Spener, Philipp Jacob - Pia Desideria - Erster Abschnitt

Spener, Philipp Jacob - Pia Desideria - Erster Abschnitt

Uebersicht des verderbten Zustandes der evangelischen Kirche.

Erstes Kapitel.

Allgemeine Klage über das Verderben der gesammten Christenheit.

Gnade, Licht und Heil von Gott dem himmlischen Vater durch Christum Jesum in dem heiligen Geist, Allen denen, die den Herrn suchen.

Wenn wir mit christlichen und nur etwas erleuchteten Augen - nach unsers Erlösers Ermahnung, die Zeichen der Zeiten und deren Beschaffenheit zu beurtheilen - den jetzigen Zustand der gesammten Christenheit ansehen, so möchten wir billig mit Jeremias 9, 1 in die klagenden Worte ausbrechen: „Ach, daß wir Wassers genug hätten in unsern Häuptern, und unsere augen Thränenquellen wären, daß wir Tag und Nacht beweinen möchten den Jammer unsers Volks!“ Und hat zu den noch goldenen Zeiten jener liebe alte Vater sprechen mögen: „Ah, in quae nos tempora reservasti Domine!“1) „Ach, für welche Zeiten ahst du uns erhalten, Herr!“ so haben wir es heut zu Tage mit so viel mehrerem Fuge nicht nachzusprechen, sondern, wie wir mit der größten Betrübniß kaum Worte zu finden vermögen, nachzuseufzen.

Ich will jetzt nicht reden vonn den Gliedern der christlichen Kirche, welche noch nicht zu der Reinigkeit der Lehre gekommen sind, an deren Jammer ohne innige Bewegung von einer gottseligen Seele nicht gedacht werden kann; sondern bleiben wir nur allein bei unsrer evangelischen Kirche, welche das theure und reine Evangelium der äußeren Bekenntniß nach annimmt, in der wir also deswegen die wahre Kirche allein noch sichtbar erkennen müssen;; so können wir doch die Augen auf dieselbe nicht wenden, ohne sie nicht sogleich aus Betrübniß und Schaam wieder niederschlagen zu müssen. Denn sehen wir das Leibliche an, so müssen wir bekennen, daß die unsrer Kirche angehörigen Reiche und Lande, alle diejenigen Plagen oftmals erfahren haben, mit welchen nach der Schrift der gerechte Gott seinen Zorn zu bezeugen und anzudeuten pflegt. Ich halte aber solche Trübsal für die Geringste, ja für eine Wohlthat, dadurch Gott noch viele der Seinigen erhalten, und gewehret hat, daß der Schade nicht durch stetes leibliches Wohlergehen noch verzweifelter würde. Aber ungleich schwerer ist das geistliche Elend unsrer Kirche, und vornehmlich aus zwei Ursachen.

Die Eine besteht in den Verfolgungen (Beeinträchtigungen), welche die wahre Lehre, sonderlich von dem antichristischen Babel (Rom) erleiden muss. Nun ist zwar an dem, daß die Verfolgungen nicht weniger ein herrliches Mittel sind, dadurch der Kirche Wachsthum befördert wird, denn wir haben die christliche Kirche von den Zeiten der Apostel her, nie in besserem und vor Gott herrlichherem Stande angetroffen, als unter den grausamsten Verfolgungen, in denen ihr Gold unaufhörlich in dem Schmelzofen gelegen, dessen Flamme keine Schlacken daran wachsen lassen, oder dieselben wenigstens bald verzehret hat. Aber wir sehen zweierlei an den noch gegenwärtigen Verfolgungen, welche uns dieselben betrübter (bedenklicher) machen. Einmal, daß der Teufel, nachdem er erkannt, daß seine gewaltthätigen und blutigen Verfolgungen nichts vermocht, nunmehr klüger geworden ist, und eine andere Art von Verfolgung angefangen hat, die einer Seits durch Drohworte, anderer Seits durch Verheißungenn und Vorstellungen der Welt Herrlichkeit, wenigstens die Kinder und Nachkömmlinge der, der wahren Religion Zugethanen, von der erkannten Wahrheit abzuziehen und wieder zu falscher Religion zu bringen sucht. Diese Art der Verfolgung, wie sie vor Altem von dem heidnische Kaiser Julian2), dem Abtrünnigen, gebraucht worden, ist der Kirche viel gefährlicher gewesen, als in früheren Zeiten die Grausamsten. Also hat sie auch der röm. Pabst bis daher gegen uns zu gebrauchen mehr beliebt, und die seinem Stuhle zugethanen Häupter öfters angefrischt. Dadurch wird mehr Schaden zugefügt, als wenn Feuer und Schwerdt zur Hand genommen worden wären. - Ferner haben die Verfolgungen allezeit dies gewirkt, daß die Christen sich vermehrt, und deswegen das Blut der Märtyrer für die kräftigste Düngung derselben gehalten worden ist, daß die Gläubigen, die vor der Welt unten zu liegen schienen, in Allem gleichwohl überwunden und einen Sieg nach dem andern davon getragen haben; durch die bisherigen Verfolgungen aber hat das römische Pabstthum unterschiedliche Reiche und Provinzen, die entweder ganz die Wahrheit der Lehre erkannt, oder in welchen doch viel guter Saame ausgestreut gewesen, wieder wirklich unter sich gebracht, so daß keine oder wenige Bekenner der evangelischen Wahrheit mehr in denselbigen sind, auch durch das allmähliige Absterben der noch Uebrigen zu seinem Zwecke zu gelangen siehet, und also der äußer Begriff (Umfang) der wahren Kirche immer enger eingespannt wird, seine Grenzen aber sich immer weiter ausbreiten. Daher haben wir über den unglücklichen Fortgang dieser Verfolgungen weit mehr zu klagen und uns zu betrüben, als über dieselben selbst. Denn die Macht, welche Gott dem Gegentheil 3) gegeben, ist uns ein gewisses Zeugniß, daß unsere Kirche sämmtlich nicht in dem Stande stehe, wie sie stehen sollte, und sich also sehr viel Goldes befinde, welches von außen glänzet, aber in dem Schmelzofen die Probe nicht hält.4)

Die andere und vornehmste Ursache des Jammers unsrer Kirche ist, daß es in derselben selbst fast an allen Orten mangelt. Wo ist ein Stand, den wir rühmen könnten also zu stehen, wie die christlichen Regeln fordern?

Zweites Capitel.

Gebrechen des weltlichen Standes.

sehen wir den weltlichen Stand an, und in demselben diejenigen, wleche nach göttlicher Verheißung Pfleger und Säugammen der Kirche sein sollten; ach, wie Wenige sind unter denselben, welche sich erinnern, daß ihnen Gott ihre Scepter und Regimentsstäbe dazu gegeben hat, um ihre Gewalt zu seines Reiches Beförderung zu gebrauchen! Leben nicht vielmehr die allermeisten, was große Herren anlangt, in denjenigen Sünden und allen Weltwollüüsten, welche das Hofleben meistens mit sich führt, und oft als unzertrennlich davon geachtet werden? - Andere Obrigkeiten suchen nur ihren eignen Nutzen; so daß man aus solchem Leben mit Seufzen abnehmen muß, daß Wenige unter denselben wissen, was das Christenthum sei, geschweige, daß sie solches selbst an sich haben und üben sollten? Wie viele sind deren, welche sich um das Geistlich durchaus nicht bekümmern, sondern mit jenem Gallion, Apstgesch. 18, 12-16. dafür halten, es gehe sie Nichts, als das Zeitliche an? Auch unter denen, die sich noch um die Kirche wohl zu verdienen gedenken; wie viel sind wiederum derjenigen, die Alles nur darauf beziehen, daß die hergebrachte Religion möge behalten und vor Eintrag der Falschen verwahrt werden, damit es gleichwohl noch lange nicht ausgemacht ist! Ja, von wie vielen ist zu sorgen, daß der Eifer, den sie für die Religion zeigen, mehr aus Absicht eines politischen Interesse, als aus Liebe der Wahrheit herrühre? Wie undankbar werden ihrer Viele der großen Güte Gottes, welche sie von dem harten Joche der päbstlichen Geistlichkeit befreiet, welches selbst gekrönte Häupter genugsam erfahren haben, und was sie seien ihnen gezeigt hat, daßß sie jetzt ihre Gewalt, die ihnen zur Beförderung, nicht aber Unterdrückung der Kirche gegeben ist, durch eine unverantwortliche Cäsaropapia (weltliche Papstherrschaft) mißbrauchen, und damit muthwillig hindern, wo etwa einige von Gott gerührte Diener der Kirche etwas Gutes zu stiften meinen5). Daher es zu bejammern ist, daß den Gemeinden besser gerathen sei, die zwar in andern Dingen etwas leiden müssen, aber doch in der Uebung dessen, was zur Erbauung dient, nicht eben gehindert werden; als denen, welche durch die Obrigkeit in ihrer Religion mehr Hinderniß, als Förderniß haben6).

1)
Diese Worte soll Polycarp, Bischof von Smyrna - er starb als Märtyrer in der Christenverfolgung im J. 169 - gewöhnlich ausgerufen haben, wenn er an den damaligen traurigen Zustand der christlichen Kirche dachte. So erzählt Irenäus, Bischof von Lyon, st. 209, in einem Briefe an Florinus.
2)
Kaiser Julian war von Jugend auf im Christenthume unterrichtet worden, aber er konnte den Glauben, dessen Bekenner seinen Vater und mehrere Glieder seiner Familie ermordet hatten, nicht lieb gewinnen. Er entsagte später dem Christenthume und ging wieder zum Heidenthume über. als er im Jahre 361 zur Regierung gelangte, suchte er den heidnischen Gottesdienst wieder herzustellen und arbeitete dem Christenthume beharrlich - doch ohne grausam zu sein - entgegen. Um die Prophezeihung Jesu, in Betreff des Tempels zu Jerusalem, nichtig zu machen, erlaubte er den Juden, denselben wieder aufzubauen, der Bau kam indeß nicht zu Stande. - Nach einer kurzen Regierung starb er in einem Kriege gegen die Perser 365.
3)
der Gegenparthei
4)
Wie sehr wir noch immer Ursache haben, in diese Klagen einzustimmen, beweisen zur Genüge die Vorgänge in der neuesten Zeit, besonders in den preußischen Staaten. Im südliichen Deutschland, Baiern, erhebt der Katholicismus immer kühner sein Haupt. Wie würden unsere Vorfahren sich verhalten haben, wenn ihnen angemuthet worden wäre, an katholischen Gebräuchen Theil zu nehmen, wozu die protestantischen Soldaten in Baiern genöthigt wurden? Man vergleiche damit z. B. nur die Vorgänge auf dem Reichstage zu Augsburg 1530. - Wir dürfen nicht glauben, außer aller Gefahr zu leben. Luther sagt: „Die Religion und das Polizeiwesen ist wiederum hergestellt, Aber unsere Undankbarkeit und Sicherheit wird machen, daß wir mit der Zeit wiederum in die alte Gottlosigkeit fallen!“ Vergleiche dessen „kurze Auslegung über den Propheten Jesaias“ nach Walch Theil 6, Seite 623. - Die Sicherheit, in der wir dahin leben, ist leider nur allzugroß; herrschte in unsrer Kirche nicht völliger Schlaf, wäre es dann möglich, daß sich seit der Reformation ihre Grenzen nicht erweitert hätten? - Eine kleine Schrift, die vor einigen Jahren erschien, macht wenigstens darauf aufmerksam, wenn sie auch die Frage nicht genügend beantwortet. „Locke, M. A. G., die vorzüglichsten Ursachen, welche die weitere Ausbreitung der evangelischen Kirche verhindert haben. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. Leipzig, Wilhelm Lauffer 1837, kl. 8. VI. und 96 S.“
5)
Luther: „Auslegung des 31sten Capitels des 1. Buches Mos.,“ nach Walch, 2. Theil Seite 925: „Wir sehen, wie gar unbillig und sschmählich die Obrigkeit und ihre Diener, die Schösser und Amtleute mit den Pfarrherren umgehen, wenn sie sich ihrer Noth und Armuth halber beklagen, alsbald werfen sie ihnen vor und sagen: die Pfaffen sind geizig, und wo einige in den Fürstenhöfen und Städten neue Praktiken erdenken und finden können, die Pfarren zu berauben und die armen Kirchendiener zu vexiren, zu plagen und zu betrüben, dieselbigen werden gelobet von deswegen, daß sie so sparsam sind, und Alles wohl können zu Rathe halten, und solche Gesellen kommen zu großen Ehren nur allein darum, daß sie die Kirchendiener schelten und drücken können.“ - Derselbe, in der „Auslegung einiger Cap. des 5. B. Mos.“ Walch Th. 3. S. 2497. „Man sehe doch nur darauf, wie sich die evangelischen Fürsten jetzt stellen: Wenn man soll einem Dorfpfarrherrn seinen Zehnden undd anderes sein Einkommen reichen, auch die Leute dahin halten, daß sie verdienten Lohn geben, oder ein 30 Gulden zur Besoldung zulegen; so sagen sie, wir sind geizig, es könne die Pfaffen niemand erfüllen.“
6)
Man vergleiche damit die Stelle „theologische Bedenken, vierter Band, S. 202“ woselbst sich Spener also ausspricht: „Fast nirgend sind der Kirche ihre Jura gelassen, sondern das meiste Theil, nemlich der dritte Stand ist davon verdrungen worden. Diese Ursache fürchte ich, sei die Quelle alles Verderbens, und daß unmöglich dabei geholfen werden kann. Und wie solche Ursache bald Anfnags den Grund des Papstthums gelegt, so ist sie bei der Reformation auch nicht gehoben worden, ja gar anstatt des dominatus cleri (Herrschaft der Geistlichkeit), so vor diesem gewesen, meister Orten eine caesaro papia eingeführt worden, daher ob wir wohl durch Gottes Gnade die reine Lehre in solcher Reformation erlangt, ist doch der völlige Zweck der Besserung der Kirche nicht erfolgt.“ - Nicht weniger ist ein Ausspruch Luthers hier anwendbar; in dessen: „Auslegung des ersten Buches Mos.“ nach Walch Theil 1. S. 2115. heißt es: „Lieber Gott, wie ist es doch ein so unbilliig Ding, dieweil alle Reiche der Welt durch das Gebet der Kirche erhalten werden und in Flor stehen, daß gleichwohl die arme Kirche eben von denselben unterdrückt und so jämmerlich mit Füßen getreten wird, welchen sie doch so treulich hilft mit ihrem Gebete; denn allein die Kirche ist es, welcher Gott diesen Fleiß und Sorge befohlen hat, daß sie für die Könige bitten soll, wie St. Paulus vermahnet 1 Timoth. 2, 1-2, und dasselbe darum, daß man Friede, Zucht, gute Ordnung und Sicherheit haben muß, das Wort auszubreiten und eine Kirche durch das Wort zu sammeln.
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