Schlachter, Franz Eugen - Ein Besuch in London

Schlachter, Franz Eugen - Ein Besuch in London

Am Ostermontag des Jahres 1884 feierte der christliche Sängerbund sein erstes Fest in Bern. Während die Gesangschöre und die Zuhörer von allen Seiten in die Stadt strömten, dampfte ich nach England ab. Ich wollte vor der Abreise meine Angehörigen noch grüßen, und wählte deshalb den Weg über Basel. Der Abschied von Weib und Kind fiel mir gar nicht schwer, denn ich hatte damals weder das eine noch das andere. In meiner Vaterstadt wollte ich noch meine lieben Eltern grüßen, die seitdem bald nacheinander eine größere Reise angetreten haben als ich, und zwar beide, ohne sich noch verabschieden zu können; ich sollte auch dort bei einem in England wohlbekannten Herrn noch allerlei Ratschläge einholen für meine Reise.

Um 9 Uhr Abends entführte mich das Dampfross in eiligem Fluge der Heimat. Man glitt wie auf glatter Eisbahn so leicht und gefällig durch den Jura, über die nachmals so traurig berühmt gewordene Birsbrücke bei Mönchstein, ohne Aufenthalt bis Delsberg. Dort wurden unserem Zug die von Bern kommenden Transitwagen angehängt und wieder ohne Aufhalten glitt unser Schnellzug weiter bis zur Grenzstation. Bekanntlich sind für die Reise nach England durchgehende Wagen in Gebrauch. Diese fahren natürlich nicht bis London, aber doch bis zum Meer nach Calais. Aussteigen muss der Reisende nur in Delle. Dort wird man aus den ersten vormitternächtlichen Schlafversuchen aufgeweckt und ins Zollbüro geschickt. Alles Gepäck der Reisenden wird hier aus den Wagen zusammengetragen; wohl oder übel muss mans öffnen; guckt nichts Verdächtiges heraus, so erhält der Koffer eine geheimnisvolle Hieroglyphe in Gestalt eines Kreidestrichs und ist damit für ganz Frankreich von jeder weiteren Zollrevision befreit.

Meine Reisegesellschaft bot mir bald Gelegenheit zu Studien über den Unterschied des englischen und des französischen Charakters. In Basel nahmen mit mir im selben Coupé ein Herr und eine Dame Platz. Den Angelsachsen erkannte man in dem Herrn schon an seiner langen Gestalt und seinem ernsten Gesicht. Das Paar kam von Davos, wo sie zusammen den Winter zugebracht [hatten]; jetzt, in den Frühlingstagen reisten sie in die Heimat zurück. Das erfuhr ich freilich erst am andern Morgen; denn während der ganzen Nacht wechselten wir kein Wort. Der Engländer setzte sich in die eine Ecke des Divans und zog seine Reisekappe tief ins Gesicht hinab, seine Frau nahm die andere Ecke, und ich die dritte in Beschlag. So versuchten wir uns alle drei in derselben Kunst und hätten gewiss darin mehr Erfolg gehabt, hätten nicht einige französische Eindringlinge unsere Anstrengungen vereitelt. Zwei junge Pärchen, die irgendwo über die Ostertage ihr Vergnügen gesucht hatten, erstiegen in Delle unser Coupé um mit dem Nachtzug nach Hause zurückzukehren. Diese zeichneten sich nun nicht, wie die Engländer, durch Schweigen aus, sondern verrieten bald, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Kaum saßen sie im Wagen, so ging ein lebhaftes Kartenspiel los, wobei die Zungen nicht langsamer waren als die Finger. Mein Engländer machte seinem Missbehagen durch lautes Blasen Luft, das wohl auch dem Alkoholgeruch galt, den diese ungeladenen Gäste verbreiteten. Zum Glück dauerte der Besuch nicht allzu lange; der Zug hatte Belfort bald erreicht, wo die jungen Leute uns wieder verließen.

Auf der ganzen weitern Fahrt störten uns nur noch die Eisenbahnbeamten, welche bei jeder Stadt, wo der Zug anhielt, die Chauffpieds wechselten, die in den französischen Wagen die Öfen vertreten. Mit Tagesanbruch rieb ich mir den Schlaf aus den Augen, um die Gegend zu beobachten. Ist das ein flaches Land, dieses Frankreich, wenigstens in den nördlichen Teilen, die wir durchfuhren. Wie eintönig diese weiten, beinahe baumlosen Ebenen, verglichen mit unsern malerischen Landschaften, wo alle paar Schritte wieder ein Hof und alle Viertelstunde ein Weiler oder ein Dörfchen kommt, umrahmt von Tannen oder Buchenwald. Von alle dem erblickte ich in Frankreich nichts, wenigstens nicht in den weiten Strecken, die unser Zug durchschnitt. Da sieht man nur Dörfer und Felder, die letzteren an den Rändern spärlich mit etwas Gebüsch eingefasst.

In Laon machte unser Zug eine kurze Rast, um den Reisenden Zeit zum Frühstücken zu lassen. Ein guter Kaffee löste die Zungen, und ich machte, als wir wieder im Wagen saßen, die ersten Versuche, mit meinen Reisegefährten ein englisches Gespräch anzuknüpfen. Da dieselben auch etwa soviel Deutsch verstanden wie ich Englisch, so machte sich die Sache schon. Sie verstanden, dass mein Reiseziel London sei und mein Interesse vorzugsweise zwei Männern gelte, von denen der eine sich vorübergehend in der Weltstadt aufhielt, der andere schon seit dreißig Jahren daselbst wirkte. Der erstere war der bekannte amerikanische Evangelist Moody, der damals während acht Monaten in London arbeitete, der letztere der noch besser bekannte Pastor der größten Gemeinde der größten Stadt der Erde, C. H. Spurgeon, der anfangs dieses Jahres zu der noch größeren Gemeinde der Erstgeborenen übergegangen ist, die im Himmel angeschrieben sind. Damals, zur Zeit meines Besuchs in London, stand dieser Mann, erst 50 Jahre alt, noch in voller Wirksamkeit. Der Name Spurgeon ist jedem Engländer bekannt. Der große Baptistenprediger war ohne Zweifel der populärste Prediger seines Landes. Das hat ja auch sein Leichenbegräbnis gezeigt; man rechnet, dass ihm etwa 50 bis 60 000 Menschen die letzte Ehre erwiesen. Doch auch Spurgeon hat nicht lauter Ehre geerntet während seines Lebens, und es ist auch besser so; denn es heißt nicht umsonst: „Wehe euch, wenn euch jedermann wohl redet; desgleichen taten ihre Väter den falschen Propheten auch“. Besonders am Anfang und am Ende seiner Wirksamkeit in London hatte er viel zu leiden; am Anfang wegen seines jugendlichen Eifers in der Verkündigung des Evangeliums, in seinen letzten Lebensjahren aber wegen seines entschiedenen Zeugnisses gegen die freisinnige Theologie, welche leider auch in dem sonst so bibelfesten England Eingang gefunden hat. Als Spurgeon durch sein originelles Auftreten auf der Kanzel die allgemeine Aufmerksamkeit in London auf sich zu ziehen begann, da wurden bald allerlei schlechte Witze über ihn in Umlauf gesetzt. Einen solchen erzählte mir auch mein Reisebegleiter, wie ich bald merkte, ein englischer Hochkirchenmann, der als solcher schon nicht zu den intimsten Freunden des freikirchlichen Predigers zählen konnte. Er sagte mir, Spurgeon hätte einst im übertriebenen Eifer um das Seelenheil seiner Zuhörer während einer Predigt folgendes Kunststück verübt. Er sei, um recht anschaulich zu zeigen, wie schnell man auf dem breiten Wege zur Verdammnis fahre, an seiner Kanzeltreppenlehne heruntergeglitten. Ich glaubte dem Mann das nur halb, und als ich einige Wochen später mit etlichen von Spurgeons Studenten zusammentraf, und sie über die Wahrheit des Histörchens befragte, erklärten mir diese, das sei nicht die einzige Verleumdung, die man über ihren Meister ausgestreut habe. Nun, wäre die Anekdote am Ende auch wahr und hätte nie kein Pfarrer etwas schlimmeres getan, als auf so drastische Weise seine Zuhörer vor dem Verlorengehen gewarnt, so könnte man zufrieden sein; jedenfalls wäre das immerhin noch besser, als wenn ein Vorbild der Herde angesichts seiner Pfarrkinder am Jahrmarkt Karussell fährt, um ihnen ein gutes Beispiel zu geben, wie der Christ sich vergnügen soll.

Je mehr wir uns dem Meer näherten, desto erwartungsvoller schlug mein Herz. Das Meer, das Meer, das große, weite Meer hatte mich von früher Jugend an gar sehr interessiert. Als uns ein alter Lehrer einst sagte, wenn wir von Basel aus immerfort dem Rhein entlang liefen, so kämen wir zuletzt ans Meer, dasselbe sei doch nochgerade nicht so unendlich weit entfernt von uns, wie wir Jungens glauben möchten, da hätte ich schon damals gerne den Versuch gemacht. Jetzt konnte die blaue Flut jeden Augenblick auftauchen; wir näherten uns Calais mit großer Geschwindigkeit. Calais ist bekanntlich derjenige Punkt der französischen Küste, welcher England am nächsten liegt, das seinerseits bei Dover seine Arme Frankreich am zärtlichsten entgegenstreckt. Beide Stationen sind getrennt durch den Ärmelkanal, der bei gutem Wetter von den besten Dampfern an jener Stelle in 80 Minuten durchschifft werden kann. Der Kanal, oder, besser gesagt, die Meerenge ist aber trotz der nur geringen Breite doch gefährlich, wenn es stürmt, und da dies nicht selten der Fall ist, so sind spekulative Engländer längst auf den Gedanken verfallen, das Meer an dieser Stelle entweder zu überbrücken, oder aber vermittelst eines Tunnels zu unterführen. Dies wäre natürlich sehr bequem; da brauchte man vollends gar nicht mehr die Wagen zu wechseln; man bestiege in Bern oder Basel das Coupé und führe in demselben bis ins Herz von London hinein. So war es aber vor 8 Jahren noch nicht, und so ist es auch heute noch nicht weder zur Überbrückung noch zur Untertunnelung des Meeres gekommen, - nicht weil dies ein Ding der Unmöglichkeit wäre, der modernen Technik ist ja bald kein Unternehmen mehr zu groß, hat man doch auch schon von der Überbrückung des atlantischen Ozeans gesprochen – nein, aber die Politik erlaubt eine zu gute Verbindung des englischen Inselreiches mit dem Kontinent nicht, und deshalb sind auch alle die wiederholten Konzessionsbegehren der Ingenieure für diese Verkehrsstraße an dem Widerstand des englischen Parlaments abgeprallt, das mit Recht sein vom Schöpfer zur uneinnehmbaren Festung gebautes Land der Invasion französischer Truppen nicht eröffnen will.

Um 11 ½ Uhr Vormittags langte unser Zug in Calais an und fuhr wie bei unsern Seen gleich bis zur Dampfschiffstation, wo der Steamer, wie die Engländer zu den Dampfern sagen, schon vor Anker lag. Doch hatten wir bis 1 Uhr Zeit, uns von der ermüdenden Eisenbahnfahrt bei einem guten Mittagessen zu erholen und nach aufgehobener Tafel bis an den Meeresstrand hinauszuspazieren. Die Dampfer kommen nämlich auf einem kanalartig ins Land hinein angelegten Hafen bis zur Eisenbahnstation; die eigentliche Meeresküste liegt noch etwa zehn Minuten weiter hinaus. Dort aber lag das Meer in seiner ganzen Majestät zum erstenmal vor meinem erstaunten Blick. Ein frischer Seewind wehte von England herüber und erregte die Flut, die sich brandend an der Küste brach. Bis hierher und nicht weiter, hieß es da; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen! Die hohen Berge sind ein unvergleichlicher Schmuck unsers Landes; aber die hohe See hat doch auch ihre Reize, und wer will sagen, welches von beiden der erhabenere Anblick sei?

Freilich, wenn man erst den Wasserschlund betritt, so schweigt zunächst die Poesie. Poseidon verlangt Tribut; das Wasser ist ein gefräßiges Element, und die Fische verhungern nicht, so lange noch kein probates Mittel gegen die Seekrankheit gefunden ist. Ein solches gibt es aber nicht, am wirksamsten wäre vielleicht eine gute Portion fester Wille; allein des Menschen Phantasie ist gar oft stärker als seine Vernunft, und weil man sich einbildet, oder andere es einem sagen, man müsse seekrank werden, so wird man’s in den ersten fünf Minuten schon. So wenigstens ging es mir. Das Schiff hatte den Hafen noch nicht verlassen, als ich bereits fühlte, dass mein Magen nicht mehr auf festen Füßen stand. Man hatte mir für diesen Fall Rum mitgegeben, und so wenig ich sonst auf die Spirituosen halte, hier glaubte ich diese Medizin anwenden zu sollen. Nach meiner Erfahrung könnte ich aber das gerühmte Mittel niemand anempfehlen; denn wenn es auch bewirkte, dass die Krankheit nicht zum Ausbruch kam, so dauerte doch meine Übelkeit dafür nur um so länger, weshalb ich glaube, dass man am besten tut, in solchen Fällen der Natur ihren Lauf zu lassen.

Unser Schiff brauchte des heftigen Gegenwindes wegen zwei Stunden zur Überfahrt. Als ich aus einem kurzen Schlummer erwachte, in den ich trotz der Seekrankheit verfallen war, lag die englische Küste vor mir. Eine weiße Fluh, aus reinster Kreide gebildet, ragt aus dem Meer empor. Oben über der Fluh dehnen sich grüne Wiesen aus, mit freundlichen Landhäusern und Villen besäht; zu ihren Füßen brandet die blaue See. So weit das Auge reicht, zieht sich die weiße Mauer hin, ein natürlicher Schutzwall für das schöne Land. Nur da und dort hat ein Fluss oder Flüsschen sich den Weg ins Meer gebahnt und einen breitern oder schmälern Einschnitt in die Mauer gemacht. Diese Einschnitte aber, welche die natürlichen Tore des Landes bilden, hat die vorsichtige Menschenhand mit Festungen verbarrikadiert. Eine solche Festung ist Dover, wo unser Schiff landen soll. Dort steigen die natürlichen Ringmauern des Landes bis zu 400 Fuß Höhe an, und in einen nur schmalen Terraineinschnitt zwischen die Felsen gebettet, liegt die Stadt. Diese zu betrachten bleibt aber nicht viel Zeit. An der Landungsbrücke steht schon der Schnellzug bereit, der uns in unaufhaltsamem Lauf nach London bringen soll und das um so eiliger, als er durch die Verspätung unsers Dampfers bereits hinter der fahrplanmäßigen Zeit zurück ist. Die nicht unbeträchtliche Strecke zwischen der Hafenstadt und der Hauptstadt des Landes wird in Zeit von zwei Stunden zurückgelegt. So schnell fahren aber bei uns in der Schweiz die Züge nicht, wie hier auf dem nur leicht gewellten Terrain, das vom Meer her nur ganz mäßig ansteigt gegen das Innere des Landes zu. Doch hat man Zeit, die grünen Wiesen zu betrachten, die jetzt – es war Mitte April – schon einen viel üppigern Graswuchs aufweisen als daheim im Kanton Bern. Man fliegt an Gärten vorbei, deren Bäume und Sträucher schon alle grünen; dort sind Schafherden, und jetzt hält unser Zug bei einer Stadt, die den obersten Hirten des Landes beherbergt, nämlich den Erzbischof von Canterbury, der sogar die englische Könige krönen darf. Wir haben aber keine Zeit, den hohen Herrn und seine noch höhere Kathedrale aufzusuchen, denn die Räder unsers Wagens sind schon wieder in Bewegung. Man schaut hin und wieder erwartungsvoll zum Fenster hinaus, ob wohl der Rauch von London sich noch nicht bald sehen lasse; wir sausen aber noch bei mancher Station vorbei, bis endlich zwei große runde Türme sichtbar werden. Das wird wohl der Tower sein, die berühmte alte Londonerburg, welche Julius Cäsar schon gebaut und bewohnt haben soll, und die seitdem so manchem König zur Wohnung, aber auch manchem Prinzen zum Gefängnis diente und die noch heute die Kronjuwelen birgt. Aber nein, wir täuschen uns; ein späterer Augenschein belehrt uns, dass dies die Türme des Krystallpalastes sind. Das ist aber kein Königs-, sondern ein echter Volkspalast, wo zuweilen ein großes Volk von 60 bis 70 000 Menschen zusammen strömt; ein riesenhaftes Gebäude, umgeben von einem riesigen Park, wie man sie in London antrifft. Das Gebäude mit seinen zwei Türmen von 282 Fuß Höhe ist fast nur aus Eisen und Glas gebaut, hat ungefähr 37 Millionen Franken gekostet und wird als Ausstellungshalle, Konzerthalle und als Theater gebraucht oder für irgendwelche Festlichkeiten; auch unser Spurgeon hat dort einmal zu einer an 20 000 Köpfe zählenden Zuhörerschaft gepredigt.

Wir merken jetzt, dass wir bereits auf Londonerboden angekommen sind; denn der Krystallpalast steht in einer der südlichen Vorstädte, namens Sydenham. Hier sind die Häuser noch nicht so eng zusammengebaut wie in der eigentlichen Stadt; jedes Haus hat sein Gärtchen oder seinen Park. Hier wohnen die Kaufleute, die während des Tages sich in der Stadt aufhalten, aber am Abend gerne die raucherfüllte Atmosphäre verlassen, um da draußen in besserer Luft sich zu erholen und zu schlafen. In der eigentlichen Altstadt (City) wohnt fast niemand mehr, sondern dort sind die Häuser bis zum Dach hinauf in Geschäftslokale umgewandelt. Bis unser Zug von der äußersten Vorstadt ins Herz von London hineingefahren ist, vergeht noch eine gute Stunde. Wir fahren das eine Mal über die Häuser weg, das andere Mal hinten durch und das dritte Mal gar wieder tief unter den Häusern. Da geht eine Eisenbahnlinie über unsere Köpfe weg und dort wieder fährt ein Zug unter unserer Linie durch.

Endlich um 6 Uhr Abends ist die Kopfstation der London-Chattam und Dover-Eisenbahn erreicht und wir steigen aus. Ich frage den Condukteur nach dem Weg zu meinen Gastgebern, deren Adresse ich ihm weise: „O“, heißt es, „da hätten Sie auf dem nördlichen Bahnhof aussteigen sollen, hier sind wir im Süden der Stadt.“ Was ist zu tun? Ach da nimmt man ein Cab und fährt noch eine Stunde in der Stadt herum. Das ist auch kein Unglück; so lernt man die Stadt gleich besser kennen, als wenn man sie nur per Eisenbahn durchsaust. Das Cab ist ein zweirädriges Chaischen mit Platz für zwei Passagiere und den Kutscher, der über den Köpfen seiner Fahrgäste in schwindelnder Höhe sitzt. Solcher Vehikels kursieren über 13 000 in der Stadt. Daneben sind noch mindestens 700 Omnibusse im Gebrauch, und schon im Jahre 1882 belief sich die Zahl der Tramways auf 644. Außerdem ist ganz London von einem vielverschlungenen Eisenbahnnetz durchzogen, wie gesagt, unter- und überirdisch; alle fünf Minuten fährt ein Zug. Die Züge tragen den Namen ihrer Endstation vorn an der Lokomotive; da musst du selber wissen, in welchen Zug du einsteigen und wo du auszusteigen hast; es wird nicht ausgerufen.

Als ich so zwischen 6 und 7 Uhr abends zum erstenmal durch Londons Straßen fuhr, da konnte ich nur staunen über die Menschenmenge, die diese Stadt durchflutet. Ich dachte, die Leute kommen von der Arbeit, darum sind so viele auf den Straßen; aber meine Wanderungen in den nächsten Tagen belehrten mich bald, dass man hier zu jeder Tageszeit eine solche Menge antreffen kann und zwar bis 11 Uhr abends. Am belebtesten ist´s natürlich im Innern der Stadt, in der City, die ausschließlich aus Geschäftslokalen besteht. Da sieht man in den Straßen ganze Wälder von Zylindern, denn fast alle Herren tragen hier solche, sowie Glaçehandschuhe. Die Engländer sind ein gut gekleidetes Volk; man muss schon in die schmutzigen Seitengäßchen biegen, um zerlumpte Leute zu sehen; an solchen fehlt es dann dort allerdings nicht. Es könnte aber jemand viele Wochen lang durch die Straßen Londons wandern, ohne etwas zu ahnen von dem schrecklichen Elend, das diese größte Stadt der Erde in ihren Mauern birgt. Ich selbst habe davon erst einen rechten Begriff erhalten, als mich gegen das Ende meines siebenwöchentlichen Aufenthalts ein Stadtmissionar durch eines der verrufensten Quartiere der Stadt führte, an Häusern vorbei, die er mir als wahre Räuberhöhlen schilderte.

Mein Cabman (Kutscher) führte mich aber nur durch fashionable, anständige Straßen und hielt endlich vor einem einfachen, aber netten dreistöckigen Haus. Dies war die Wohnung der Familie Baxter, bei welcher ich Dank freundlicher Empfehlung für die ersten Wochen meines Aufenthalts in der Stadt logieren sollte. Herr Baxter, früher Geistlicher der Church of England, der englischen Staatskirche, ist jetzt Herausgeber eines vielgelesenen religiösen Blattes, des Christian Herald, das wöchentlich in einer Auflage von 200 000 Exemplaren erscheint. Der eigentümliche Mann ist auch in unseren Landen bekannt geworden durch seine Prophezeiungen. Er ist ein apokaliyptischer Forscher und glaubt die Erfüllung der Weissagungen der Offenbarung voraus berechnen zu können. Insbesondere hat er sich durch seine Forschungen über die Person des Antichrists hervorgetan. Er hat mir einen Traktat geschenkt, in welchem er nachzuweisen sucht, dass die Zahl 666 in Offenbarung 13,18 in apokalyptischer Schrift ausgedrückt den Namen Jerome Napoleon ergebe, so dass also dieser Herr der Antichrist wäre. Leider hat das Schicksal dieses Mannes aber die Berechnungen Herrn Baxters nicht bestätigt. Jerome Napoleon ist gestorben ohne in der Geschichte der Welt eine andere Rolle als die eines gewöhnlichen französischen Lebemannes zu spielen. Als dann Boulanger in Frankreich von sich reden machte, sah Herr Baxter sich veranlasst, seine Berechnungen zu revidieren, und siehe da, auch aus diesem Namen ließ sich vermittelst hebräischer und griechischer Buchstaben die Zahl 666 herausdividieren, und es mag dem eitlen General nicht wenig geschmeichelt haben, wenn er erfahren hat, welch bedeutende Rolle ihm der englische Prophet zuwies. Wer nun nach des Generals wenig rühmlichem Ende zum Kandidaten für die Stelle des Antichrists vorgerückt ist, haben wir nicht in Erfahrung bringen können, aber die genannten Ereignisse haben uns aufs Neue bewiesen, wovon wir schon damals überzeugt waren, wie zweifelhaft doch alle Berechnungen auf diesem Gebiete sind.

Ungleich praktischerer Natur sind die Arbeiten der in unsern Kreisen ebenfalls nicht unbekannten Frau Baxter, der ebenso begabten wie frommen Gemahlin des genannten Herrn. Um ihre Arbeit zu verstehen und zu würdigen, muss man sich aber auf englischen Boden versetzen und seine deutschen Vorurteile gegen die Frauentätigkeit auf dem Gebiet der Evangelisation ein wenig bei Seite legen. Frau Baxter arbeitet den ganzen Tag außer dem Hause in einer Anstalt wo Kranke unter Handauflegung und Gebet ohne den Gebrauch natürlicher Mittel auf ihre Heilung warten, ähnlich wie in Hauptweil in Männedorf und im Ried bei Biel. Bei meinem Besuch in London im Jahre 1884 bestand diese Anstalt erst seit kurzer Zeit. Wie ich höre, hat sich das Werk seitdem sehr ausgedehnt und es ist noch eine Missionsanstalt dazugefügt worden, die ganz nach denselben Grundsätzen geleitet wird. Das Haus für die Kranken wird Bethshan genannt und steht im Norden von London. Damals standen noch Herr und Frau Boardman an der Spitze, zwei alte erfahrene Christen, von denen besonders die Frau mir durch ihr nüchternes, gemütliches Wesen einen guten Eindruck machte. Herr Boardmann ist vor einigen Jahren zur Ruhe des Volkes Gottes eingegangen. Jeden Mittwoch Nachmittag werden in Bethsan Versammlungen abgehalten, wobei die Heilung durch den Glauben verkündigt und durch Zeugnisse Geheiligter bestätigt wird. Ich wohnte diesen Versammlungen öfters bei und habe da merkwürdige Dinge gehört. Da war z.B. ein junger Mann, der im letzten Stadium der Schwindsucht in das Haus gekommen war; er wurde geheilt und diente jetzt dem Herrn in dem Hause mit seiner wiedergewonnenen Gesundheit. Ein besonders merkwürdiger Fall ist kürzlich von zwei Berner Herren erzählt worden, die letzten Frühling dasselbe Haus besuchten. Sie trafen dort einen Jüngling, dessen beide Augen längst ausgelaufen waren und der auf das Gebet des Glaubens hin neue Augen erhalten hat.

Doch muss hier gesagt werden, was mir nicht entging, daß nämlich auch in diesem Hause nicht alle Leute geheilt werden. So erinnere ich mich eines blinden Predigers, den ich in Bethshan traf, der meinte, seine Augen müssten geöffnet werden; es geschah aber nicht. Das ist um so beachtenswerter, als es, soviel ich weiß, mit der Theorie der lieben Freunde nicht stimmte, die meinten, wo es nicht am Glauben und nicht an der Heiligung fehle, da müsse die Heilung erfolgen. Ich denke, daß man seitdem auch dort durch die Erfahrung eines andern belehrt worden ist. Ich muss aber hier deutlich betonen, daß in Bethshan keineswegs die Heilung in den Vordergrund gestellt wird, sondern die Heiligung. Die Heilung wird nur als die Folge der Heiligung betrachtet, und so werden auch niemanden die Hände bald aufgelegt. Man wartet, bis daß man überzeugt sein kann, soweit dies Menschen zu erkennen möglich ist, daß der Patient sich unbedingt dem Herrn als seinem Retter von Sünde und seinem Arzt übergeben hat; dann wird der Betreffende in einer Versammlung nach Jakobus 5,14 mit Oel gesalbt, es wird unter Handauflegung speziell für seine Heilung gebetet, und da ist es schon oft geschehen, daß die Krankheit augenblicklich gewichen ist. Die dortigen Freunde haben den Grundsatz, daß sie in der Regel diese Handlung nur einmal vornehmen, wie sie auch Fürbitten nur einmal dem Herrn vortragen, um Ihm dann das weitere gänzlich zu überlassen. Ich habe einmal Herrn Zeller in Männedorf dies erzählt; da sagte er mir: „Elias hat nur einmal gebetet, daß Feuer vom Himmel falle, aber siebenmal um den Regen.“ Es läßt sich also jedenfalls kein bestimmter Grundsatz über das „wie oft“ aufstellen. Die Engländer haben nun einmal die Art, daß sie gerne bestimmte Schablonen verwenden. Wir wollen es ihnen nicht wehren. Es gilt auch hier: Euch geschehe nach eurem Glauben! Und es geschieht.

„London ist die größte Stadt der ganzen Erde“. Die Kenntnis dieses Satzes verdanke ich dem Geographiebüchlein das wir in der untersten Klasse des Gymnasiums auswendig lernen mußten; von der Bedeutung diese Wahrheit erhielt ich aber erst 15 Jahre später einen Begriff, als ich während sieben Wochen Tag für Tag die Stadt zu Fuß, per Bahn und per Omnibus durchkreuzte und doch niemals an ein Ende kam.

Zwar erinnere ich mich noch lebhaft einer roten Laterne, die vor einem Wirtshaus hing im südlichen Teil der Stadt und auf welcher in weißen Buchstaben die Inschrift prangte: The worlds end (der Welt Ende). Hier musste also offenbar in alter Zeit der Markstein der Stadt gestanden haben, die ja für den Engländer den Inbegriff der Welt ausmacht; allein der menschliche Fortschritt hatte den Grenzpfahl längst über den Haufen geworfen, denn jenseits von The worlds end liegt jetzt noch eine halbe Stadt, so daß also die betreffende Schenke nur noch in dem Sinn den bezeichnenden Namen „der Welt Ende“ trägt, als leider nur zu oft die Welt in den Wirtshäusern ein klägliches Ende nimmt, wie auch die Saufbrüder in ihrem beliebten Liede selbst bekennen: „O du lieber Augustin, alles ist hin!“

Schon im Jahre 1881, wo die letzte Volkszählung vor meinem Besuche stattgefunden hatte, zählte man auf den städtischen Gebiet im Durchmesser von 10 Stunden eine Bevölkerung von 4.500.000 Menschen. Laut statistischen Angaben vermehrt sich diese Zahl jährlich um 45.000. London hat also jetzt zusammen mit seinen Vorstädten jedenfalls die 5 Millionen reichlich erreicht, was man übrigens schon im Jahre 1884 behauptete.

Man kann sich kaum eine zutreffende Vorstellung davon machen, welch gewaltige Masse von Nahrungsmitteln zur Erhaltung einer solchen Menschenmenge erforderlich ist. London bedarf jährlich 2 Millionen Malter Weizen, 800.000 Ochsen, 4 Millionen Schafe, Kälber und Schweine, 9 Millionen Stück Geflügel und 130.000 Tonnen Fische. Dazu isst man sehr viele Kartoffeln, und der Verbrauch von Gemüse und vielen andern Dingen läßt sich selbstverständlich gar nicht kontrollieren. Die Preise der Lebensmittel sind bedeutend höher als bei uns; das Fleisch, das einen Hauptbestandteil der Nahrung bildet, kostet mindesten das doppelte. Dafür sind aber Kleider und eine Menge anderer Artikel bedeuten billiger und trotzdem noch besser als bei uns. Zum Kochen und Heizen bedient man sich fast ausschließlich der Steinkohlen, deren England ja unerschöpfliche Vorräte besitzt; Holz wird nur in dünnen Spähnen zum Feueranzünden benützt; es ist sehr teuer; dafür sind die Kohlen um so billiger.

Der Mensch lebt aber nicht vom Brot allein und auch nicht nur von Ochsenfleisch und Fischen etc; darum hat der liebe Gott für die 5 Millionen Londoner auch noch in anderer Weise gesorgt. Kaum werden anderswo größere Anstrengungen gemacht, um das Volk mit dem Worte Gottes zu versorgen, als in dieser Stadt. Du kannst durch keine bedeutendere Straße gehen, ohne nicht wenigstens eine Kirche oder Kapelle anzutreffen, meistens aber sind es deren mehrere. Und doch könnten in den 1.500 Kirchen und Kapellen der Stadt noch kaum ein Zehntel der Bewohner Platz finden, wenn sie es versuchen wollten. Die Straßenpredigt, in London an den Sonntagen eine ganz gewöhnliche Erscheinung, ist also keine überflüssige Einrichtung. Man stelle sich aber nicht vor, daß auf den Straßen Hunderte oder gar Tausende einer solchen Predigt lauschen; gewöhnlich ist es nur eine kleine und wechselnde Zuhörerschaft, welche mit ihrer Aufmerksamkeit den Eifer des Mannes belohnt, der sich mit etlichen Gefährten oder Gefährtinnen an einer Straßenecke aufstellt oder mit oder ohne Harmoniumbegleitung ein Lied zu singen anfängt, um dann den durch den Gesang Herbeigelockten das Evangelium in einfachster Sprache zu verkündigen. Diese Veranstaltung ist natürlich in erster Linie auf die no-church-goers, d.h. auf die unkirchlichen Leute berechnet, denen es in London ganze Massen gibt.

Die Frage, wie man diese Massen erreichen soll, ist für die englischen Christen zu einer der brennendsten geworden. Die Londoner Stadtmission beantwortet dieselbe durch hunderte von Stadtmissionaren, welche ihre segensreiche Tätigkeit bis in die verrufensten Quartiere erstrecken. Während aber die Stadtmissionare mehr den einzelnen verlorenen Schafen nachgehen, werden von anderer Seite Versammlungen veranstaltet, in welchen man gerade jene Leute, die keine Kirche oder Kapelle besuchen, unter den Einfluss des Evangeliums bringt. Solche Evangelisationsversammlungen wurden nun gerade während meiner Anwesenheit in London im Jahre 1884 in großem Maßstabe abgehalten. Man hatte dazu den bekannten Evangelisten Moody mit seinem Solisten Sankey extra von Amerika nach England herüberkommen lassen. Moody hatte schon zweimal vorher in England evangelisiert, im Jahre 1874/75, wo zum erstenmal die Kunde von diesem gesegneten Mann auch zu uns in die Schweiz gedrungen ist und wir zugleich die unvergleichlichen Sankeylieder zu singen begannen, deren Schall seitdem so lieblich in unseren Ohren tönt. Moody arbeitete damals zuerst in Schottland, blieb allein in Edinburg 3 Monate, wo 2.000 Personen seiner Wirksamkeit ihre Bekehrung verdankten und kam dann im Jahre 1875 nach London, wo er in der großen Agricultural Hall, die sonst für landwirtschaftliche Ausstellungen benützt wird und 15.000 Menschen fasst, Abend für Abend eine nie dagewesene Zuhörerschaft vereinigte. Neben den verkommensten Menschen der Metropolis konnte man auch die hochgestelltesten Persönlichkeiten der englischen Nation unter seinen Zuhörern erblicken, so den berühmten Premierminister Gladstone und die Prinzessin von Wales. Im Jahre 1881 stattete Moody wiederum in Begleitung Sankeys, England seinen zweiten Besuch ab, und nun im Jahre 1884 war er zum drittenmal da, diesmal ausschließlich für London, wo er 8 Monate lang arbeitete und zwar unausgesetzt, indem er jeden Tag mit Ausnahme des Samstags, den er grundsätzlich feiert, abends eine Evangelisationsversammlung und nachmittags eine Bibelstunde hielt, während er Sonntags sogar vier mal predigte.

Während meines siebenwöchentlichen Aufenthaltes in London besuchte ich an den Werktagen abends Moodys Versammlungen fleißig. Ich war ja nicht zu meinem Vergnügen nach England gegangen oder nur um die Sehenswürdigkeiten der großen Weltstadt anzustaunen, sondern ich wünschte praktische Studien zu machen für das Werk der Evangelisation, an dem ich in der Heimat stand und angetan zu werden mit Kraft aus der Höhe. War ich doch nicht ganz unerfahren in dem Werk der Evangelisation, sondern ich hatte in den letzten beiden meinem Besuch in England vorausgehenden Jahren dem Herr zu dienen gesucht durch eine fast ununterbrochene Verkündigung des Evangeliums zu Stadt und Land innerhalb des Werkes der Evangelischen Gesellschaft im Kanton Bern. Auch war diese Arbeit nicht vergeblich gewesen; der Heiland hatte sich des unwürdigen Werkzeuges in Gnaden zur Rettung teuer erkaufter Seelen bedient. Gerade die Woche vor meiner Abreise nach England war eine der für mich selbst und für meine Zuhörer gesegnetsten Predigtwochen gewesen, wo ich von Palmsonntag bis Ostern elfmal das Evangelium verkündigen durfte. Aber die Erfolge befriedigten mich um so weniger, als ich in mir selbst einen tiefen Mangel spürte und es ja die Eigentümlichkeit des Menschenfischers ist, daß er nie genug Seelen gewinnen kann. Nun heißt es in den Sprüchen Salomos: „Wer Seelen gewinnt, der ist weise“; ich wollte also zu einem solchen Weisen in die Lehre gehen, von dem ich wußte, daß er die gesegnete Kunst, Seelen für das Lamm Gottes zu werben, besser verstehe, als ich.

Was habe ich nun hier gesehen? In erste Linie ist mir aufgefallen, dass man den Evangelisten nicht allein zappeln ließ, sondern seine Arbeit kräftig unterstützte. Es hatte sich in London eigens zu dem Zweck um Moody herbeizurufen und die für seine Evangelisationsarbeit notwendigen Anordnungen zu treffen, auch die erforderlichen Mittel aufzubringen, ein Comite von etlichen Herren zusammen getan. Die Engländer sind praktische Leute. Sie begnügen sich nicht damit, bloß einen Prediger herbeizuwünschen, um es dann dem Herrn zu überlassen, für die erforderlichen Mittel zu sorgen. Moody ist von keiner Gesellschaft angestellt; er arbeitet frei für den Herrn. Der Herr sorgt für ihn; aber er bedient sich der Menschen hierzu; nur ausnahmsweise lässt er seine Knechte durch Raben ernähren, wie dies bei Elias einmal geschah. Das wissen die Engländer wohl und, man muss es ihnen lassen, sie sind nobel in der Fürsorge für die Diener des Herrn. Sie lassen sich ihre Religion etwas kosten, denn sie gehen von dem Grundsatz aus: Was nichts kosten ist nichts wert. Sie habens auch, sagt man; aber eben, weil sie geben, darum haben sie auch.

Nun höre man, was diese Leute taten. Trotzdem es in London, wie gesagt, so viele Kirchen, Kapellen und Hallen gibt, die man für Versammlungen benützen könnte, ließen diese Herren doch extra für Moodys Versammlungen zwei große transportable eiserne Hallen erbauen, in dener jeder 5.000 Menschen bequem Platz finden konnten. Während nun Moody in der einen Halle 3 Wochen lang täglich seine Versammlungen abhielt, wurde die andere Halle in einem andern Stadtteil aufgerichtet, so dass er nach Verfluß von 5 Wochen ohne Unterbrechung einfach dort weiterfahren konnte. Dann wurde jene erste Halle wieder abgebrochen und anderswo aufgebaut und so kam´s, dass Moody im Stande war, 8 Monate lang ohne Unterbrechung sein Evangelisationswerk zu betreiben. Ich erinnere mich heute nun nicht mehr genau, wie viel diese Hallen gekosten haben, nur weiß ich noch, dass die Summe in die Hunderttausende ging. Dazu kam dann noch der Mietzins für den Grund und Boden, auf welchem man die Hallen errichtete. Wenn im Innern der Stadt der Quadratfuß über 600 Franken kostet, so wird der Bodenzins für ein derartiges Gebäude auch keine Kleinigkeit betragen. An alle diese Kosten wurde aber von den Besuchern der Versammlung kein Rappen verlangt. Während sonst in allen englischen Gottesdiensten ganz tüchtig kollektiert wird, hatte man hier nicht einmal eine Büchse aufgestellt. Dies war eine so ungewöhnliche Erscheinung, daß Moody seine Zuhörer einmal besonders darauf hinwies, als auf einen Beweis, daß die Veranstalter dieser Versammlungen von der Liebe Christi getrieben seien. „Satan ever gets, he never gives, d.h. Satan nimmt immer, er gibt nie!” rief er aus und stampfte dabei tüchtig auf den Boden seiner Kanzel; „da könnt ihr also sehen, daß diese Sache nicht von Satan kommt, sondern von Gott.“

Wie ging es denn in diesen Versammlungen zu? Wir kommen eines Abends um 7 Uhr zu der Halle, die jetzt, in der ersten Zeit unsers Aufenthalts in der Stadt, im Norden von London aufgestellt ist, auf einem noch unbebauten Terrain. Wir haben den Platz von unserer Wohnung aus mit dem Tram in einer dreiviertelstündigen Fahrt erreicht; andere langen mit den Zügen an, denn es stellen sich Besucher aus allen Stadtteilen ein. Vor der Halle sind einige Verkaufsbuden aufgestellt, wo vorzugsweise Moodys Schriften zu haben sind. Die anno 75 in deutscher Sprache erschienenen 12 Reden, welche mit so großem Interesse überall gelesen wurden und die wir für das Beste halten, was uns in dieser Art zu Gesicht gekommen ist, sind längst durch eine ganze Reihe von Bändchen neuern Datums vermehrt. Es existiert schon eine ganz respektable Moody-Bibliothek. Die Engländer und Amerikaner verkennen die Macht des gedruckten Wortes neben dem gepredigten nicht und halten es nicht für Zeitverschwendung, christlich Bücher zu schreiben. Wir nehmen uns als Kram die beiden neu erschienenen Büchlein „Allmächtige Gnade“ und „Kraft aus der Höhe“ mit, von denen das letztere seitdem in deutscher Sprache herausgegeben worden ist. Das Moody und Sankey Singbuch haben wir schon beim ersten Besuch dieser Versammlungen gekauft, denn wir lieben es nicht in einem Gottesdienst zu sitzen wie ein stummer Fisch. Hier ist aber auch dafür gesorgt, daß jeder sich das in diesen Versammlungen gebrauchte Singbuch anschaffen kann. Es ist nämlich in den verschiedensten Ausgaben zu haben und in der kleinsten, ohne Noten, schon zu einem Penny (10Cts) erhältlich, obgleich es 441 verschiedene Lieder enthält. Wir haben eine mit Noten versehene Ausgabe vorgezogen und eine solche in bequemem Taschenformat in weichem Leinwandeinband zu 2 Schilling (Fr. 2,50) erhalten.

Wir kommen zum Eingang der Halle. Es ist noch früh, und doch drängen sich schon viele Leute herbei. Ein Mann mit schwarzem Helm, in welchem wir einen Londoner Polizisten erkennen, steht Wache an der Tür und fordert mit der diesen Leuten eigenen Höflichkeit uns die Eintrittskarte ab. „Please your ticket, gefälligst ihr Billet“, bittet er. Unsere Gastgeber haben uns zum Glück ein solches besorgt, das uns den Eintritt zu allen diesen Versammlungen gestattet; sonst lauten die Eintrittskarten in der Regel nur auf einen bestimmten Abend. Aber wozu in aller Welt sind für Evangelisationsversammlungen Eintrittskarten erforderlich und Polizei? Muss man nicht froh sein, wenn die Leute überhaupt kommen und ists am Ende nicht ganz sauber, dass ein Landjäger dabei sein muss? Nur keine Angst, der Landjäger nimmt dich nicht [mit] und die Eintrittskarten erhältst du umsonst; die ganze Einrichtung ist nur der guten Ordnung wegen da. Jede öffentliche Versammlung steht in England unter dem Schutz der Polizei, die religiösen Versammlungen nicht zuletzt, ja die Londoner Polizisten finden sich besonders gerne bei solchen ein, denn sie sind samt und sonders Gentlemen und überdies sind manche von Ihnen von Herzen fromm. Der Polizist an der Türe wäre eigentlich nicht einmal verpflichtet, die Eintrittskarten zu kontrollieren, das tut er nur aus Gefälligkeit, denn er hat ein Interesse für die Evangelisation, da er genugsam sieht, wie notwendig, solche Rettungsarbeit für die gottentfremdeten Massen Londons ist.

Was aber die Eintrittskarten betrifft, so ist der Zudrang zu Moodys Versammlungen eben so groß, dass immer eine Menge Leute keinen Platz mehr finden können, obschon die Halle, wie gesagt, 5.000 Personen fasst. Da muss also eine Einrichtung getroffen werden, dass nicht jeden Abend dieselben Leute hinein kommen und andere gar nie, deshalb gibt man Karten aus, die auf einen bestimmten Abend lauten. Diese Karten werden nun von einem ganzen Heer freiwilliger Mitarbeiter, die Moody überall aufruft, wo er hinkommt, in den Häusern verteilt und zwar in erster Linie an solche Leute, auf die man’s bei der Evangelisation abgesehen hat, an die Unkirchlichen. Diesen speziell Eingeladenen werden in der Halle die besten Plätze reserviert. Gerade vor der Kanzel, oder eigentlich Rednertribüne, ist ein großes Viereck durch Schnüre vom übrigen Raum für sie abgegrenzt. Dies ist eine sehr praktische Einrichtung, welche es verhütet, dass der Arbeiterbevölkerung, die ja nicht so früh zur Stelle sein kann, der beste Platz weggenommen wird.

Auf den vordersten Bänken sehen wir Leute in roten Röcken; das sind Soldaten, welchen man eine ganz besondere Aufmerksamkeit schenkt. In England ist ja bekanntlich der Soldatenstand ein besonderer Beruf; und diese Soldaten sind in der Regel keine frommen Leute; man weiß ja welche Gattung Leute es sind, die Handgeld nehmen. Nun gibt es aber in England vornehme christliche Damen, die sich nicht schämen, gerade diesen Soldaten das Evangelium zu bringen, während wieder andere vorzugsweise unter den Eisenbahnangestellten missionieren und noch andere untern den Polizisten. Für alle diese Berufsklassen werden von solchen Damen besondere Versammlungen abgehalten. Dias erscheint uns höchst sonderbar; aber man muss wissen, dass der Engländer eine große Achtung vor dem weiblichen Geschlechte hat und das Evangelium lieber von einer Frau annimmt, als von einem Mann. Natürlich muss man sich nicht denken, als würden diese Damen geradezu predigen; nein, sie suchen diese Angestellten einzeln auf, interessieren sich für dieselben und für ihre Familien, halten aber allerdings auch Versammlungen mit ihnen ab. Solche Damen brachten nun ihre Schützlinge auch in Moodys Versammlungen mit, sorgten ihnen für Eintrittskarten und Singbüchlein und redeten am Schlusse ein freundliches Wort mit ihnen. Moody selbst schenkte den Soldaten besondere Aufmerksamkeit; oft redet er sie in seinen Ansprachen direkt mit „ye soldiers“ (Ihr Soldaten) an. Man wurde ordentlich an Johannes den Täufer, den großen Bußprediger in der Wüste erinnert, zu dem auch die Kriegsknechte kamen.

Eine besondere Spezialität in diesen Versammlungen waren auch die Mütter, die mit ihren Säuglingen auf den Armen erschienen. Überhaupt ist es nichts ungewöhnliches in England, daß der Gottesdienst durch das Schreien kleiner Kinder belebt wird. Die englischen Christen gehen Familienweise zur Kirche und Kapelle. Der Hausvater mietet einen Kirchenstuhl, worin er mit all den Seinigen Platz finden kann; die Plätze werden nämlich in den Kirchen und Kapellen bezahlt, nur für besondere Gottesdienst, wie jetzt bei Moody, sind sie frei. Also die Mütter kamen auch mit ihren Säuglingen zu Moodys Versammlungen und zwar nicht nur um 3 Uhr, sondern auch 8 Uhr Abends noch. Moody hatte nichts dagegen; nein, er sagte oft: „Ich sehe diese Mütter mit ihren Kindern gerne kommen“. Um aber den Müttern eine ungestörte Teilnahme an der Versammlung zu ermöglichen, was tat man? Da gaben sich eine ganze Anzahl junger Damen dazu her, den Müttern während der Versammlung die Kinder in einem anstoßenden Lokal zu pflegen. Wie viele Mütter kommen bei uns jahraus, jahrein in keine Predigt; die gute (?) Sitte verbietet ihnen, die Kinder mitzunehmen; wer gäbe sich dazu her, solch einer Mutter am Sonntag während einer Stunde hie und da ihr Kind zu hüten?

Wir sind bald nach 7 Uhr in die Halle getreten, obschon die Versammlung erst um 8 Uhr beginnen soll. Wir verstehen eben nicht so gut Englisch, um auch mit einem der hintersten Sitze vorlieb nehmen zu können, und der Amerikaner spricht ohnehin sehr rasch und undeutlich für unser ungeübtes Ohr. Das Gebäude bildet ein Quadrat. Der ganzen hinteren Seite entlang zieht sich eine Plattform hin. Dort sitzt der Chor und, soweit noch Raum ist, auch Zuhörer. Vor der Plattform in der Mitte, in gleicher Höhe, die Kanzel, eine einfache viereckige Konstruktion aus Holz mit einem Geländer, das aber den Prediger nicht verdeckt. Es ist dies die amerikanische Kanzelform, wobei der ganze Mann sichtbar bleibt. Die Kanzel ist noch leer, aber der Chor ist schon zur Stelle und singt ein Lied ums andere, während sich die Halle füllt. Man hat mir oft gesagt, in England höre man keinen schönen Gesang. Das hat seine Richtigkeit, soweit es die Kirchen betrifft, wo man nur altmodische Lieder singt und keine so mächtigen Choräle wie bei uns. Aber die Sankey-Lieder habe ich doch bei weitem nirgends so gut singen hören wie in diesen Versammlungen in London. Für das rasche, lebhafte Temperament der Engländer sind sie eben wie gemacht. Und dann singen diese Leute im Bewusstsein, daß sie ihren Zuhörern das Evangelium ins Herz hinein singen sollen; es ist denn auch gar nicht selten, daß Seelen durch das bloße Anhören dieser Lieder erweckt werden und das angebotene Heil ergreifen. So soll das Lied; „Jesus von Nazareth geht vorbei“ von besonders mächtiger Wirkung sein. So bekannte in einer Versammlung ein junger Mann: „Dass ich einen Heiland bedürfe, habe ich zum erstenmal gefühlt, während Herr Sankey sang: „Jesus von Nazareth geht vorbei“. Und als er zu der Stelle kam: „Zu spät, zu spät, o ernster Schrei, Jesus von Nazareth g i n g vorbei“, da beschloss ich bei mir selbst, es dürfe für mich nicht zu spät werden und ich nahm in jenem Augenblick den Heiland auf in mein Herz.“ Sankey leitet den Chor nicht selbst, sondern ein anderer Herr. Er selbst singt nur Solos, zuweilen auch in Begleitung anderer Stimmen. Bei ihm ist aber nicht der Wohlklang der Stimme die Hauptsache, er bietet keinen Ohrenschmaus, sondern er singt das Evangelium und zwar so deutlich, daß man in der großen Halle jedes Wort verstehen kann. Auch andere Herren und Damen trugen Quartett- und Sologesänge vor; unter den letzteren zeichnete sich besonders eine Lady Radstock, die Tochter des bekannten Lord Radstock, durch ihren prachtvollen Sopran aus.

Während des Gesangs betritt Moody kurz vor 8 Uhr die Plattform. Er ist ein kurzer, wohlbeleibter Mann von untersetzter Statur, mit dunklem Vollbart, der den kurzen Hals so verdeckt, daß der Kopf unmittelbar auf der Schulter zu sitzen scheint wie bei Luther. Mit Feldherrnblick übersieht er die Situation. Schon ist alles angefüllt; aber immer noch drängen sich Scharen an der Tür, im Rücken der Versammlung. Der Eintritt ist nämlich durch eine Tür gestattet, während die Entleerung des Gebäudes durch verschiedene Türen erfolgt. Die Nachzügler werden von 8 Uhr an nicht mehr jederzeit eingelassen, sondern nur während des Gemeindegesanges. Moody gibt selbst durch Drücken auf einen elektrischen Knopf den Türhütern das Zeichen, wann sie öffnen müssen. So wird verhütet, daß nicht wie bei uns, Gebet, Bibellesen und Predigt durch verspätete Ankömmlinge gestört wird.

Doch erinnere ich mich auch einer Störung eigentümlicher Art. Ein Betrunkener hatte den Weg in die Versammlung gefunden. Während nun Moody redete, fiel ihm jener plötzlich ins Wort. Moody sprach gerade über den Text: „Was der Mensch säet, das wir er ernten.“ Die Kundgebung des Betrunkenen veranlasste ihn nun, gerade diesen als Beispiel zu nehmen für die Wahrheit seines Textes. er zeigte, wie ein Trinker oft in seinen eigenen Kindern wieder ernte, was er gesät hat. Dann fügte er den Wunsch bei: „I wish, all the whisky should be in the Thames, and all the publicans in the kingdom of God, d.h. Wäre doch nur aller Schnaps in der Themse (den Fluss, der durch London fließt) und alle Wirte im Reiche Gottes!” Bei dieser treffenden Bemerkung brach ein Gelächter aus, und die Versammlung klatschte Beifall, was in England nichts ungewöhnliches ist. Moody verbot sich aber diese Beifallsbezeugung, indem er sagte: „Lasst das bleiben, ein Trunkenbold wird nicht durch Klatschen gerettet!“

Moodys Reden sind kurz, voll treffender Bemerkungen obiger Art und sind gewürzt mit Geschichten und Anekdoten, die er selbst erlebt oder doch gesammelt hat. Er macht sich nichts daraus, wo er hinkommt, immer wieder dieselben Beispiele zu erzählen. Er hat einen Zyklus von Vorträgen, den er beständig wiederholt. Jeden Abend redet er über ein bestimmtes Thema, wie z.B. über das Gewissen, über Buße, Vergebung, Widergeburt; die Rede über Säen und Ernten wollen wir später mitteilen, da sie noch nirgends in deutscher Übersetzung erschienen ist. Es sind zwei Bändchen von Moodys Reden in deutscher Übersetzung herausgekommen: „Zwölf Reden“ und „Der Weg zu Gott“. Man kann kaum eine volkstümlichere Art der Verkündigung des Evangeliums finden. Obgleich Moody kein gebildeter Theologe ist, sondern ein Mann aus dem Volk, der allmählich vom Sonntagsschullehrer zum Prediger wurde, und jetzt eine der größten Gemeinden in Chicago hat, so sind doch seine Reden voll wahrer Theologie. Der Mann ist in der Bibel zu Hause und weiß, was er glaubt. Alle Schriftlehren finden sich bei ihm in lebendiger, praktischer Form ausgedrückt. Wie lieb ihm die Bibel ist, hat er bei dem großen Brand von Chicago im Oktober 1871 bewiesen. Damals verbrannte sein Haus, das ihm seine Freunde geschenkt hatten, und seine Kapelle. Ein Freund fragte ihn Tags darauf, ob er alles verloren habe. „Alles“, antwortete er, „nur meinem guten Namen und meine Bibel nicht.“ Seine Frau hatte ihn in der Eile ermahnt, sein Portrait zu retten. „Das würde sich schön ausnehmen, wenn ich mein eigenes Bild durch die Straßen tragen wollte“, erwiderte er, nahm seine Bibel unter den Arm und entfloh aus dem brennenden Haus. Später sagte er einmal, er würde diese Bibel nicht für 10.000 Dollars hergeben. Sie ist voller Randglossen, Parallelstellen und Notizen, die er selbst hineingezeichnet hat und die ihm beim Predigen gute Dienste leisten. Er hat sich in seine Röcke eine besondere Tasche machen lassen, um diese Bibel immer bei sich zu tragen.

Wenige Minuten nach 9 Uhr pflegt Moody seine Rede abzubrechen, um zum zweiten Teil seiner Arbeit überzugehen, nämlich das in der Predigt ausgeworfene Netz zu ziehen. Er bittet die ganze Versammlung, betend das Haupt zu neigen; man betet in England in den Versammlungen sitzend (nur in der Staatskirche und bei den Methodisten kniend) und singt meist stehend. Während nun alle betend das Haupt neigen und eine große Stille entsteht, bleibt Moody auf seinem Posten und bittet diejenigen aufzustehen, die, wie er sich ausdrückt, „Christen werden wollen.“ Nun stehen einige auf. Moody zählt sie laut 1,2,3 usw., bis ihre Zahl 200 oder mehr erreicht hat. Er bittet alle anwesenden Christen, für diese still zu flehen. Dabei ermutigt er fortwährend zum Aufstehen: „Wer will ein Christ werden? Steht unverzüglich auf! Schämt euch nicht!“ Diese Rufe hört man während dieser Zeit beständig ertönen. Endlich, wenn die Zahl voll ist, ersucht Moody einen der immer anwesenden Prediger für die Aufgestandenen zu beten. Zuweilen werden auch Gebetsanliegen vorgebracht. Eine Mutter ruft: „Für einen Sohn!“ Eine andere: „Für eine Tochter“! Wieder jemand anders: „Für einen Freund, eine Freundin!“ – soll man beten. Es sind feierliche Momente, und alles geht so ungezwungen, es fällt niemanden ein, zu lachen oder zu kritisieren.

Nachdem nun gebetet ist, läßt Moody alles aufstehen zum Gesang und bittet alle diejenigen, die Christen werden wollen, in den Sprechsaal hinüber zu gehen, der von der Predigthalle durch eine Wand abgetrennt, an dieselbe stößt. Dort wird dann während die große Versammlung entlassen wird, noch die Hauptarbeit getan. Es sind nämlich eine ganze Anzahl freiwilliger Mitarbeiter da, die im Sprechsaal mit den einzelnen Seelen reden und beten. Die schwierigeren Fälle werden Moody selbst zugewiesen. So kommen an einem Abend oft Hunderte zu einer seelsorgerlichen Unterredung und viele Seelen werden auf diese Weise dem Heiland zugeführt. Es läßt sich wohl denken, welche Überwindung es manchen Mann kosten mag, vor den Augen seiner Kameraden aufzustehen und in den Sprechsaal hinüberzugehen und auf diese Weise seinen Entschluss zu bekennen, daß er sich bekehren will. Aber eben dieses offene Bekenntnis will Moody den Leuten nicht ersparen, weil er aus Erfahrung weiß, was für ein Segen darauf liegt.

Zum Beweis dafür, wie notwendig und gesegnet diese Besprechungen sind, wollen wir hier aus vielen nur ein Beispiel erwähnen, das Moody selbst erzählt hat:

„Während ich in einer amerikanischen Stadt predigte, kam am Schluss der Abendversammlung ein gutgekleideter Mann zu mir mit traurigem Gesicht. Um die Ursache seiner Traurigkeit befragt, antwortete er mir: „Ich bin leider ein Betrüger. Ich habe Geld unterschlagen, das meinen Prinzipalen gehört. Wie kann ich Christ werden, ohne es wieder zu erstatten?“

„Besitzen Sie das Geld noch? fragte ich ihn.

„Nicht mehr alles“, sagte er. „Ich habe 1.500 Dollar genommen, davon sind noch 900 übrig. Könnte ich nicht versuchen, mit diesen 900 Dollars zu handeln, um das Fehlende wieder zu gewinnen, damit ich dann die ganze Summe zurückbezahlen könnte?“

Ich erklärte ihm dieser Gedanke sei ein Betrug des Satans. Er könne nicht erwarten, mit gestohlenem Gelde gute Geschäfte zu machen, sondern er müsse sofort hingehen und das zurückgeben, was er noch habe, und Gott und seine Prinzipalen um Verzeihung bitten.

„Dann lassen mich meine Prinzipale einstecken,“ antwortete er. „Gibt es keinen anderen Ausweg?“

„Nein, Sie müssen zuerst das Gestohlene zurückgeben, ehe sie irgendwelche Hilfe von Gott erwarten können.“

„Das ist sehr hart,“ seufzte er.

„Ja, es ist hart, aber Sie haben es sich selbst zuzuschreiben.“

Der Mann verließ mich nach dieser Unterredung mit schwerem Herzen und traurigem Gesicht. Seine Bürde wurde ihm unerträglich.

Mehrere Tage vergingen. Da kommt er eines Abends in den Sprechsaal und legt ein Couvert in meine Hand, worin sich 950 Dollars und etliche Cents bestanden – seine ganze Barschaft. Er ersuchte mich, das Geld seinen Prinzipalen auszuhändigen, er dürfe nicht selber vor sie treten. So begaben wir uns am anderen Morgen zusammen in das Geschäft. Er wartete vor dem Bureau draußen, während ich hineinging und den Herren das Geld auf den Tisch legte mit der Erklärung, daß es von einem ihrer Angestellten komme. Ich erzählte ihnen die Geschichte und bat, sie möchten Gnade walten lassen, nicht Gerechtigkeit. Tränen rollten über die Wangen der beiden Herren, als sie das vernahmen. „Vergeben sollen wir Ihm?“ sagten sie. „Das wollen wir gerne tun!“ Ich ging hinaus und holte den Angestellten herein. Nachdem er seine Schuld gestanden und Vergebung erhalten hatte, knieten wir im Bureau alle nieder und hatten eine gesegnete Gebetsversammlung. Der Herr war unter uns, und dieses Mannes Buße brachte gute Frucht.

Eine Spezialität der großen Stadt sind ihre dichten Nebel. Wir in Biel wissen zwar auch, was Nebel ist, und beneiden Euch Bewohner der sonnigen Jurahöhen, der holden Emmentalerberge und der lichtumflossenen Oberländeralpen um den goldenen Sonnenschein, der in diesen spätherbstlichen Tagen und während des Winters nur ausnahmsweise die düstere Wolke zu durchbrechen vermag, welche unser Seeland überschattet. Aber was ist ein Bieler Nebel verglichen mit einem Londoner Fog? Sonst sind alle Nebel grau, zuweilen sogar mäßig weiß; der echte Londoner Nebel aber ist schwarz wie ein Kohlensack. [Das] kommt auch wirklich daher, daß es in dieser Stadt so viele Kohlensäcke gibt. Lagert sich da der Nebel tagelang über den Häusern und ist so dicht, daß kein Rauch in die Höhe steigen kann, wen wunderts, daß er sich zuerst in ein schmieriges Gelb und schließlich in eine ägyptische Finsternis verwandelt, die man mit Händen greifen kann? Dieser Nebel ist buchstäblich finsterer als bei uns eine stichsackdunkle Neumondsnacht. Man kann am Fuß einer brennenden Straßenlaterne stehen und ist nicht im Stande, das Licht zu sehen; man sieht nicht von einem Haus zum andern über die Straße weg; ja du vermagst vom Fenster deines Zimmers aus nicht einen einzigen Gegenstand auf der Straße zu unterscheiden, du siehst die Strasse selbst nicht einmal, nur Finsternis. Und das nicht etwa bloß des nachts, sondern am „heiterhellen“ Tag. Ich hätte es auch nicht geglaubt, wäre mir nicht beschieden gewesen, an einem Apriltage, näher beim Mai als beim März, um 12 Uhr mittags beim Gaslicht schreiben zu müssen.

Der Unkundige wagt sich an solchen Tagen nicht zum Haus hinaus. Selbst Leuten, die ihren Weg genau kennen, ist´s vorgekommen, daß sie bloß hundert Schritte von ihrem Haus entfernt vom Nebel überfallen, die eigene Haustür nicht mehr finden konnten. Das ist kein Spaß, dem der Londoner Nebel ist der Diebe und Räuber Element, wie´s im 104. Psalm heißt: „Du machst Finsternis und es wird Nacht, da regen sich alle wilden Tiere.“ An wilden Tieren, die nach dem Raube brüllen oder doch schleichen fehlt´s nämlich in der großen Weltstadt, am Mittelpunkt der Zivilisation keineswegs. Man sieht sie nicht bloß im zoologischen Garten, wo sie hinter Schloss und Riegel sind, sondern die gefährlichsten sind die, die man nicht sieht, denn sie verlassen ihre Höhlen nur des Nachts.

Es gibt eben in London nicht nur eine Nacht und Finsternis, die von den schwarzen Nebeln herrührt, sondern die Obrigkeit der Finsternis (Kol 1,13) entfaltet hier eine ganz bedeutende Macht. Die Menschen, welche nur vom Laster und vom Diebstahl leben, zählen hier nach Tausenden und Zehntausenden. Wir wollen da nicht detaillieren; denn was heimlich von ihnen geschieht, ist schändlich, auch nur zu sagen; wer sich für Genaueres interessiert, lese Otto Funkes Buch: „Englische Bilder in deutscher Beleuchtung“; dort insbesondere den Abschnitt: „Die Schandquartiere der Millionenstadt.“ Noch genauer wird man sich über die traurigen Verhältnisse aus dem Buche des „General“ Booth orientieren können: „Im dunkelsten England.“ Genug, daß wir wissen, es ist eine so schauerliche Finsternis vorhanden, die auch die allerenergischsten Versuche, das Licht hineinzubringen, begreiflich macht. Wer die Anstrengungen der englischen Christen, um jeden Preis Licht in das finstere Chaos zu bringen, als „Überspanntheit“ belächelt, kennt eben die Macht der Finsternis nicht, die so „exzentrische“ Bemühungen nötig macht.

Gott sei Dank: „Das Licht scheint in der Finsternis;“ und nicht vergeblich: „denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht leuchtet schon.“ Wir haben in der letzten Nummer von einer Beleuchtungsanstalt berichtet, die während unseres Besuches in London trefflich funktionierte – von Moodys Evangelisationsarbeit. Moody ist aber doch am Ende nur eine Art Komet gewesen, der am Londoner Himmel plötzlich auftauchte, um ziemlich rasch wieder zu verschwinden. So erfolgreich und nachhaltig auch sein kurzes Wirken war, so wird es doch weit übertroffen durch die Wirksamkeit eines anderen Mannes, der während 40 Jahren als ein Stern erster Größe in Londons Finsternis hineingeleuchtet hat. – wir meinen Spurgeon (sprich: Spörtschen). „Er war ein brennendes und scheinendes Licht,“ wie Jesus von Johannes dem Täufer sagt, nur länger wirksam als dieser; auch ein Täufer zwar, aber nicht einer, der auf das Wasser als auf das Heilmittel, sondern wie Johannes auf das Lamm Gottes wies, das der Welt Sünde wegnimmt.

Diesen Mann einmal selbst zu hören, dessen gedruckte Predigten mir schon soviel Gewinn gebracht, war längst mein Verlangen gewesen. Kein Wunder also, daß ich gleich am ersten Sonntag meines Aufenthaltes in London den Weg nach dem „Tabernakel“ unter die Füße nahm. Es war freilich ein weiter Weg. Ich wohnte im Norden der Stadt und das Tabernakel liegt im Süden. Spurgeon, der praktische Mann, hat aber gleich beim Bau dieser seiner Kapelle im Jahre 1860 dafür gesorgt, daß dieselbe von allen Seiten der großen Stadt her leicht zu erreichen ist; er baute sie nämlich ganz in die Nähe einer Hauptstation, wo Eisenbahnen, Omnibusse und Tramlinien sich kreuzen, und die den originellen Namen „Elephant und Castle“ trägt. Wer also zu Spurgeon will, muss nur in einen Omnibus springen, der zum Elephant fährt. Wer aber etwa nicht weiß, wie weit er zu fahren hat, braucht dem Kondukteur nur zu sagen: „Zu Spurgeon“, worauf dieser alsbald verständnissinnig lächelt; denn der große Prediger ist stadtbekannt und überdies bei dem Volk beliebt.

Das Tabernakel steht an einer breiten und belebten Hauptstrasse, doch so, daß es von derselben durch einen geräumigen Vorhof mit eisernem Gitter abgegrenzt ist. Einer Kirche nach unseren Begriffen gleicht es nicht, eher einem Theater oder einem altgriechischen Tempel. Eine Halle, von sechs korinthischen Säulen getragen, bildet die Front. Die großen Fenster sind von gewöhnlichem Glas, nur zur Erhellung des gewaltigen Raumes berechnet, nicht zum Schmuck. Nach außen ein längliches Viereck bildend, ist das Gebäude inwendig oval, so daß in den Ecken die breiten Galerietreppen außerhalb des Predigtsaales angebracht werden konnten. Zwei Galerien übereinander laufen inwendig um das ganze Haus herum. Die Bänke auf denselben sind so gestellt, daß jeder Zuhörer den Prediger sehen kann, d.h. sie sind amphietheatralisch hintereinander aufgeschichtet. Eine Kanzel ist nicht vorhanden, sondern im hinteren Teil des Gebäudes springt die erste Galerie in einem Halbkreis terrassenförmig vor; so steht der Prediger an dem eisernen Geländer neben ihm ein kleines Tischchen auf dem die Bibel liegt und die Uhr. Hinter ihm im Halbkreis sitzen auf gepolsterten Stühlen die Ältesten der Gemeinde, ehrwürdige, meist ergraute Männer, die niemals durch Abwesenheit glänzen, wie gewisse Kirchenvorsteher anderwärts. Unterhalb dieser Plattform befindet sich noch eine niedrigere, wo die größeren Kinder aus Spurgeons Waisenanstalt sitzen und außerdem ein Schreiber, der jedes vom Prediger gesprochene Wort stenographisch niederschreibt. Daraus werden dann die gedruckten Predigten, die nun seit 38 Jahren wöchentlich in ununterbrochener Reihenfolge erschienen sind. Ihre Zahl beläuft sich bereits auf 2.300; es sollen aber noch genug nachgeschriebene Vorträge vorhanden sein, um die Welt noch auf weitere 10 Jahre hinaus mit neuen Predigten von Spurgeon zu versorgen.

Spurgeons Predigten sind des Druckens wert; das beweist uns schon, wenn wirs sonst nicht wüssten, die große Zuhörerzahl, welche von den mündlichen Vorträgen angezogen wird. Das Tabernakel hat 5.500 Sitzplätze und weitere 500 Personen finden außerdem bequem in den Gängen Platz. Während mehr als 30 Jahren, da Spurgeon in diesem Raum predigte, war derselbe sonntäglich zweimal bis auf den letzten Stehplatz angefüllt. Dieser große Zudrang machte besondere Vorsichtmaßregeln nötig. Das Tabernakel hat etwa 20 Ausgänge, so daß es in kurzer Zeit entleert werden kann. Beim Eingang aber muss der Besucher eine Eintrittskarte vorweisen, die er sich eben irgendwie vorher zu verschaffen hat. Alle Sitzplätze sind nämlich vermietet für das ganze Jahr, wie dies in den englischen Freikirchen überall [ge]bräuchlich ist. Aus dem Ertrag der Miete wird der Gehalt des Predigers und der Unterhalt des Gebäudes bestritten. Nun war Spurgeons Gemeinde mit der Zeit zu einer Zahl von 5.500 Mitgliedern angewachsen, welche Zahl wohl in der Gegenwart nirgends von einer freien Gemeinde erreicht worden ist. Man verstehe wohl, daß hierbei nicht etwa die Verstorbenen und Ausgetretenen mitgerechnet sind, sondern die aktive Mitgliederzahl ist so groß. Und zwar gehört dieser Gemeinde niemand durch Geburt an, wie den landeskirchlichen Gemeinden. Jedes einzelne Mitglied wird persönlich in dieselbe aufgenommen und zwar auf Grund eigener, freier Entscheidung. Weitaus die größere Zahl der Gemeindeglieder sind direkte Früchte von Spurgeons Arbeit. Unter jeder Predigt dieses von Gott so hochbegnadigten Mannes fanden Bekehrungen statt, und die Bekehrten schlossen sich zum größten Teil der Gemeinde an. Um diesen Erfolg zu erklären, muss man nicht vergessen, daß die Gemeindeglieder selbst im Gewinnen von Seelen tätig sind. Sie nehmen sich der durch die Predigt Erweckten an und bringen immer neue Zuhörer mit, wozu ihnen eben die genannten Eintrittskarten treffliche Dienste leisten.

Die Eintrittskarte berechtigt freilich noch nicht dazu, daß man ins Tabernakel eingelassen, sich nun sofort auf den nächstbeliebigen Sitz niederlassen darf. Nein, hier muss du Fremdling stehend warten bis 5 Minuten vor Beginn des Gottesdienstes. Bis zu diesem Zeitpunkt haben nämlich die Mieter der Sitze das alleinige Recht auf dieselben. Der Morgengottesdienst beginnt Punkt 11 Uhr. Genau 5 Minuten vor dem Stundenschlag läutet es auf einer kleinen Glocke in einer Ecke des Tabernakels. Nun tritt eine Bewegung ein in dem Saal. Alle fremden Besucher, die bisher in den Gängen stehend gewartet haben, nehmen jetzt die vakanten Sitze in Beschlag; zudem öffnen sich nun alle Türen und die draußen harrende Menge solcher, die ohne Eintrittskarten gekommen sind, ergießt sich in einem breiten Strom in die Gänge hinein. In der Zeit von 5 Minuten ist jeder Platz besetzt. Wir befinden uns auf der ersten Galerie, nicht weit von der Plattform des Predigers. Von da aus überschauen wir das ganze Völkermeer zu unseren Füßen. Etwas Ähnliches haben wir nie gesehen. Hier könnte man buchstäblich auf den Köpfen laufen; es ist auch nicht eine Lücke geblieben.

Punkt 11 Uhr tritt eine große Stille ein, die Tür im Hintergrund des Gebäudes auf der ersten Galerie öffnet sich, und herein tritt ein nahezu 50-jähriger Mann in gewöhnlicher schwarzer Kleidung – ohne Ornat – gefolgt von etlichen Herren. Diese nehmen auf den obenerwähnten Polsterstühlen der Plattform Platz, während der Prediger sich auf den Fauteuil neben den Tischchen niederlässt, auf welchem die Bibel liegt. Einige Augenblicke verharrt er sitzend in stillen Gebet, die Hände auf seine Knie gestützt. Dann steht er auf und sagt: „Lasst uns beten!“ Während die Versammlung sitzend das Haupt neigt, spricht er ein ganz kurzes Gebet. Hierauf wird aus dem eigenen Gesangbuch der Gemeinde (Our own hym book) ein Lied verlesen. Der Vorsänger, ein langer, hagerer Mann tritt vor, und jetzt steht die ganze Gemeinde auf. Der Prediger sagt jeden der vierzeiligen Verse noch einmal vor, bevor er gesungen wird, und nun wird der Gesang ohne irgendwelche Orgelbegleitung von dem Vorsänger angestimmt. Schön ist derselbe für unsere Begriffe allerdings nicht; wir gestehen, die kreischende Stimme des Vorsängers hat uns das erste Mal ein Lächeln entlockt; aber lebendig ist der Gesang, wie der ganze Gottesdienst. Ein ganzes Lied wird so gesungen. Dann setzt sich die Versammlung wieder, und der Prediger schlägt die Bibel auf.

Es ist Sonntag nach Ostern. Obgleich die Baptisten durchaus keine Rücksicht auf das Kirchenjahr nehmen, richtet sich Spurgeon doch zuweilen in der Wahl seines Textes nach den Festzeiten. Heute verliest er das 11. Kapitel im Ev. Johannis Vers 1-47: die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus. Bibellektion bildet einen wesentlichen Teil des englischen Gottesdienstes in allen Landes- und Freikirchen. In der englischen Staatskirche sind die zu verlesenden Abschnitte auf einen jeden Sonntag vorgeschrieben; Spurgeon ist frei. Seine Freiheit gebraucht er aber dazu, daß er den betreffenden Abschnitt nicht bloß verliest, sondern zugleich einen jeden verlesenen Vers mit einer kurzen, treffenden Erklärung oder Anwendung versieht. So erinnere ich mich, daß er beim 3. Vers des angegebenen Kapitels, da wo es heißt: „Siehe, Herr, den du lieb hast, der liegt krank,“ innehielt und bemerkte: „Die Geliebten des Herrn können auch krank werden;“ welche Bemerkung mir damals von besonderem Wert war, da ich eben in London mit Leuten zusammentraf, welche lehrten, die Kinder Gottes sollten nicht mehr krank werden. Diese einzige, auf die Schrift gegründete Bemerkung des erfahrenen Mannes, erwies die Unhaltbarkeit jener Theorie aufs deutlichste.

Die Bibellektion dauerte in dieser Weise etwa 20 Minuten; nun kam wieder ein Gesang und hierauf das eigentliche gottesdienstliche Gebet. Dasselbe dauert 10-15 Minuten und wird von Spurgeon frei und aus dem Herzen gesprochen; es ist durchaus nicht zu lang, da man ja sitzen bleibt. Denken wir an die mannigfaltigen Bedürfnisse einer so großen Gemeinde mit allen ihren vielen Werken, die sie unterhält, als; das Predigerseminar, die Waisenanstalt, eine Traktat- eine Evangelisations-Gesellschaft etc., - begreifen wir, daß der Hirte viel auf seinem priesterlichen Herzen hat. Nach diesem Gebet folgt wieder stehend ein Gesang. Jetzt ists nahezu 12 Uhr; der Gottesdienst hat schon fast eine Stunde gedauert; aber die Hauptsache steht erst noch bevor. die Predigt. Bei uns sehen die lieben Zuhörer schon ängstlich nach der Uhr; in England aber ist man lange Gottesdienst gewöhnt.

Kein Mensch denkt daran, die Kapelle jetzt zu verlassen, sondern nun erst setzt man sich erwartungsvoll hin, um den Text zu hören. es ist nicht gesagt, daß er in dem schon verlesenen Kapitel enthalten sei; oft nimmt der Prediger ihn aus einem ganz anderen Zusammenhang als aus der Lektion. Doch heute verliest Spurgeon ihn aus demselben 11. Kapitel des Johannes. „Mein Text,“ sagt er, „steht im 43. und 44. Vers und lautet: Und als Jesus das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Händen und Füßen und sein Angesicht mit einem Schweißtuch verhüllt; Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf und lasset ihn gehen!“

Die Predigt, die Spurgeon damals, am 20. April 1884, über diesen Text gehalten hat, liegt vor mir, genau wie ich sie gehört habe; denn am folgenden Donnerstag konnte man sie schon gedruckt kaufen zu 10 Cts. das Stück, und ich habe sie seitdem sorgfältig aufgehoben. Sie dauerte, wie alle seine Predigten 3/4 Stunden, so daß der ganze Gottesdienst 1 3/4 Stunden in Anspruch nahm. Gesungen wird nach der Predigt nicht mehr, auch kein Gebet gesprochen. Nach dem „Amen“ folgt nur noch der apostolische Segen und damit wird die Gemeinde entlassen. „Auch nicht dumm,“ habe ich mir sagen müssen, „wie noch so vieles, was die oft geschmähten Engländer tun; daß man die Leute gerade mit dem durch die Predigt enthaltenen Eindruck entlässt, ohne denselben noch durch ein oft genug gedankenlos gesungenes Lied zu verwischen, oder durch ein endloses Schlussgebet zu entkräften, hat gewiß viel für sich, wenn wirs nun auch einmal anders gewohnt sind“

Übrigens ist mit der Predigt doch noch nicht alles vorbei. Ein großer Teil der Gemeinde, an die 1.000 Personen, versammeln sich gerade nachher noch im Souterrain des Tabernakels, das mehrere geräumige Säle enthält und feiern dort allsonntäglich das heilige Abendmahl. es geht dabei sehr einfach und lieblich zu. Spurgeon setzt sich mit seinen Ältesten auf einen erhöhten Platz um einen Tisch. Ohne lange Liturgie, die es in diesen Gemeinden gar nicht gibt, verliest er einige Schriftworte und fordert dann einen der Ältesten zum Dankgebet auf. Darauf genießt er zuerst mit den Ältesten, während sie um den Tisch herum sitzen, das Mahl; hierauf tragen diese Brot und Wein in der Versammlung herum, und jeder nimmt das heilige Mahl stillsitzend an seinem Platz; zwischenhinein wird ein Lied gesungen oder Spurgeon spricht ein gutes Wort. Alles geht da so frei und ungezwungen zu mit Vermeidung aller überflüssigen Zeremonien. es herrscht ein so freundlicher, fröhlicher Geist. Freude im Herrn ist der Grundton, der die kurze, aber herzliche Feier durchdringt.

Zuweilen findet diese Abendmahlsfeier auch nach dem Abendgottesdienste statt, der um 6 ½ Uhr gehalten wird in ähnlicher Weise wie der geschilderte Morgengottesdienst, nur mit dem Unterschied, daß die Abendpredigt mehr auf die Unbekehrten Rücksicht nimmt, während die Morgenpredigt der Erbauung der Gläubigen gewidmet ist. Doch kehrt Spurgeon auch sehr oft diese Ordnung um und predigt am Morgen den Unbekehrten, je nachdem es eben der Text mit sich bringt, der ihm aufs Herz gelegt wird; denn in der Textwahl bekennt er sich durchaus abhängig vom Heiligen Geist, wie natürlich auch in der Predigt; nur soll man daraus nicht schließen, als hätte er seine Predigten nicht vorbereitet. Die Fähigkeit, aus dem Stegreif zu reden, besaß er in hervorragendem Maß; aber er hat sie nur erlangt und bewahrt durch unausgesetztes Studium, sonst wäre er zum Schwätzer geworden wie so viele andere, die sich nur auf die augenblickliche Eingebung des Geistes verlassen wollen. Man lese darüber seien trefflichen „Vorlesungen an die Studenten“ nach, besonders was er in der 6. und 10. Vorlesung sagt.

Außer den Sonntagsgottesdiensten findet am Montag Abend in dieser Gemeinde eine gutbesuchte Gebetsversammlung statt und am Donnerstag Abend eine Wochenpredigt, die zwar das Tabernakel nicht füllt, aber doch 2.000-3.000 Personen vereinigt.

Wie wir unseren Lesern in der Märznummer mitgeteilt haben, ist Spurgeon am 31. Januar d.J. nach langer, schmerzlicher Krankheit aus einer irdischen Gemeinde in die himmlische abberufen worden. An seiner Stelle steht nun ein, wie es scheint ähnlich begabter Mann, ein Amerikaner namens Pierson, ein Doktor der Theologie – ein Titel, den eigentlich auch Spurgeon verdient hätte, den anzunehmen er aber zu bescheiden gewesen wäre.

Für diesmal erlaubt uns der Raum weitere Mitteilungen nicht mehr über den interessanten Mann. Wer sein Leben und Wirken genauer kennen lernen will, den verweisen wir auf die kürzlich erschienene beste Biographie desselben aus der Feder seines Freundes Schindler. das Buch trägt den Titel: „Ein Fürst unter den Predigern“ und kann bezogen werden durch das Bureau der Evangelischen Gesellschaft in Bern, sowie durch jede christliche Buchhandlung. Die oben erwähnte Predigt über die Auferweckung des Lazarus hoffe ich meinen Lesern zugänglich machen zu können, sowie auch weitere Mitteilungen über den Mann, der sie gehalten hat, im künftigen Jahrgang noch möglich sind. Vom „Besuch in London“ wäre noch allerlei zu sagen; so habe ich z.B. noch gar nichts über die „Heilsarmee“ geschrieben, von der ich doch auch etwas gesehen habe. Item, Rom ist nicht in einem Tag erbaut worden, und London wird nicht in drei Aufsätzen fertigbeschrieben.

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