener der Ehrenwürdigkeit eng verbunden. Die Menschen erheben sich vor einem ergrauten Haupt und bezeugen ihm ihre Ehrfurcht; und beugen sich denn nicht die Engel, Herrschaften und Fürstentümer vor ihm; und ob er schon um seines Todesleidens willen eine kleine Zeit unter die Engel erniedrigt wurde, wurde er nicht dennoch gekrönt mit Ehre und Herrlichkeit? Harren sie nicht alle mit Entzücken seiner Winke, und legen ihm die ihnen verliehenen Würden zu seinen Füßen; o Christ, freue dich doch, dass du einem so Würdigen dienst, der es wert ist, dass man ihm Preis darbringe; lass deine Seele sich mit dem Gesang verschmelzen, der wie ein mächtig wogender Strom zu seinem Thron aufsteigt: „Ihm, der da ist, und war, und zukünftig ist, dem Alpha und Omega, ihm sei Ehre, und Herrlichkeit, und Macht, und Gewalt, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen!“

„Und seine Augen wie eine Feuerflamme.“ Das bezeichnet Christi Aufsicht über seine Gemeinde. Wie er in der Gemeinde der Alte der Tage ist, ihr Ewig-Vater, ihr Haupt, das sie hoch zu ehren hat, so ist er in der Gemeinde auch der Hauptaufseher, der große Bischof und Hirte der Seelen. Und wie sind seine Augen! Wie alldurchdringend! „Wie Feuerflammen!“ Wie scheidend und durchschneidend! „Wie Feuerflammen!“, die die Schlacken verzehren und nur das reine Metall zurücklassen. „Wie Feuerflammen!“; denn was er anschaut, sieht er nicht bei fremdem Licht, sondern durch den Lichtglanz seiner eigenen Augen, die flammend leuchten. Seine Kenntnis vom Zustand seiner Kirche schöpft er nicht aus den Geboten der Kirche, nicht aus ihrer Erkenntnis dessen, was sie benötigt, nicht aus ihren Bekenntnissen; er sieht nicht beim erborgten Licht der Sonne noch des Monds, sondern seine Augen sind ihre eigenen Leuchter. In der dichten Finsternis, wo die Gemeinde Gottes zertreten wird, wo kein Licht ihr leuchtet, da sieht er sie, denn seine Augen sind „wie Feuerflammen.“ O, welch ein süßer Trost muss das für ein Kind Gottes sein. Wenn ihr eurem Herrn nicht sagen könnt, wo ihr seid, so kann er euch sehen, und wenn ihr schon nicht zu sagen vermögt, was euch fehlt, wenn ihr schon nicht wisst, wie ihr erhörlich beten sollt, so kann er nicht nur sehen, sondern selbst mit solchem Scharfblick, dass er uns genau sagen kann, was unsere wahren Bedürfnisse und was nur Einbildungen eines unheiligen Verlangens sind. „Seine Augen waren wie Feuerflammen!“. Ja, ihr wohnt in Finsternis und seht kein Licht; aber er ist das Licht, das einen jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt, und er sieht in dem Licht seines eigenen Wesens alles, was in euch vorgeht. Es ist etwas Herrliches um diese Lehre der allwaltenden Aufsicht Christi über seine ganze Kirche. Ihr wisst, wie schon öfters darauf hingewiesen wurde, dass die Kirche ein sichtbares Oberhaupt haben sollte, so dass alles durch die verschiedenen Ämter eines Priesterstaates sich in einem Menschen vereinigte, und also ein Mensch alles wüsste und im Stande wäre, die ganze Kirche richtig zu leiten. Unmöglich! Denn welcher Mensch dürfte sagen: „Ich erhalte die Kirche, ich tränke sie, ich wache unausgesetzt über sie.“ Nein, sondern es muss so sein: „Ich, der Herr, behüte meinen Weinberg und tränke ihn alle Augenblicke, dass man seine Blätter nicht vermisse, ich will ihn Tag und Nacht behüten.“ (Jes. 27,3). Es kommt nie eine Anfechtung über die Kirche, nie erleidet sie eine Angst, die jene Feueraugen nicht bemerkten. Ach, denkt nicht etwa, ihr wolltet lieber jene Augen erblicken, die einst Tränenquellen waren; ja, Tränen strömten sie wohl für eure Sünden; aber nun sind diese Sünden hinweggenommen, und es ist für euch besser, dass ihr einen um euch habt, dessen Augen Feuerflammen sind, nicht um etwa eure Sünden ans Licht zu stellen, sondern sie flammend zu verzehren; nicht bloß, um eure Mängel aufzudecken, sondern euer Verlangen in alle Ewigkeit zu stillen. Beugt euch vor ihm, enthüllt eure Herzen, meint nicht, ihm etwas verbergen zu können. Meint auch nicht, ihr hättet nötig, etwas zu erklären oder zu entschuldigen; er sieht und weiß alles, denn seine Augen sind eine Feuerflamme.

„Und seine Füße gleichwie gülden Erz, das im Ofen glüht.“ Ihr seht; das Haupt ist ehrfurchtgebietend; das Antlitz herrlich wie die Sonne; die Füße wie geschmolzenes Erz im Läuterungstiegel der Prüfung. Dies haben wir von der Gemeinde Gottes auf Erden zu verstehen - seinen Heiligen, die mit ihm vereinigt, aber die letzten an seinem Leib sind; den unteren Gliedern, während sie noch auf Erden wandeln. Christus ist im Himmel; sein Haupt „leuchtet wie die Sonne in ihrer Kraft“ (V. 16). Christus ist auf Erden inmitten seiner Gemeinde, und wo seine Füße unter den goldenen Leuchtern wandeln, da schreiten sie feurig einher; sie sind wie gülden Erz, das im Ofen glüht. Nun, wir denken, dass überall, wo Christus ist, da ist für seine Kirche ein Feuer der Prüfung. Ich könnte nie glauben, dass wir auf des Herrn Seite stehen, wenn alle Menschen auf unserer Seite wären. Wenn die Worte, die wir sprechen, nicht immer wieder verdreht würden, so könnten wir nicht die Überzeugung gewinnen, dass wir Gottes Wort darlegen. Würden wir allezeit richtig verstanden, so müssten wir annehmen, dass wir nicht von den Dingen reden, die der fleischliche Sinn nicht zu fassen vermag. O nein, teure Brüder, nein! Nehmt es nicht leicht! Glaubt nicht, dass ihr ohne Leiden die Krone erringt. Die Füße Christi glühen im Feuerofen, und zu diesen Füßen gehört ihr - ihr gehört nicht zu seinem Haupt, denn ihr seid nicht im Himmel; ihr gehört nicht zu seiner Brust, denn ihr tragt nicht den goldenen Gürtel - sondern ihr gehört zu seinen Füßen und müsst im Ofen glühen. Welch ein wunderbares Bild von Christus ist das! Könnt ihr es fassen? Ihr wisst, dass sein Talar hinabreichte bis auf die Füße; vielleicht bedeckte er sie, aber die Glut war so gewaltig, dass selbst durch das Gewand hindurch das Glühen der erzenen Füße wahrnehmbar sein mochte. Auch waren sie von gülden Erz, von edlem Metall, dem die Hitze nichts anhaben kann. Und so ist die Kirche Christi. Das alte Sinnbild der ersten Protestanten war ein Amboss, weil, wie sie sagten, „die Kirche ein Amboss ist, an dem sich viele Hämmer zerschlagen haben.“ Der Böse schlägt sie, sie widerspricht nicht, sie duldet nur, und in diesem Ertragen in Geduld besteht ihre Herrschaft, in diesem Leiden ihr Sieg, in dem geduldigen Ausharren ihrer Seele, in ihrem Glühen mitten im Ofen, wo sie dennoch bewährt bleibt, in ihrem Leuchten und Geläutertwerden in der Hitze, wobei sie doch nicht weicht noch von der Glut verzehrt wird, in dem allem ist ein so großer Sieg und Triumph Christi wie in dem leuchtenden Antlitz, „welches leuchtet wie die Sonne in ihrer Kraft.“ Dieser Teil unseres Textes ist mir sehr wertvoll; das tröstet die Seele, wenn sie daniedergebeugt und schwer angefochten ist. „Seine Füße waren wie gülden Erz, das im Ofen glüht.“ Wir wollen sagen zu unserer Seele:

„Sollt' ich zum Himmel gehen ein
Auf sanften Blumentriften;
Wenn Andere kämpften in den Reih'n,
Durch blut'ge Meere schifften?
Nein, ringen muss ich um die Kron';
Gib Mut mir, o mein Hort!
Ich wag den Kampf, erring den Lohn',
Getragen durch dein Wort!“

Aber ich muss weitergehen, denn heute ists mir nicht vergönnt, lange bei dem Einzelnen zu verweilen. „Seine Stimme wie das Rauschen vieler Wasser.“ Und wie ist die Stimme Christi? Es ist eine Stimme, die im Himmel gehört wird. Ihr Engel, beugt euch vor ihm in den Staub! Sie hören den Befehl „dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen alle Knie derer, die im Himmel sind“ (Phi. 2,10). Es ist eine Stimme, die in der Hölle vernommen wird. Ihr Feinde, schweigt still! „Tastet meinen Gesalbten nicht an, und tut meinem Propheten kein Leid“ (Ps. 105,15). Und siehe, die Höllenhunde zerren an ihren Ketten und heulen nach Erlösung aus ihrer Gefangenschaft. Es ist eine Stimme, die gehört wird auf der Erde. Wo nur immer Christus gepredigt wird, wo sein Kreuz als Panier sich hoch erhebt, da ist auch jene Stimme vorhanden, die Besseres redet als Abels Blut (Heb. 12,24). Manchmal freilich kommt es uns vor, als werde die Stimme Christi nicht gehört. Wir, die wir sein Wort verkündigen, sind so schwache Geschöpfe! Wenn auch wenige Tausende auf unsere Worte hören, wie Viele vergessen das Gehörte so bald! Wer darf erwarten, dass inmitten des Kampfgewühls, inmitten des eifersüchtigen Ringens der Völker und Parteien die schwache Stimme des Evangeliums beachtet werde? Aber sie wird gehört. Weithin über das Alleghanigebirge erschallt die Stimme der Diener Gottes. Zuletzt wird dem Zeugnis der Knechte Gottes kein Übel mehr entgegenstehen. Was das Sklavenwesen bis ins Mark erschüttert hat, was wars anderes als das standhafte Zeugnis christlicher Prediger; und obwohl falsche Propheten das Gute zu entkräften suchen, so müssen die Ketten endlich doch fallen vor der Macht der Wahrheit. Und wenn der demütigste und unbekannteste Dorfprediger seiner kleinen Herde die Wahrheit bezeugt, so erstreckt sich damit sein Einfluss auf alle künftigen Geschlechter. Der Diener Christi steht mitten im Telegraphennetz des Weltalls, und sein Wort eilt in die Ferne nach dem Willen Jehovas. Die ganze menschliche Gesellschaft ist gleichsam nur eine einzige, zusammenhängende, zitternde Masse von Gallerte, die von dem Einfluss des Evangeliums Christi erschüttert wird. Ich sage gar nicht, teure Freunde, dass in uns irgend eine Kraft sei; aber eine Macht liegt in Christi Wort, wenn es mit Posaunenschall uns durchbebt. Eine Macht liegt in Christi Wort, zu erwecken die verdorrten Gebeine, die in so vielen Tälern zu Haufen liegen. China soll hören; Indien soll lauschen; der Heiden Götter, die nicht hören, zittern; und wie schwach wir auch von uns selber sind, so macht uns Gott mächtig, die Starken zu überwinden, und macht uns zu Siegern durch seine Gnade. Wenn ihr auf einem sehr hohen Berg stehen könntet und hättet die Gabe eines unendlich weit reichenden Blicks, so wäre es doch gewiss etwas unsäglich Wunderbares, wenn man so auf einmal das atlantische Meer, den stillen Ozean, das indische Meer und alle Meere und Inseln der Welt in einem Augenblick überschauen könnte. Das wäre freilich nie möglich; wenn wir uns aber alles in einer großen weiten Ebene ausgebreitet denken, und wir stünden dann oben auf dem höchsten Gipfel, während ein ungeheurer Sturm über das alles hintobt, die Wasser brausen, und alle Meere - ja, alle Meere auf einmal brüllten aus aller Macht, das atlantische Meer heult hinüber zum stillen Ozean, dieser wälzt das schwellende Getöse hinüber ins indische Meer, das mittelländische schallt hinab zum roten Meer; das rote Meer jauchzt mit Macht dem Polarmeer zu, und ein Polarmeer dem anderen. Sie klatschen mit den Händen, alle auf einmal; siehe, das ist die Stimme vieler Wasser. Und so ist die Stimme der Predigt Christi auf Erden. Vielleicht scheint sie nur schwach, aber schwach ist sie niemals. Es ist vielleicht nur eine Handvoll Menschen: vielleicht in den Schluchten Piemonts, vielleicht auf den Alpenhügeln der Schweiz, und möglich, dass sie um Christi willen sterben; aber ihr Gang ist wie ein Gang der Herolde; ihre Stimme erschüttert die Zeiten, und die Ewigkeit selber erzittert davor. O, wie ist es für den Himmelserben und für den Diener Christi so tröstlich, dass „seine Stimme ist wie das Rauschen vieler Wasser.“

„Und hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand“ Die Gemeinde Gottes sollte immer aufsehen zu Christus als zu dem, der ihre Diener hält. Prediger sind vielen Gefahren ausgesetzt. Sterne, oder was Sterne zu sein scheinen, sind vielleicht nur Sternschnuppen; es sind vielleicht nur flüchtige Meteore und zerrinnen vor den Augen in nichts; aber Christi Diener sind auch in der Gefahr wohl geborgen, wenn sie rechte Knechte Christi sind. Er hält die sieben Sterne. Das himmlische Siebengestirn des Evangeliums ist immer in Christi Hand; und wer will sie aus seiner Hand reißen? Lass es immer dein Gebet sein, dass Christus seine Knechte überall in seiner Rechten halte. Befiehl sie ihm an, und bedenke, dass du hierin eine Verheißung hast, auf die du deine Bitte gründest. Teure Brüder, betet für uns. Wir sind nur wie schwach funkelnde Sterne, und er ist wie die Sonne, die da leuchtet in ihrer Kraft. Bittet ihn, dass er uns erleuchte; bittet ihn, dass er uns immer brennend erhalte; bittet ihn, dass wir seien wie der Polarstern, der dem flüchtigen Sklaven den Weg zur Freiheit weist; bittet ihn, dass wir seien wie die Sterne des südlichen Kreuzes, damit, wenn der Seefahrer uns, die Stern Christi, erblickt, er nicht jeden einzelnen betrachte, sondern Christus wahrnehme in der herrlichen Gestalt des zusammenleuchtenden Sternbildes. Das sei heute mein Teil. „Die sieben Sterne waren in seiner rechten Hand.“ Wie viele möchten so gerne das Licht der göttlichen Diener dämpfen und ertöten. Viele tadeln, viele missbrauchen, noch viel mehr verdrehen es. Ich kann kaum ein Wort sagen, das nicht missdeutet werde; und ich gestehe, dass ich mich doch oft danach gerichtet habe, so zu sprechen, dass man mich nicht bloß verstehen, sondern dass man mich auch nicht missverstehen kann. Und doch geschieht dies. Doch was tuts? Was hats zu sagen? Wenn auch die Sterne die Augen der Menschen nicht zu erfreuen vermögen, so sollten sie sich zufrieden geben, wenn sie sich in des Herrn Hand wissen. Und wüten die Wogen auch noch so gewaltig, und speie das tobende Meer auch noch so erbost seinen schmutzigen Schaum empor, das himmlische Feuer auszulöschen: lasst wüten und speien. Sieh, o Meer, auf sanftem, sicherem Pfuhl schlummern die Sterne, sie schauen lächelnd nieder auf deine wutschäumenden Wellen, und wenn dein Stürmen sich erschöpft und zur Ruhe gelegt hat, wenn die Gewitterwolken, die aus deinem Dunst sich zusammenhäuften, wieder zerstreut sind, so scheint auf das Meer der einzelne Stern oder das Sternbild funkelnd herab und glänzt zurück von deinen stillen Wassern, bis du, o Erde, das Bild dieses Sternes selber wiederspiegelst und erkennst, wie auch in jenem beneideten Funken, den du zu ertöten suchtest, eine Macht wohnt, die deine Meeresströmungen in regelmäßigen Pulsen treibt, bald schwellend als Flut, dann wieder als Ebbe sinkend, so dass du einem dienen musst, den du auf ewig zu vertilgen meintest. Die sieben Sterne sind in der rechten Hand Christi.

Ich will euch nicht länger hinhalten - doch wir müssen das wundervolle Gemälde vollenden. „Aus seinem Munde ging ein scharf zweischneidig Schwert.“ Ich habe ein oder zwei Gemälde gesehen, in denen die Künstler früherer Zeiten versuchten, dieses Gesicht darzustellen. Ein solcher Versuch kommt mir fast mehr als gewagt vor. Nach meiner Überzeugung konnte nie die Rede davon sein, dass irgend ein Mensch so etwas malen würde; auch ist das unmöglich; aber ein alter Künstler scheint den richtigen Gedanken getroffen zu haben. Er stellt den Atem Christi als einen Dampf dar, der sich zu einem gewaltigen zweischneidigen Schwert gestaltet, das jeden Gegner vernichtet. Wie nun das Evangelium gehört werden muss, weil es ein „Rauschen vieler Wasser“ ist, so muss es auch gefühlt werden, denn es ist ein „scharf zweischneidig Schwert“, und es ist auch erstaunlich, wie das Evangelium wirklich gefühlt wird. Es wird gefühlt von denen, die es hassen; sie krümmen und winden sich darunter; es raubt ihnen den Schlaf; sie fühlen sich entrüstet; sie empören sich deshalb; es ist ihnen zuwider; und doch ist etwas darin, was ihnen keine Ruhe lässt. Dieses zweischneidige Schwert dringt ihnen durch Mark und Bein. Sie wünschen, dass sie das Wort nie gehört hätten, aber nie, nie heilt die Wunde, die sie von ihm empfangen haben. Und für jene, denen das Wort zum Segen gereicht - wie ist es doch für die ein zweischneidiges Schwert! Wie ertötet es ihre Selbstgerechtigkeit! Wie schneidet es ihren Sünden den Lebensfaden ab! Wie streckt es ihre Begierden und Lüste tot hin zu Jesu Füßen! Wie allüberwindend waltet es im Herzen! Kein Schwert Gideons war je so mächtig gegen die Horde der Midianiter, wie das Schwert, das aus dem Munde Jesu geht gegen die Heere unserer Sünden! Wenn der Geist Gottes in all seiner Macht kommt in unsere Seelen, welchen Tod richtet es an, und dennoch, welch ein Leben! - Welchen Tod der Sünde, und doch, welch neues Leben in Gerechtigkeit. O heiliges Schwert! O Atem Christi! Zieh ein in unsere Herzen und töte unsere Sünde.

Es ist köstlich zu sehen, wie die Predigt des Wortes wahrhaftig das Schwert Gottes ist. Ich steige manchmal bekümmert von der Kanzel hinab, weil ich nicht predigen kann, wie ich gern möchte, und es kommt mir manchmal vor, als ob meines Herrn Botschaft gar langsam unter euch eindringe. Aber es ist ganz wunderbar, wie viele hier von der Gnade berufen worden sind. Ich staune täglich mehr, wenn ich sehe, wie Hoch und Niedrig, Reich und Arm, Vornehm und Gering, Tugendhafte und Lasterhafte von diesem allüberwindenden Schwert Christi gleich sehr gedemütigt und niedergeworfen werden. Zu des Herrn Ehre muss ich es bekennen: „Es hat ihm geholfen seine Rechte und sein heiliger Arm.“ (Ps. 98,1), und der Erschlagenen des Herrn sind hier viele gewesen; hier hat er sich verherrlicht in der Bekehrung von Scharen von Seelen.

Aber zum Schluss: „Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne in ihrer Kraft.“ Wie kann ich dies beschreiben? Geht hin und richtet euren Blick in die Sonne, wenn ihr könnt; wählt den Tag im Jahr, wo die Sonne am höchsten steht, und richtet dann euer Auge starr in dieselbe. Blendet sie euch nicht, überwältigt sie euch nicht? Aber siehe, auch wenn ihr mit ungeschwächten Augen den Blick in die Sonne auszuhalten vermögt, so hättet ihr doch die Kraft nicht, das Angesicht des Herrn zu schauen. Welche Herrlichkeit, welche Hoheit, welcher Glanz, welche Reinheit, welche Gewalt: „Sein Angesicht leuchtet wie die Sonne in ihrer Kraft.“ Wohl mögen die Cherubim ihr Antlitz verhüllen mit ihren Flügeln; wohl mögen die Ältesten in goldenen Gefäßen Weihrauch opfern, damit der Rauch ihrer Räucherwerke ein Schleier sei, durch den sie sein Angesicht sehen mögen; wohl mögt ihr und ich fühlen und sprechen, dass

„Je mehr sein Glanz bestrahlet Herz und Sinn,
Um so demüt'ger fall'n wir vor ihm hin.“

Aber, o Jesu, wende doch den Angesicht und schaue auf uns. Es ist Mitternacht; wenn du aber dein Angesicht wendest auf uns, so muss es Mittag sein, denn dein Angesicht ist wie die Sonne. Dicke Finsternis und lange Nächte haben unsere Geister umgeben, und wir haben gesagt: „Ich bin auf ewig vom Herrn verstoßen!“ O Jesu, wende dein Angesicht, so sind wir nicht mehr betrübt. O du Meer der Liebe, in welches all unser Verlangen und Sehen sich ergießt; du Kreis, der all unsere Freuden umschließt, du Mittelpunkt unserer Seelen - scheine uns und mache uns froh. Wenn wir nur mit neugierigem Blick diese Sonne betrachten, um ihre Herrlichkeit zu erfassen, so blendet sie uns; sehen wir aber voll Demut zu ihr auf, damit wir ihr Licht empfangen möchten, so macht sie unsere Augen stark und schüttet Ströme von Licht in die dichteste Finsternis unserer Verzweiflung.

O du Kirche Gottes! Was sagst du zu ihm, der dein Bräutigam ist? Willst du nicht deine Freundschaft und deines Vaters Haus um seinetwillen verlassen? Verlangt dich nicht, ihn mehr und mehr kennen zu lernen, und rufst du heute nicht aus: „Besteige deinen Wagen, o Herr Jesu, besteige deinen Wagen! Fahre hinaus, ein Überwinder und ein Sieger. Zeige dein Antlitz, so muss die Finsternis des Aberglaubens zerfließen vor deinem Angesicht. Tue deinen Mund auf und lass das zweischneidige Schwert des Geistes deine Geist umbringen! Gehe heraus, o Herr Jesu, trage die sieben Sterne, und lasse sie leuchten, wo nie zuvor ein Licht schien. Sprich, o Herr Jesu, sprich! So müssen dich die Menschen hören; denn deine Stimme ist wie „das Rauschen vieler Wasser.“ Komm, o Herr Jesu, komm, ob du auch die zerschmelzende Hitze mit dir bringst und wir als deine Füße glühen im Schmelzofen! Komm, sieh auf uns herab und verzehre alle unsere Sünden mit deinen Feuerflammen-Augen! Komm, offenbare dich, so wollen wir auf dich trauen; mit deinem Kleid, mit deinem hohepriesterlichen Kleid angetan, wollen wir dir dienen; umgürtet mit deinem goldenen Gürtel, wollen wir dich anbeten, o du König aller Könige, du Herr aller Herren! So komm denn, auf dass wir dich sehen und du deine Krone auf dein Haupt setzt und der Ruf erschalle: „Halleluja, Halleluja! Gott der Herr, der Allmächtige, regieret von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Amen.

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