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Ryle, J. C. - Betest Du?

Ryle, J. C. - Betest Du?

Er sagte ihnen aber ein Gleichniß davon, daß man allezeit beten, und nicht laß werden sollte. (Luc. 18, l.)

So will ich nun, daß die Männer beten an allen Orten. (1. Tim. 2,8.)

Leser!

Ich lege dir eine Frage vor beim Beginn eines neuen Jahres. Sie ficht über dem Blatt vor deinen Augen. Sie ist enthalten in den zwei Wörtchen: Betest du?

Das ist eine Frage, welche Niemand als du beantworten kannst. Ob du den öffentlichen Gottesdienst besuchst oder nicht, weiß dein Pastor. Ob du eine Familien-Andacht in deinem Hause hältst oder nicht, wissen deine Verwandten. Aber ob du im Stillen betest oder nicht, das ist eine Angelegenheit zwischen dir und Gott.

Leser, ich ersuche dich in aller Liebe, dem Gegenstande deine Aufmerksamkeit zu widmen, welchen ich vor dich bringe. Sage nicht, daß meine Frage dir zu nahe tretet Wenn dein Herz rechtschaffen ist vor Gott, so ist nichts in ihr, was dich erschrecken könnte. Weise meine Frage nicht ab, indem du erwiederst, du hieltest deine Gebete. Seine Gebete halten und Beten ist zweierlei. Sage mir nicht, daß meine Frage unnöthig sei. Höre mich ein Paar Augenblicke an, und ich will dir zeigen, daß ich sie aus guten Gründen thue.

1) Ich frage ob du betest, weil das Gebet durchaus nöthig ist zu des Menschen Seligkeit.

Ich sage durchaus nöthig, und ich sage absichtlich so. Ich spreche hier nicht von kleinen Kindern und Einfältigen. Ich handle hier nicht von dem Zustande der Heiden. Ich weiß, daß, wem wenig gegeben ist, von dem wird man wenig fordern. Ich spreche ganz besonders von denen, welche sich Christen nennen, in einem Lande wie das unsrige. Und von diesen, sage ich, kann Niemand, weder Mann noch Weib, hoffen selig zu werden, wenn er nicht betet.

Ich halte an dem Seligwerden durch die Gnade so fest wie irgend Einer. Ich würde dem größesten Sünder, welcher jemals lebte, freudig eine freie und volle Vergebung anbieten. Ich würde nicht zögern an sein Sterbebette zu treten und zusagen: „Glaube an den Herrn Jesum Christum nur jetzt noch, und du wirst selig werden.“ Aber daß man des Heils theilhaftig werden kann, ohne darum zu bitten, das kann ich in der Bibel nicht finden. Daß ein Mensch Vergebung für seine Sünden empfangen wird, welcher nicht einmal sein Herz mit Inbrunst erheben will, und sagen: „Herr Jesus, gieb sie mir,“ das kann ich nicht finden. Ich finde, daß Niemand durch sein Gebet selig wird, aber ich finde nicht, daß Jemand ohne Gebet selig wird.

Es ist nicht durchaus nöthig zur Seligkeit, daß man die Bibel lese. Man kann unwissend sein, oder blind, und doch Christum im Herzen tragen. Es ist nicht durchaus nöthig, daß man öffentlich das Evangelium predigen höre. Man kann wohnen, wo das Evangelium nicht gepredigt wird, oder man kann bettlägerig sein, oder taub. Aber dasselbe gilt nicht vom Gebet. Es ist durchaus nöthig zur Seligkeit, daß man bete.

Es giebt keine königliche Heerstraße zur Gesundheit oder zum Wissen. Fürsten und Könige, arme Leute und Bauern, alle müssen den Bedürfnissen ihres Körpers und ihres Geistes auf gleiche Weise dienen. Niemand kann einen Andern für sich essen, trinken, oder schlafen lassen. Niemand kann das ABC durch einen Andern für sich lernen lassen. Alles dieses sind Dinge, welche Jedermann für sich selber thun muß, sonst werden sie gar nicht gethan werden.

Gerade so wie es mit dem Geiste ist und dem Körper, so ist es mit der Seele. Es giebt gewisse Dinge, welche durchaus nöthig sind zu der Seele Heil und Seligkeit. Jeder muß diese Dinge selber besorgen. Jeder muß selber Buße thun. Jeder muß sich selber an Christum wenden. Und selber muß Jeder mit Gott reden und beten. Du mußt es selber thun, denn durch Niemand sonst kann es gethan werden.

Wie kannst du erwarten erlöst zu werden durch einen unbekannten Gott? Und wie kannst du Gott kennen ohne Gebet? Du kannst nicht mit Menschen umgehen, noch sie kennen lernen, ohne mit ihnen zu reden. Du kannst nicht mit Gott umgehen, noch ihn in Christo kennen lernen, ohne zu ihm zu beten. Wenn du bei Ihm im Himmel zu sein wünschest, so mußt du auf Erden einer Seiner Freunde sein. Wenn du wünschest einer Seiner Freunde auf Erden zu sein, so mußt du beten.

Leser, es werden Viele am jüngsten Tage zur Rechten Christi stehen. Die Heiligen, welche versammelt sind von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zum andern, werden eine große Schaar bilden, die Niemand zählen kann. Das Siegeslied, welches aus ihrem Munde erschallt, wenn ihre Erlösung endlich vollbracht ist, wird in der That herrlich sein. Es wird lauter tönen als das Rauschen vieler Wasser und mächtiger als der Donner. Doch wird kein Mißton in diesem Liede sein. Die, welche singen, werden mit Einem Herzen und Einer Stimme singen. Ihre Erfahrungen sind dieselben. Alle haben geglaubt. Alle sind in dem Blute Christi gewaschen. Alle sind wiedergeboren. Alle haben gebetet. Ja! wir müssen beten aus Erden, oder wir werden niemals lobsingen im Himmel. Wir müssen durch die Schule des Gebetes gehen, oder wir werden unfähig sein an dem ewigen Sabbath in das große Halleluja mit einzustimmen.

Leser, nicht beten heißt ohne Gott sein, ohne Christum, ohne Gnade, ohne Hoffnung, und ohne Himmel. Es heißt auf dem Wege zur Hölle sein. Kannst du dich also wundern, daß ich frage: Betest du?

2) Ich frage abermals, ob du betest, weil die Gewohnheit des Betens eins der sichersten Kennzeichen eines wahren Christen ist.

Alle Kinder Gottes auf der Erde sind in dieser Beziehung gleich. Von dem Augenblick an, wo ihr Christenthum Leben und Wahrheit wurde, beteten sie, Gerade wie das erste Lebenszeichen bei einem Kinde, welches in der Welt geboren wird, der Akt des Athmens ist, so ist der erste Akt der Männer und der Frauen, welche wiedergeboren werden, das Beten.

Es ist eins der allgemeinen Kennzeichen aller Auserwählten Gottes: „Sie rufen zu Ihm Tag und Nacht.“ Der heilige Geist, welcher sie zu neuen Menschen schafft, erweckt in ihnen das Gefühl der Kindschaft und läßt sie rufen: „Abba, lieber Vater!“ (Röm. 8,16.) Der Herr Jesus, wenn Er sie erweckt, verleiht ihnen eine Stimme und eine Zunge, und sagt zu ihnen: Seid nicht mehr stumm. Gott hat keine stummen Kinder. Es gehört so gut zu ihrer neuen Natur, daß sie Beten, wie es sich für ein Kind gehört, daß es schreiet. Sie sehen, daß sie der Barmherzigkeit und Gnade bedürfen. Sie fühlen ihre Leere und Schwäche. Sie können nicht anders thun als sie thun. Sie müssen beten.

Ich habe die Gebete der Heiligen Gottes in der Bibel sorgfältig gelesen. Ich kann nicht einen finden, von dessen Geschichte uns viel erzählt ist, vom ersten Buch Mosis bis zur Offenbarung, der nicht ein Mann des Gebets wäre. Ich finde es als einen Hauptzug der Gottseligen erwähnt, daß „sie den Vater anrufen,“ daß „sie den Namen des Herrn Jesus Christus anrufen.“ Ich finde es als einen Hauptzug der Gottlosen angeführt, daß „sie den Herrn nicht anrufen.“ (1. Petri 1, 17. 1 Cor. 1, 2. Ps. 14, 4.)

Ich habe das Leben von vielen ausgezeichneten Christen gelesen, welche seit den Tagen der Bibel auf Erden lebten. Einige von ihnen, sehe ich, waren reich und einige arm. Einige waren gelehrt und einige nichtgelehrt. Einige von ihnen waren Reformirte, andere Lutheraner oder Herrnhuter, oder Unirte, oder hielten Liturgien für nöthig, oder legten keinen Werth darauf. Aber Eines hatten sie alle gemein: Sie waren alle Männer des Gebets.

Ich studire die Berichte der Missionsgesellschaft in unserer eigenen Zeit. Ich sehe mit Freuden, daß heidnische Männer und Frauen in verschiedenen Weltteilen das Evangelium hören. Es giebt Bekehrungen in Afrika, in Neuseeland, in Hindostan, in Amerika. Die Bekehrten sind von Natur in jeder Hinsicht einander ungleich. Aber das eine Auffallende bemerke ich bei allen Missions-Stationen: Die Bekehrten beten immer.

Leser, ich läugne nicht, daß man ohne Herz und ohne Aufrichtigkeit beten kann. Nicht einen Augenblick will ich behaupten, daß die bloße Thatsache des Betens irgend Etwas für Jemandes Seele beweist. Wie in jedem andern Stück der Religion, also giebt es auch in diesem gar viel Täuschung und Heuchelei.

Aber das behaupte ich, daß Nicht-beten ein klarer Beweis dafür ist, daß Jemand noch kein wahrer Christ ist. Er kann seine Sünden nicht wirklich fühlen. Er kann Gott nicht lieben. Er kann sich nicht als einen Schuldner Christi fühlen. Er kann nicht nach der Heiligung verlangen. Er kann sich nicht nach dem Himmel sehnen. Er muß erst noch wiedergeboren werden. Er muß erst noch zu einem neuen Menschen werden. Er mag sich zuversichtlich des Erwähltseins, der Gnade, des Glaubens, der Hoffnung und der Erkenntniß rühmen, und Unwissende hintergehen. Aber du kannst versichert sein, daß es alles eitel Geschwätz ist, wenn er nicht betet.

Und ich sage ferner, daß von allen Zeugnissen von lebendigem Wirken des Geistes die Gewohnheit des herzlichen stillen Gebetes eines der sichersten ist, welches man anführen kann. Man kann predigen aus unreinen Gründen. Man kann Bücher schreiben und schöne Reden halten und fleißig scheinen in guten Werken, und doch ein Judas Ischariot sein. Aber selten geht Einer in sein Kämmerlein und schüttet seine Seele vor Gott im Stillen aus, ohne daß es ihm Ernst ist. Der Herr Selber hat dem Gebete sein Siegel aufgedrückt als den besten Beweis einer wahren Bekehrung.

Als Er den Ananias zum Saul in Damaskus schickte, gab Er ihm kein anderes Zeugniß für die Bekehrung seines Herzens als dieses: „Siehe, er betet.“ (Apost. 9, 11.)

Ich weiß, daß Vieles in eines Menschen Gemüthe vor sich gehen kann, bevor er zum Beten kommt. Er kann viele Ueberzeugungen, Verlangen, Wünsche, Gefühle, Absichten, Entschlüsse, Hoffnungen und Besorgnisse haben. Aber alle diese Dinge sind sehr unsichere Zeugnisse. Sie sind bei Gottlosen zu finden und werden oft zu Nichte. In manchen Fällen sind sie nicht anhaltender als die Morgenwolke und der Thau, welcher vergeht. Ein lebendiges herzliches Gebet, welches aus einem gebrochenen und zerknirschten Gemüthe strömt, ist mehr Werth, als alle diese Dinge zusammen.

Ich weiß, daß die Auserwählten Gottes zur Seligkeit auserkoren sind von Ewigkeit her. Ich weiß, daß der Heilige Geist, welcher sie zur rechten Zeit beruft, sie in vielen Fällen durch sehr langsamen Stufen zur Gemeinschaft mit Christo führt. Aber des Menschen Auge kann nur nach Dem urtheilen, was es sieht. Ich kann nicht einen Einzigen gerechtfertigt nennen, bis er glaubet. Ich darf nicht sagen, daß Jemand glaubt, bis er betet. Ich kann keinen stummen Glauben verstehen. Die erste That des Glaubens ist das Sprechen zu Gott. Der Glaube ist für die Seele, was das Leben für den Körper ist. Das Gebet ist für den Glauben, was der Athem für das Leben ist. Wie ein Mensch leben kann und nicht athmen, das geht über meine Fassungskraft; und wie ein Mensch glauben kann und nicht beten, das geht auch über meine Fassungskraft.

Leser, verwundere dich nicht, wenn du die Diener des Evangeliums viel bei der Wichtigkeit des Gebets verweilen hörst. Das ist der Punkt, auf welchen wir dich zu bringen verlangen; wir verlangen zu wissen, daß du betest. Deine Ansichten von der Lehre mögen richtig sein. Deine Liebe zum Protestantismus mag warm und unverkennbar sein. Aber Das kann dock nichts weiter sein, als Wissen deines Kopfes und Parteigeist. Wir verlangen zu wissen, ob du wirklich mit dem Gnadenthrone bekannt bist, und ob du zu Gott ebenso gut wie über Gott sprechen kannst.

Leser, wünschest du zu erfahren, ob du ein wahrer Christ bist? dann sei versichert, daß meine Frage von der allergrößten Wichtigkeit ist: Betest du?

3) Ich frage ob du betest, weil es keine Pflicht in der Religion giebt, welche so sehr vernachlässigt wird, wie das stille Gebet im Kämmerlein.

Wir leben in einer Zeit, welche reich ist an religiösem Bekenntniß. Es giebt jetzt mehr Orte des öffentlichen Gottesdienstes, als je zuvor. Es giebt viele Personen, welche dieselben besuchen. Und trotz all dieser öffentlichen Religion glaube ich doch, daß es sehr viel Nachlässigkett in Betreff des Gebets im Kämmerlein giebt.

Ich würde vor wenigen Jahren nicht so gesprochen haben. Ich dachte einst in meiner Unwissenheit, daß die meisten Leute ihre Gebete hersagten, und viele Leute beteten. Ich bin dahin gekommen anders zu denken. Ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß die große Mehrzahl der angeblichen Christen gar nicht betet.

Ich weiß, das klingt sehr auffallend und wird Viele sehr überraschen. Aber ich bin überzeugt, daß das Gebet gerade für eines von den Dingen gehalten wird, welche „sich von selbst verstehen,“ und daß es sowie viele Dinge, die sich von selbst verstehen, gar schmählich vernachlässigt wird. Es ist „Jedermanns Sache,“ und wie es häufig in solchen Fällen geschieht, ist es eine Sache, die von sehr Wenigen gethan wird. Es ist eine geheime Verhandlung zwischen Gott und unsern Seelen, welche kein Auge sieht, und die man zu versäumen und ungethan zu lassen leicht versucht wird.

Ich glaube, daß Tausende überhaupt niemals ein Wort des Gebets sprechen. Sie essen. Sie trinken. Sie schlafen. Sie stehen auf. Sie gehen hinaus an ihre Arbeit. Sie kehren heim in ihre Hauser. Sie athmen Gottes Luft ein. Sie sehen Gottes Sonne. Sie wandeln auf Gottes Erde. Sie erfreuen sich Gottes gnädiger Gaben. Sie haben einen sterblichen Körper. Sie haben das Gericht und die Ewigkeit vor sich. Aber sie reden niemals mit Gott. Sie leben wie die Thiere welche umkommen. Sie betragen sich wie Geschöpfe ohne Seele. Sie haben nicht ein Wort zu Ihm zu sagen, in dessen Hand ihr Leben und Athem und alle Dinge sind, und aus dessen Mund sie eines Tags ihr ewiges Unheil empfangen werden. Wie entsetzlich erscheint das? Und doch wie gewöhnlich, wenn die Geheimnisse der Menschen nur bekannt wären!

Ich glaube, es giebt Tausende und aber Tausende, deren Gebete nichts als leere Formeln sind, auswendig gelernte Formeln, ohne einen Gedanken an ihre Bedeutung. Einige sagen ein Paar hastige Sätze her, welche sie in der Ammenstube aufgesammelt haben, als sie noch Kinder waren. Einige begnügen sich, das Glaubensbekenntniß herzusagen, und sie vergessen, daß keine Bitte darin ist. Einige fügen das Gebet des Herrn hinzu, aber ohne den leisesten Wunsch, daß dessen feierliche Bitten gewährt werden mögen.

Viele, selbst von Denen, welche gute Formeln gebrauchen, murmeln ihre Gebete her, nachdem sie zu Bette gegangen sind, oder plappern sie durch, während sie sich waschen oder anziehen des Morgens. Die Leute mögen denken, was sie wollen, aber sie können sich darauf verlassen, daß Dies in den Augen Gottes kein Beten ist. Worte, welche ohne Bewegung des Herzens hergesagt werden, sind für unsere Seele ebenso durchaus nutzlos, wie das Getrommel der armen Heiden vor ihren Götzenbildern. Wo kein Herz ist, da mag Lippen-Werk sein und Zungen-Werk, aber da ist nichts, was Gott anhört, da ist kein Gebet. Saul sagte ohne Zweifel manches lange Gebet, ehe der Herr ihm begegnete auf dem Wege nach Damaskus. Aber nicht eher, bis sein Herz gebrochen war, sagte der Herr: „Er betet.“

Leser, wundert dich Dies? höre mich an und ich will dir zeigen, daß ich nicht ohne Grund also spreche. Meinst du, daß meine Behauptungen übertrieben sind und unhaltbar? Schenkemir deine Aufmerksamkeit, und ich will dir bald zeigen, daß ich dir die lautere Wahrheit sage.

Hast du vergessen, daß es nicht natürlich ist zu beten? Der fleischliche Sinn ist in Feindschaft gegen Gott. Das Verlangen liegt in des Menschen Herzen, weit von Gott fortzukommen, und nichts mit Ihm zu thun zu haben. Sein Gefühl gegen Ihn ist nicht Liebe, sondern Furcht. Warum sollte also ein Mensch beten, wenn er kein lebendiges Gefühl der Sünde hat, keine lebendige Empfindung der geistigen Bedürfnisse, keinen innigen Glauben an unsichtbare Dinge, kein Verlangen nach der Heiligung und dem Himmel? Von allen diesen Dingen wissen und fühlen bei weitem die meisten Menschen nichts. Die große Menge wandelt auf dem breiten Wege. Das kann ich nicht vergessen. Deshalb sage ich dreist, ich glaube, daß Wenige beten.

Hast du vergessen, daß es. nicht zum guten Ton gehört, zu beten? Es ist gerade eines von den Dingen, welche Viele sich recht schämen würden einzugestehen. Es giebt Hunderte, welche eher eine Bresche stürmen oder einen verlornen Posten anführen würden, als öffentlich eingestehen, daß sie das Beten zu ihrer Gewohnheit gemacht haben. Es giebt Tausende, welche, wenn sie zufällig genöthigt wären, mit einem Fremden in demselben Zimmer zu schlafen, sich ohne Gebet ins Bett legen würden. Gut zu reiten, gut zu schießen, sich gut zu kleiden, in die Theater zu gehen, für klug zu gelten und für liebenswürdig, alles das gehört zum guten Ton, aber nicht zu beten. Das kann ich nicht vergessen. Ich kann mir nicht denken, daß eine Sitte allgemein ist, deren so Viele sich zu schämen scheinen. Ich glaube, daß Wenige beten.

Hast du vergessen, welches Leben Viele führen? Können wir wirklich annehmen, daß Leute Tag und Nacht gegen die Sünde beten, wenn wir sie blindlings in dieselbe hineinstürzen sehen? Können wir annehmen, daß sie gegen die Welt beten, wenn sie ganz in ihr Treiben vertieft und versunken kenne in geistigen Dingen deine geheime Geschichte nicht. Aber nach dem, was ich in der Bibel und in der Welt sehe, bin ich gewiß, daß ich dir keine nothwendigere Frage vorlegen kann, als diese: Betest du?

4) Ich frage, ob du betest, weil das Gebet diejenige Handlung im Christenthum ist, zu welcher wir die größesten Aufmunterungen haben.

Alles ist von Seiten Gottes geschehen, um das Gebet leicht zu machen, wenn die Menschen es nur versuchen wollen. Alles ist bereit von seiner Seite. Jeder Einwurf ist im Voraus beantwortet. Jede Schwierigkeit ist vorgesehn. Die krummen Stellen sind gerade gemacht, und die rauhen sind geebnet. Keine Entschuldigung ist für den gebetlosen Menschen vorhanden.

Es giebt einen Weg, auf welchem jeder Mensch, so sündhaft und unwürdig er auch sein mag, sich Gott dem Vater nähern kann. Jesus Christus hat diesen Weg eröffnet durch das Opfer, welches Er für uns am Kreuze gebracht hat. Die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes braucht die Sünder nicht zu erschrecken und zurückzuhalten. Sie brauchen nur Gott anzurufen in Jesu Namen, sie brauchen nur Jesu versöhnendes Blut zum Schutze zu nehmen, und sie werden Gott auf dem Gnadenthron finden, willig und bereit, sie zu hören. Der Name Jesu ist ein unfehlbarer Freibrief für unsere Gebete. In diesem Namen kann der Sünder Gott mit Dreistigkeit nahen, und mit Zuversicht beten. Gott hat versprochen ihn zu erhören. Leser, bedenke dies. Ist das nicht Aufmunterung?

Es gibt einen Fürsprecher und Vermittler, welcher stets darauf wartet, die Gebete derjenigen vorzubringen, welche Ihn darum bitten. Dieser Fürsprecher ist Jesus Christus. Er heiligt unsere Gebete durch den Weihrauch seiner eigenen allmächtigen Fürbitte. Also geheiligt steigen sie wie ein süßer Duft zu Gottes Thron empor. Dürftig wie sie an sich selber sind, werden sie mächtig und gewaltig in der Hand unsers hohen Priesters und altern Bruders. Die Banknote ohne Unterschrift darunter ist nichts als ein werthloses Stück Papier. Ein Federstrich verleiht ihr allen ihren Werth. Das Gebet eines armen Adamskindes an sich ist ein schwaches Ding, aber von der Hand des Herrn Jesu unterschrieben hat es großen Werth. Es gab einen Beamten in der Stadt Rom, welcher seine Thüren stets offen stehn ließ, um jeden römischen Bürger zu empfangen, welcher sich um Hülfe an ihn wandte. Gerade so ist das Ohr des Herrn Jesu dem Rufe Derer stets offen, welche nach Barmherzigkeit und Gnade verlangen. Es ist Sein Amt ihnen zu helfen. Ihr Gebet ist Seine Wonne. Leser, bedenke Dies. Ist das nicht Aufmunterung? Es ist der heilige Geist immer bereit unsere Schwachheit beim Gebet aufzuhelfen. Es ist ein Theil seines besondern Amtes, uns beizustehen in unsern Versuchen mit Gott zu reden. Wir brauchen nicht niedergeschlagen und entmuthigt zu werden durch die Furcht, daß wir Nichts zu sagen wissen. Der Geist wird uns Worte eingeben, wenn wir nur Seine Hülfe suchen wollen. Er wird uns einflößen Gedanken, welche athmen, und Worte, welche glühen. Die Gebete des Volkes Gottes sind Eingebungen von dem Geiste Gottes, Werke des heiligen Geistes, welcher in ihnen wohnet als Geist der Gnade und des Gebets. Sicherlich kann des Herrn Volk wohl hoffen erhört zu werden. Nicht sie bloß sind es, welche beten, sondern der heilige Geist bittet in ihnen. Leser, bedenke dies. Ist das nicht Ermunterung?

Es giebt übergroße und köstliche Verheißungen für Diejenigen, welche beten. Was meinte der Herr Jesus, als Er solche Worte sprach wie diese: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgethan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da suchet, der findet; und wer da anklopfet, dem wird aufgethan.“ (Matth, 7, 7. 6.) „Und Alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr glaubet, so werdet ihr es empfangen.“ (Matth. 21, 22.) „Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun, auf daß der Vater geehret werde in dem Sohne. Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun.“ (Joh. 14, 13. 14.) Was meinte der Herr, als Er die Parabeln von dem Freunde um Mitternacht und von der nicht laß werdenden Wittwe erzählte? (Luc 11, 5. u. 18, 1.) Leser, denke über diese Stellen nach. Wenn das nicht Aufmunterung zum Gebet ist, so haben Worte keine Bedeutung.

Es giebt wunderbare Beispiele von der Gewalt des Gebets in der heiligen Schrift. Nichts scheint für das Gebet zu groß, zu mühselig oder zu schwierig zu vollbringen. Es hat Dinge vermocht, welche unmöglich und unerreichbar schienen. Es hat Siege über Feuer, Luft, Erde und Wasser davongetragen. Das Gebet hatte das rothe Meer geöffnet. Das Gebet brachte Wasser aus dem Felsen hervor und Brod vom Himmel herab. Das Gebet machte die Sonne stillstehen. Das Gebet brachte Feuer vom Himmel herab auf des Elias Opfer. Das Gebet verkehrte des Ahitophels Rath in Thorheit. Das Gebet warf die Heerschaaren des Sanherib über den Haufen. Wohl konnte Maria, die Königin von Schottland, sagen: „Ich fürchte die Gebete des John Knox mehr als ein Heer von 10.000 Mann.“ Das Gebet hat Kranke geheilt. Das Gebet hat die Todten wieder aufgeweckt. Das Gebet hat Bekehrungen der Seele vollbracht. „Das Kind vieler Gebete,“ sagt ein alter Christ zu Augustinus Mutter, „wird niemals verloren gehn“. Gebet, Arbeit und Glauben vermögen Alles. Nichts scheint unmöglich, wenn einer den Geist der Kindschaft besitzt. „Laß mich“ ist das merkwürdige Wort Gottes an Moses, als Moses für die Kinder Israel beten wollte, (2 Mose 32) Die chaldäische Übersetzung hat dafür: „Laß ab vom bitten“. So lange als Abraham für Sodom um Gnade bat, fuhr der Herr fort, sie zu gewähren. Er hörte nicht eher auf zu gewähren, bis Abraham aufhörte zu bitten. Leser, bedenke dies. Ist das nicht Aufmunterung?

Was kann einer noch verlangen, um ihn zu bewegen, einen Schritt auf dem schmalen Wege zu thun, als Alles, was ich ihm jetzt über das Gebet gesagt habe? Was könnte noch gethan werden, um den Pfad zu dem Gnadenstuhle zu ebnen, und alten Grund zum Straucheln aus des Sünders Wege fortzuräumen? Wahrlich, wenn die Teufel in der Hölle solch eine Thür vor sich offen hätten, sie würden vor Freuden hüpfen und den tiefsten Höllenpfuhl von Jubel wiederhatten lassen.

Aber wo will der Mensch sein Haupt am Ende verbergen, welcher so herrliche Aufmunterungen verschmäht? Was kann möglicherweise für den Menschen gesagt werden, welcher nach allen diesen ohne Gebet stirbt? Wahrlich, Leser, ich darf wohl sorgen, daß du dieser Mensch nicht sein mögest. Wahrlich, ich darf wohl fragen: Betest Du?

5) Ich frage, ob Du betest, weil Fleiß im Gebet das Geheimniß ist, um in der Heiligung zu wachsen.

Unstreitig gibt es einen sehr großen Unterschied unter den wahren Christen. Es gibt einen unendlichen Zwischenraum zwischen den Vordersten und den Hintersten in der Heerschaar Gottes.

Sie kämpfen Alle denselben guten Kampf; aber wie viel tapferer kämpfen die Einen als die Andern! Sie arbeiten Alle an des Herrn Werk, aber wie viel mehr arbeiten die Einen als die Andern! Sie sind Alle ein Licht des Herrn, aber wie viel Heller leuchten die Einen als die Andern! Sie eilen Alle in demselben Wettlauf, aber wie viel schneller kommen die Einen voran als die Andern! Sie lieben Alle denselben Herrn und Heiland, aber wie viel mehr lieben ihn die Einen als die Andern! Ich frage einen jeden wahren Christen, ob dieses nicht der Fall ist. Ist diesem nicht also?

Es gibt einige in des Herrn Volke, welche niemals voran zu kommen scheinen seit der Zeit ihrer Bekehrung. Sie sind wiedergeboren, aber sie bleiben unmündige Kinder ihr Leben lang. Sie sind Schüler in Christi Schule, aber sie scheinen niemals über das ABC hinauszukommen und bleiben immer auf der untersten Bank. Sie sind in die Hürden eingetreten, aber sie legen sich nicht darin nieder und kommen nicht weiter. Ein Jahr nach dem andern sieht man sie mit denselben Sünden behaftet. Man gewahrt an ihnen dieselben alten Gewohnheiten. Man bemerkt bei ihnen denselben Mangel an geistlichem Hunger, denselben Ekel an allem, außer der Milch des Wortes, und denselben Widerwillen gegen kräftige Speise, dasselbe kindische Wesen, dieselbe Schwachheit, dieselbe Kleinmüthigkeit, dieselbe Engherzigkeit, denselben Mangel an Antheil für Alles, außer ihrem eigenen kleinen Kreise, welche man vor zehn Jahren bemerkte. Sie sind zwar Pilger, aber Pilger wie die alten Gibeoniten, ihr Brod ist stets trocken und schimmelig, ihre Schuhe stets alt und geflickt, und ihre Kleider stets zerrissen und zerfetzt. Ich sage es mit Kummer und Betrübniß. Aber ich frage jeden wahren Christen: Ist es nicht wahr?

Es gibt Andere von des Herrn Volke, welche immer voran zu kommen scheinen. Sie wachsen wie das Gras nach dem Regen. Sie nehmen zu, wie Israel in Aegypten. Sie eilen voran, wie Gideon, obschon zuweilen ermattet, doch stets weiter strebend. Sie fügen stets Gnade zur Gnade, Glauben zum Glauben, Stärke zur Stärke. Jedesmal wenn man sie antrifft, erscheinen ihre Herzen weiter, und ihre geistige Gestalt stärker, größer und kräftiger. Jedes Jahr scheinen sie mehr zu sehen, mehr zu wissen, mehr zu glauben und mehr zu fühlen in ihrer Religion. Sie haben nicht nur gute Werke für die Lebendigkeit ihres Glaubens aufzuweisen, sondern sie sind auch eifrig in ihnen. Sie thun nicht nur Gutes, sondern sie sind auch unermüdet im Gutesthun. Sie beginnen Großes und sie vollbringen Großes. Wenn es mißlingt, so versuchen sie es aufs Neue, und wenn sie fallen, so stehn sie schnell wieder auf. Und bei dem Allen halten sie sich für arme werthlose Diener, und meinen, daß sie gar nichts schaffen. Das sind diejenigen, welche die Religion lieblich und schön in den Augen Aller machen. Sie erhalten Lob selbst von den Nichtbekehrten, und besitzen die Hochachtung sogar der selbstsüchtigen Kinder der Welt. Es sind Personen, deren Nähe und Umgang erquickt. Wenn man sie antrifft, sollte man glauben, daß sie, wie Moses, eben aus Gottes Gegenwart herkämen. Wenn man sich von ihnen trennt, so fühlt man sich durch ihre Gesellschaft erwärmt, als ob unsere Seele an einem Feuer gewesen wäre. Ich weiß, solche Christen sind selten. Ich frage nun: Ist es nicht also?

Nun denn, wie können wir uns den Unterschied erklären, welchen ich soeben beschrieben habe? Was ist der Grund, daß einige Gläubige so viel leuchtender und heiliger sind als die andern? Ich glaube, der Unterschied rührt in neunzehn Fällen unter zwanzigen her von verschiedenen Gewohnheiten im stillen Gebet. Ich glaube, daß diejenigen, welche in der Heiligung zurückbleiben, wenig beten, und diejenigen, welche darin zunehmen, viel beten.

Ich kann mir wohl denken, daß diese Meinung einige Leser überraschen wird. Ich zweifle wenig daran, daß Viele das Starkwerden und Wachsen in der Heiligung als eine Art besonderer Gottesgabe ansehen, welche nur sehr Wenige zu erlangen hoffen dürfen, Sie bewundern sie in Büchern von ferne. Sie halten sie für schön, wenn sie ein Beispiel davon in ihrer Nähe erblicken. Aber daß sie in dem Bereiche eines Jeden liegt, der Gedanke scheint ihnen niemals in den Sinn zu kommen. Kurz, sie halten sie für eine Art Monopol, welches nur einigen wenigen begünstigten Gläubigen gewährt wird, aber sicherlich nicht allen.

Ich glaube indessen, daß dieses ein sehr gefährlicher Irrthum ist. Ich glaube, daß geistige sowohl als natürliche Größe weit mehr von dem Gebrauche der Mittel abhängt, welche in Jedermanns Bereich sind, als von sonst etwas. Es versteht sich, daß ich nicht sage, wir haben ein Recht, eine wunderbare Gewährung geistiger Gaben zu erwarten. Aber dieses sage ich, daß, wenn Jemand erst zu Gott bekehrt ist, so hängt es nicht wenig von seinem eigenen Fleiße in der Benutzung von Gottes angegebenen Mitteln ab, ob er in der Heiligung zunimmt oder nicht. Und ich behaupte zuversichtlich, daß das Hauptmittel, durch welches die meisten Gläubigen in der Kirche Christi groß geworden sind, die Gewohnheit des fleißigen Gebetes im Kämmerlein ist.

Sehet die Lebensgeschichte der herrlichsten und besten unter Gottes Dienern durch, sei's in der Bibel oder sonst wo. Sehet, was von Moses geschrieben steht, und von David, und von Daniel, und von Paulus. Bemerket, was von Luther und Calvin, den Reformatoren, erzählt wird. Beachtet, was von den verborgenen Andachtsübungen von Johann Arndt, Spener und Tersteegen berichtet wird. Sagt mir von einem aus all der frommen Genossenschaft der Heiligen und Märtyrer, welcher nicht dieses Kennzeichen sehr hervorstechend an sich trüge er war ein Mann des Gebets, O Leser! verlasse dich darauf, das Gebet vermag viel.

Das Gebet erlangt neue und dauernde Ausgießungen des heiligen Geistes. Er allein beginnt das Werk der Gnade in des Menschen Herz. Er allein kann dasselbe fördern und ihm Gedeihen geben. Aber der gütige Geist hat es gern, daß man ihn darum bitte. Und diejenigen, welche am meisten beten, werden immer am meisten von seinem Einfluß erfahren.

Das Gebet ist das sicherste Schutzmittel gegen den Teufel und die Anfälle der Sünde. Diejenige Sünde wird sich niemals in der Seele behaupten, gegen welche man von Herzen betet. Der Teufel wird niemals lange über uns herrschen, den wir den Herrn bitten auszutreiben. Aber dann müssen wir auch unsern Krankheitsfall ganz unserm himmlischen Arzte darlegen, wenn er uns tägliche Hülfe gewähren soll. Wir müssen die uns inwohnenden Teufel vor die Füße Christi schleppen und Ihn anflehen, sie zur Hölle zurückzujagen.

Leser, wünschest du zuzunehmen in der Gnade und in der Heiligung? Sei versichert, wenn du es wünschest, so kann es für dich keine wichtigere Frage geben, als die: Betest du?

6) Ich frage, ob du betest, weil die Unterlassung des Gebets eine Hauptursache des Abtrünnigwerdens ist.

Es kommt vor, daß Menschen in der Gottseligkeit zurückgehen, nachdem sie einen guten Anfang gemacht haben. Manche Menschen eilen eine Zeit lang auf dem rechten Wege voran, und wenden sich dann, gleich den Galatern, seitwärts zu falschen Lehrern. Manche bekennen laut, so lange ihre Gefühle warm sind, gleich Petrus, und verläugnen bald darauf ihren Herrn in der Stunde der Versuchung. Andere verlassen die erste Liebe, gleich den Ephesern, oder erkalten in ihrem Eifer zum Guten, gleich Markus, dem Begleiter des Paulus. Noch Andere endlich folgen einem Apostel wohl eine Zeitlang, aber verlassen ihn dann, wie Demas, weil sie die Welt wieder lieb gewonnen haben.

Es ist ein trauriges Ding um einen Abtrünnigen. Von allem Unglück, welches einen Menschen treffen kann, halte ich es für das schlimmste. Ein gestrandetes Schiff, ein flügellahmer Adler, ein Garten voll Unkraut, eine Harfe ohne Saiten, eine verfallene Kirche, das sind alles traurige Anblicke, aber ein Abtrünniger ist der traurigste. Daß wahre Gnade niemals erlöschen wird, und wahre Gemeinschaft mit Christo niemals aufgehoben werden wird, daran zweifle ich nicht. Aber ich glaube, daß ein Mensch so weit abfallen kann, daß er seine eigne Gnade aus den Augen verliert und an seinem eignen Heil verzweifelt. Und wenn das nicht die Hölle ist, so ist es sicherlich nahe dabei. Ein krankes Gewissen, ein Gemüth voll Selbstüberdruß, ein Gedächtniß voll Selbstvorwürfen, ein von den Pfeilen des Herrn durchbohrtes Herz, ein durch die Last innerer Anklage gebrochener Geist, alles das ist ein Vorgeschmack der Hölle. Es ist eine Hölle auf Erden. Wahrlich, jener Ausspruch des weisen Mannes ist feierlich und gewichtig: „Einem losen Menschen, d. i. einem, der mit seinem Herzen vom Herrn gewichen ist, wird es gehen, wie er handelt.“ (Spr. 14, 14)

Was ist denn nun die Ursache des meisten Abtrünnigwerdens? Ich glaube als allgemeine Regel, eine der Hauptursachen ist die Unterlassung des Gebets im Kämmerlein, Es versteht sich, daß die geheime Geschichte der Abtrünnigen bis zum jüngsten Tage verborgen bleiben wird. Ich kann nur als ein Diener Christi und ein Erforscher des Herzens meine Meinung abgeben. Diese Meinung ist, ich wiederhole es ausdrücklich, daß Abtrünnigwerden in der Regel zuerst mit Unterlassung des Gebets beginnt.

Bibellesen ohne Gebet, Predigthören ohne Gebet, Heirathen ohne Gebet, Reisen ohne Gebet, Wohnsitze ohne Gebet wählen, Freundschaften ohne Gebet schließen, das tägliche Gebet selber schnell und ohne Inbrunst abmachen, alles das sind die Arten von Rückschritten, durch welche mancher Christ in einen Zustand geistiger Lähmung versinkt, oder den Punkt erreicht, wo Gott es zuläßt, daß er einen entsetzlichen Fall thut.

Dieses ist der Weg, auf welchem die saumseligen Lot's entstehen, die unstäten Simson's, die weiber-liebenden Salomo's, die unbeständigen Assa's, die wankelmüthigen Josaphats, die allzubesorgten Martha's, derer so viele in der Kirche Christi zu finden sind. Oftmals ist die einfache Geschichte solcher Fälle diese: sie wurden nachlässig im Gebet.

Leser sei überzeugt, daß die Menschen im Geheimen lange vorher fallen, ehe sie öffentlich fallen. Sie sind abtrünnig auf ihren Knieen, lange bevor sie öffentlich vor den Augen der Welt abfallen. Wie Petrus lassen sie zuerst des Herrn Geheiß, zu wachen und zu beten, außer Acht, und verlieren dann wie Petrus, ihre Stärke, und verläugnen den Herrn in der Stunde der Versuchung.

Die Welt bemerkt ihren Fall und spottet ihrer laut. Aber die Welt weiß nichts von dem wahren Grunde. Den Heiden gelang es, den alten Christen Origenes dahin zu bringen, einem Götzen Weihrauch zu streuen, indem sie ihm eine schlimmere Strafe als den Tod androhten. Dann frohlockten sie gewaltig beim Anblick seiner Feigheit und Abtrünnigkeit. Aber die Heiden wußten die Thatsache nicht, welche Origenes selber uns erzählt, daß er gerade an demselben Morgen sein Schlafzimmer eilig verlassen hatte, ohne seine gewöhnlichen Gebete zu beenden.

Leser, wenn du in der That ein Christ bist, so bin ich sicher, daß du niemals abtrünnig werden wirst. Aber wenn du nicht wünschest ein abtrünniger Christ zu werden, so gedenke der Frage, welche ich dir vorlege: Betest du?

7) Ich frage endlich, ob du betest, weil das Gebet eines der besten Mittel ist zum Glück und zur Zufriedenheit.

Wir leben in einer Welt, die reich an Kummer ist. Das ist immer ihr Zustand gewesen, seit die Sünde hineinkam. Es kann keine Sünde geben ohne Kummer. Nur Wenige sind zu finden, welche lange leben ohne Kummer und Sorgen von einer oder anderer Art. Unser Leib, unser Eigenthum, unsere Familien, unsere Kinder, unsere Verwandten, unsere Dienstboten, unsere Freunde, unsere Nachbarn, unser weltlicher Beruf, alles und jedes sind Quellen der Sorge. Krankheiten, Todesfälle, Verluste, Täuschungen, Abschiede, Trennungen, Undank, Verläumdung, alles das sind gewöhnliche Dinge. Wir können nicht ohne sie durch das Leben kommen. Heute oder morgen finden sie uns auf. Je wärmer unsere Zuneigungen, desto größer sind unsere Betrübnisse, und je mehr wir lieben, desto mehr haben wir zu weinen.

Und was ist das beste Mittel zu einem heiteren Sinn in einer solchen Welt? Wie sollen wir durch dieses Thal der Thränen mit dem wenigsten Schmerz hindurchkommen? Ich weiß kein besseres Mittel als die Gewohnheit, Alles im Gebete vor Gott zu bringen. Das ist der einfache Rath, welchen die Bibel ertheilt, sowohl im Alten Testament, als in dem Neuen. Was sagt der Psalmist? „Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten; so sollst du mich preisen.“ (Psalm, 50, 15.) „Wirf dein Anliegen auf den Herrn. Der wird dich versorgen, und wird den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen.“ (Psalm 55, 23.) Was sagt der Apostel Paulus? „Sorget nichts; sondern in allen Dingen lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden. Und der Friede Gottes, welcher höher ist, denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu.“ (Phil. 4, 7.) Was sagt der Apostel Jacobus? „Leidet Jemand unter euch, der bete.“ (Jac. 5, 13.)

Das war die Sitte bei allen Heiligen, deren Geschichte wir in der heiligen Schrift aufgezeichnet finden. Das that Jacob, als er vor seinem Bruder Esau sich fürchtete; Moses, als das Volk ihn steinigen wollte in der Wüste; Josua, als Israel geschlagen war vor Ai; David, als er in Gefahr war zu Kegila; Hiskia, als er den Brief von Sanherib erhielt; die Gemeinde, als Petrus im Gefängniß saß; Paulus, als er zu Philippi in's innerste Gefängniß geworfen und seine Füße in den Stock gelegt worden waren.

Der einzige Weg, in einer Welt, wie diese, wirklich glücklich zu sein, ist, alle unsere Sorgen stets auf Gott zu werfen. Der Versuch, ihre Bürden selber zu tragen ist es, was so oft die Gläubigen traurig macht. Wenn sie nur den Herrn in ihrer Noth anrufen, so wird Er sie in den Stand setzen, sie so leicht zu tragen, wie Simson die Thore von Gaza trug. Wenn sie entschlossen sind, sie für sich zu behalten, so werden sie eines Tages finden, daß die Heuschrecke selbst eine Bürde ist.

Ein Freund ist da, welcher stets darauf wartet, uns zu helfen, wenn wir nur vor Ihm unsern Kummer ausschütten wollen, ein Freund, welcher die Armen, und die Kranken, und die Bekümmerten tröstete, als Er auf Erden war, ein Freund, welcher des Menschen Herz kennt, denn Er lebte dreiunddreißig Jahre als Mensch unter uns, ein Freund, welcher weinen kann mit den Weinenden, denn Er war ein Mann voller Schmerzen und Krankheit, ein Freund, welcher uns zu helfen vermag, denn niemals gab es eine irdische Noth, aus welcher Er nicht erlösen konnte. Dieser Freund ist Jesus Christus. Der Weg, um glücklich zu werden, ist, Ihm stets unsere Herzen zu eröffnen. O! wären wir doch Alle jenem armen Negerchristen gleich, welcher, als man ihn bedrohte und strafte, nur antwortete: „Ich muß es dem Herrn sagen.“

Jesus kann Diejenigen glücklich machen, welche auf Ihn vertrauen und Ihn anrufen, welches auch ihre äußere Lage sein mag. Er kann ihnen den Frieden des Herzens schenken im Gefängniß, - Zufriedenheit in der Armuth, Freude beim Raub ihrer Güter, Trost am Rande des Grabes. Es ist eine Fülle von Gnade in Ihm für alle seine gläubigen Glieder, - eine Fülle, welche bereit ist, sich über einen Jeden zu ergießen, welcher darum bitten will. O, wenn die Menschen doch begreifen wollten, daß das Glück nicht von äußern Umständen abhängt, sondern von dem Zustande des Herzens.

Das Gebet kann das Kreuz erleichtern, welches uns auch noch so schwer ist. Es kann Einen an unsere Seite herabrufen, welcher uns helfen wird, es zu tragen. Das Gebet kann uns eine Thür öffnen, wenn unser Weg verschlossen zu sein scheint. Es kann Einen herabrufen, welcher sagen wird: „Dieses ist der Weg, denselbigen gehet.“ Das Gebet kann einen Hoffnungsstrahl hereinlassen, wenn alle unsere irdischen Aussichten verfinstert scheinen. Es kann Einen herabbringen, welcher sagen wird: „Ich will dich nicht verlassen, noch versäumen.“ Das Gebet kann uns Trost bringen, wenn diejenigen, welche wir am meisten lieben, fortgenommen werden, und wenn die Welt verödet scheint. Es kann Einen herabbringen, welcher die Lücke in unserm Herzen mit Sich Selber auszufüllen und zu dem Meere darinnen zu sprechen vermag: „Schweig' und verstumme!“ Ach! wären doch die Menschen nicht, wie Hagar in der Wüste, so blind, daß sie den Brunnen lebendigen Wassers dicht neben sich nicht sehen!

Leser, ich wünsche sehr, daß du glücklich seist. Ich weiß, ich kann seine nützlichere Frage an dich richten, als diese: Betest du?

Und nun, Leser, ist es hohe Zeit für mich, diesen Tractat zu Ende zu bringen. Ich bin gewiß, daß ich Dinge vorgebracht habe, welche du ernstlich erwägen wirst. Ich bete von Herzen zu Gott, daß diese Erwägung deiner Seele zum Segen gereichen möge.

1. Laßt mich ein Abschiedswort an Diejenigen richten, welche nicht beten. Ich darf nicht annehmen, daß Alle, welche diese Seiten lesen, Leute sind, welche beten. Wenn du kein Betender bist, so laß mich heute zu dir reden um Gottes Willen.

Leser, der du nicht betest, ich kann dich nur warnen, aber ich warne dich auf's Feierlichste. Ich warne dich, weil du in einer Lage voll schrecklicher Gefahr bist. Wenn du in deinem jetzigen Zustande stirbst, so bist du eine verlorne Seele. Du wirst nur wieder auferstehen, um auf ewig elend zu sein. Ich warne dich, weil du durchaus ohne Entschuldigung bist. Es giebt nicht einen einzigen gültigen Grund, den du dafür vorbringen könntest, daß du ohne Gebet lebst.

Sprich nicht: Ich weiß nicht, wie ich beten soll. Das Gebet ist das Einfachste im Gottesdienst. Beten ist nichts Anderes als mit Gott reden. Man bedarf dazu keiner Gelehrsamkeit, keiner tiefen Erkenntniß noch wissenschaftlicher Bildung. Nichts ist dazu erforderlich als ein Herz und ein guter Wille. Das schwächste Kindlein kann schreien, wenn es hungrig ist. Der ärmste Bettler kann seine Hand nach einem Almosen ausstrecken, und braucht nicht nach schönen Worten zu suchen. Der Unwissendste kann etwas finden, was er Gott sage, wenn er nur Lust dazu hat.

Sprich nicht: Ich habe keinen passenden Ort zum beten. Jedermann kann einen Ort finden, welcher verborgen genug dazu ist, wenn er nur will. Unser Herr betete auf einem Berge; Petrus auf dem Söller des Hauses; Isaak auf dem Felde; Nathanael unter dem Feigenbaum; Jonas im Bauch, des Wallfisches. Jeder Ort kann ein stilles Kämmerlein werden, ein Betzimmer, ein Bethel, ein Heiligthum, in dem Gott gegenwärtig ist.

Sprich nicht: Ich habe keine Zeit. Es ist Zeit genug vorhanden, wenn man sie nur anwenden will. Die Zeit mag kurz sein, aber sie ist stets lang genug zum Gebet. Daniel hatte alle Geschäfte eines Königreichs zu besorgen, und doch betete er dreimal täglich. David war der Beherrscher eines mächtigen Volks, und doch sagte er: „Des Abends, Morgens und Mittags will ich klagen und heulen, so wird Er meine Stimme hören.“ (Ps. 55, 18.) Wenn man ernstlich Zeit sucht, so kann man immer Zeit finden.

Sprich nicht: Ich kann nicht beten, bis ich den Glauben habe und ein neues Herz; und ich muß stille sitzen und darauf warten. Das heißt Sünde auf Sünde häufen. Es ist schlimm genug, unbekehrt zu sein und zur Hölle zu fahren. Es ist noch schlimmer, zu sagen: „Ich weiß es, aber ich will nicht um Gnade rufen.“ Dieses ist ein Vorsatz, für welchen es in der Schrift keinen Grund gibt. „Suchet den Herrn, sagt Jesajas, weil er zu finden ist; rufet ihn an, weil er nahe ist.“ (Jes. 55, 6.) „Nehmet diese Worte mit euch, und bekehret euch zu dem Herrn,“ sagt Hosea. (Hos. 14, 3.) „Thue Buße und bitte Gott,“ sagt Petrus zu Simon dem Zauberer. (Apostelg 8. 22) Wenn du den Glauben verlangst und ein neues Herz, so gehe und rufe den Herrn darum an. Der bloße Versuch zu beten hat oft eine tobte Seele erwecket. Ach! keinen Teufel giebt es, welcher so gefährlich wäre wie ein stummer Teufel.

Ach! Leser, der du nicht betest, wer und was bist du, daß du gar nichts von Gott erbitten willst? Hast du einen Bund geschlossen mit dem Tode und der Hölle? Hast du dich verständigt mit dem Wurm und dem Feuer? Hast du keine Sünden, die vergeben werden müssen? Hast du keine Furcht vor den ewigen Qualen? Hast du keine Sehnsucht nach dem Himmel? Ach! möchtest du doch aufwachen aus deiner jetzigen Thorheit! Ach! möchtest du doch dein Ende bedenken! Ach! möchtest du dich doch erheben und Gott anrufen! Ach! Ein Tag wird kommen, wo Viele laut beten werden: „Herr, Herr, thue uns auf!“ aber zu spät; wo Viele die Berge anflehen werden, sie zu bedecken, und die Hügel, über sie zu fallen, sie welche niemals Gott anrufen wollten. Leser, in aller Liebe warne ich dich. Hüte dich, daß solches nicht das Ende deiner Seele sei. Das Heil ist dir nahe. Verliere den Himmel nicht, dadurch, daß du nicht darum bittest.

2. Laßt mich ferner ein Wort reden zu Denen, welche ein ernstliches Verlangen nach dem Heil fühlen, aber nicht wissen, welche Schritte sie thun oder wo sie anfangen sollen. Ich kann nicht anders als hoffen, daß einige Leser in diesem Gemüthszustande sein müssen, und wäre nur Ein solcher da, so muß ich ihm Aufmunterung und Rath ertheilen.

Bei einer jeden Reise muß ein erster Schritt geschehen. Das Stillsitzen muß sich in ein Vorwärtsbewegen verwandeln. Die Reisen Israels von Aegypten nach Canaan waren lang und mühselig. Vierzig Jahre gingen vorüber, ehe sie den Jordan überschritten. Und doch war ein Schritt da, durch den sie sich zuerst in Bewegung fetzten, als sie von Ramses nach Suchoth zogen. Wann thut ein Mensch wirklich seinen ersten Schritt auf seinem Wege aus der Sünde und der Welt hinaus? Er thut ihn an dem Tage, wo er zuerst von Herzen betet.

Bei jedem Gebäude muß der erste Stein gelegt, und der erste Schlag geschlagen werden. Die Arche war 120 Jahre im Bau. Und doch war ein Tag, wo Noah seine Art an den ersten Baum legte, welchen er fällte, um sie zu bauen. Der Tempel Salomo's war ein herrlicher Bau, Und doch war ein Tag, wo der erste mächtige Stein dazu am Fuße des Berges Moriah niedergelegt wurde. Wann fängt der Bau des Geistes im Herzen des Menschen an sichtbar zu werden? So weit wir urtheilen können dann, wenn er zuerst vor Gott sein Herz im Gebet ausschüttet.

Leser, wenn du das Heil suchest, und wissen willst, was du thun sollst, so rathe ich dir, noch am heutigen Tage zu dem Herrn Jesus Christus zu gehen, an dem ersten besten verborgenen Orte Ihn im Gebete anzuflehen, deine Seele zu retten.

Sage zu Ihm, daß du gehört habest: Dieser nimmt die Sünder an! daß Er gesagt habe: Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinaus stoßen. Sage zu Ihm, du seist ein armer unwürdiger Sünder, du kämest zu ihm im Vertrauen auf Seine eigene Einladung. Sage zu Ihm, du beföhlest dich gänzlich und durchaus in Seine Hände, du fühltest dich unwürdig und Hülflos, und du setztest keine Hoffnung auf dich selbst, und du hättest keine Hoffnung errettet zu werden, wenn Er dich nicht errette. Flehe Ihn an, daß Er dich von der Schuld, der Herrschaft, und der Strafe der Sünde erlöse. Flehe Ihn an, dir zu vergeben und dich mit Seinem eigenen Blute zu waschen. Flehe Ihn an, dir ein neues Herz zu geben und den heiligen Geist in deine Seele zu pflanzen. Flehe Ihn an, dir Gnade zu verleihen und Glauben, und Willen und Kraft, Sein Jünger und Diener zu werden von heute an bis in Ewigkeit. Ach! Leser, gehe noch heute hin und sage dies Alles zu dem Herrn Jesus Christus, wenn es dir wirklich ein Ernst ist um deine Seele.

Sage es zu Ihm in deiner eignen Weise und mit deinen eignen Worten. Wenn ein Arzt dich in der Krankheit besuchte, so könntest du ihm sagen, wo du Schmerz fühltest. Wenn deine Seele wirklich ihr Leiden fühlt, so kannst du sicherlich etwas finden, um es zu Christus zu sagen.

Zweifle nicht an Seiner Bereitwilligkeit, dich zu retten, weil du ein Sünder bist. Es ist Christi Amt, die Sünder zu retten. Er sagt selber: „Ich bin gekommen zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten.“ (Luc. 5, 22.)

Warte nicht, weil du dich unwürdig fühlst. Warte auf Nichts. Warte auf Niemanden. Warten kommt vom Teufel. Gerade so wie du bist, gehe zu Christus. Je schlimmer du bist, desto nöthiger ist es, daß du dich an Ihn wendest. Du wirst dich nimmer bessern, wenn du wegbleibst.

Fürchte nicht, weil dein Gebet nur Stammeln ist, deine Worte schwach, und deine Sprache arm. Jesus kann dich verstehen. Wie eine Mutter das erste Stammeln ihres Kindleins versteht, gerade so versteht der hochgelobte Heiland die Sünder. Er kann einen Gedanken lesen, und in einem Seufzer einen Sinn finden.

Verzweifle nicht, wenn du nicht sogleich eine Antwort erhältst. Während du sprichst, hört Jesus zu. Wenn Er mit der Antwort zögert, so geschieht es nur aus weisen Gründen, und um zu versuchen, ob es dein Ernst ist. Bete weiter, und die Antwort wird sicherlich kommen. Ob sie auch zögert, warte darauf. Sie wird sicherlich zuletzt kommen.

Ach! Leser, wenn du irgend Verlangen nach dem Heil hast, so erinnere dich des Rathes, welchen ich dir heute gegeben habe. Handle darnach ehrlich und aufrichtig, und du wirst errettet werden,

3. Laßt mich endlich ein Wort reden zu Denen, welche beten. Ich bin gewiß, daß Einige, welche diesen Tractat lesen, wohl wissen, was das Gebet ist und der Geist der Kindschaft. Allen Solchen biete ich einige Worte brüderlichen Rathes und brüderlicher Ermahnung. Der Weihrauch, welcher in der Stiftshütte dargebracht werden sollte, mußte auf eine besondere Weise bereitet werden. Nicht jede Art von Weihrauch wurde angenommen. Vergessen wir dieses nicht, und seien wir sorgfältig in der Wahl des Inhalts und in der Weise unserer Gebete.

Brüder, die ihr betet, wenn ich Etwas von eines Christen Herzen verstehe, so seid ihr oft mit euren eignen Gebeten unzufrieden. Die Worte des Apostels: „So finde ich in mir nun ein Gesetz, der ich will das Gute thun, daß mir das Böse anhängt,“ (Röm. 7, 21.) sind euch niemals so gänzlich klar, als zuweilen, wenn ihr auf den Knieen lieget. Ihr könnt Davids Worte verstehen: „Ich hasse eitle Gedanken.“ Ihr könnt euch in die Lage jenes armen bekehrten Hottentotten versetzen, welchen man beten hörte: „Herr, befreie mich von allen meinen Feinden, und vor Allem von dem schlechten Menschen, mir selbst.“ Es giebt wenige Kinder Gottes, welche nicht oft finden, daß die Zeit des Gebets für sie eine Zeit des Kampfes ist. Der Teufel fühlt einen besondern Groll gegen uns, wenn er uns auf den Knieen erblickt. Und doch glaube ich, daß Gebete, welche uns keine Mühe kosten, mit großem Mißtrauen betrachtet werden sollten. Ich glaube, daß wir sehr schwache Beurtheiler für die Güte unserer Gebete sind, und daß das Gebet, welches uns am Wenigsten gefällt, oft Gott am Meisten gefällt. Laßt mich denn, als einen Gefährten in dem christlichen Kampfe, euch einige Worte der Ermahnung bieten. Eines wenigstens fühlen wir Alle, wir müssen beten. Wir können es nicht aufgeben. Wir müssen darin fortfahren.

Ich empfehle also eurer Aufmerksamkeit die Wichtigkeit der Ehrfurcht und Demuth im Gebet. Laßt uns niemals vergessen, was wir sind, und was für eine feierliche Sache es ist, mit Gott zu reden. Hüten wir uns, in seine Gegenwart zu treten mit sorgloser und unbedachtsamer Hast. Sagen wir bei uns: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anders denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Wenn ich nicht meine, was ich sage, so scherze ich mit Gott. Wo ich Unrechtes vorhätte in meinem Herzen, so würde der Herr nicht hören. Laßt uns im Sinne haben die Worte Salomos: „Sei nicht schnell mit deinem Munde, und laß dein Herz nicht eilen, etwas zu reden vor Gott; denn Gott ist im Himmel, und du auf Erden.“ (Pred. Sal. 6, 2 ) Als Abraham mit Gott sprach, sagte er: „Ich bin Staub und Asche.“ Als Jacob mit Gott sprach, sagte er: „Ich bin allzu gering,“ Thun wir desgleichen.

Ich empfehle euch zweitens an, die Wichtigkeit, im Geiste zu beten. Ich meine damit, daß wir uns stets bemühen sollen, die unmittelbare Hülfe des heiligen Geistes bei unsern Gebeten zu haben, und uns zu hüten vor eitler Förmlichkeit. Nichts ist so geistig, daß es nicht zur bloßen Form werden könnte, und dies gilt ganz besonders vom Gebet. Wir können unvermerkt in die Gewohnheit kommen, die allerpassendsten Worte zu gebrauchen, und biblische Bitten auszusprechen, und es doch ganz mechanisch und ohne Gefühl thun, und täglich einen alten ausgetretenen Pfad durchwandern, wie das Pferd in der Mühle. Ich wünschte diesen Punkt mit Vorsicht und Behutsamkeit zu berühren. Ich weiß, daß es gewisse große Dinge gibt, weiche wir täglich bedürfen, und daß es nicht nothwendig bloße Form ist, mit denselben Worten um diese Dinge zu bitten. Die Welt, der Teufel und unsere Herzen sind täglich dieselben. Nothwendig müssen wir täglich den bekannten Pfad betreten. Aber so viel sage ich, wir müssen in diesem Punkte sehr sorgsam sein.

Wenn das Skelett und der Umriß unserer Gebete durch Gewohnheit fast zur bloßen Form geworden ist, so laßt uns streben, daß die Bekleidung und Ausfüllung unserer Gebete so viel als möglich dem Geiste angehöre. Was das Beten aus einem Buche betrifft, so kann ich diese Gewohnheit nicht loben. Wenn wir unsern Aerzten den Zustand unsers Körpers ohne Buch sagen können, so sollten wir auch fähig sein, Gott den Zustand unserer Seele zu sagen. Ich habe nichts dawider, daß Einer Krücken gebraucht, wenn er an einem Beinbruch leidet. Es ist besser, Krücken zu gebrauchen, als gar nicht zu gehen. Wenn ich ihn aber sein Lebenlang auf Krücken sähe, so würde ich ihm nicht dazu Glück wünschen. Ich würde wünschen, ihn stark genug zu sehen, um seine Krücken fortzuwerfen.

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit an, das Gebet zu einem regelmäßigen Lebens Geschäft zu machen. Ich könnte etwas von der Nützlichkeit regelmäßiger Tageszeiten für das Gebet sagen. Gott ist ein Gott der Ordnung. Die Stunden des Morgen- und Abendopfers in dem jüdischen Tempel waren nicht ohne Bedeutung also angesetzt. Unordnung ist offenbar eine von den Früchten der Sünde. Aber ich möchte Niemanden Zwang anthun. Das nur sage ich, daß es wesentlich für die Gesundheit eurer Seele ist, das Beten zu einem Theil eures Geschäftes für jede 24 Stunden eures Lebens zu machen. Gerade wie ihr Zeit zum Essen, Schlafen und Arbeiten bestimmt, also bestimmt auch Zeit zum Beten. Wählet euch eure Stunden und Zeiten. Zum Allerwenigsten sprechet mit Gott am Morgen, ehe ihr mit der Welt sprecht; und sprechet mir Gott am Abend, nachdem ihr mit der Welt fertig geworden seid. Aber setzet es in eurem Geiste fest, daß das Gebet eine von den Hauptsachen jedes Tages ist. Treibt es nicht in einen Winkel. Gebt ihm nicht Fetzen und Ueberbleibsel und Abfälle eures Tages. Was ihr auch sonst thun möget, macht das Gebet zu einem Geschäfte.

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit der Ausdauer im Gebete an. Wenn ihr einmal die Gewohnheit angenommen habt, so gebt sie niemals auf. Euer Herz wird zuweilen sagen: „du hast ja Familienandacht gehalten; was wird es denn viel schaden, wenn du das Gebet im Verborgenen unterlässest?“ Euer Körper wird zuweilen sagen: „du bist unwohl, oder schläfrig, oder ermüdet; du brauchst nicht zu beten.“ Euer Kopf wird zuweilen sagen: „du hast heute wichtige Geschäfte zu besorgen; kürze dein Gebet ab.“ Sehet alle solche Gedanken für Eingebungen des Teufels an. Sie sagen mit andern Worten: „Vernachlässige deine Seele.“ Ich will nicht behaupten, daß die Gebete immer von derselben Länge sein sollten; aber ich sage, laßt keine Entschuldigung euch vom Beten abbringen. Paulus sagte nicht umsonst: „Haltet an am Gebet“ und „betet ohne Unterlaß.“ Er meinte damit nicht, daß man immer auf den Knieen liegen sollte, wie eine alte Secte, die Euchiten genannt, annahmen. Aber er meinte, daß unser Gebet gleich dem immerwährenden Brandopfer sein sollte, eine Sache, die ununterbrochen jeden Tag beibehalten würde; daß es sein sollte gleich der Saatzeit und der Ernte, gleich Sommer und Winter, eine Sache, die unaufhörlich zu regelmäßigen Zeiten wiederkehrt; daß es sein sollte gleich dem Feuer auf dem Altar, welches nicht immer Opfer verzehrte, aber niemals vollständig ausging. Vergeßt niemals, daß ihr die Morgen- und Abendandacht durch eine unendliche Kette von kurzen Gebeten in Ausrufen den ganzen Tag hindurch verknüpfen könnt. Sogar in Gesellschaft, bei der Arbeit, oder auf der Straße könnt Ihr im Stillen kleine geflügelte Boten zu Gott hinaufsenden, wie Nehemia that in Gegenwart des Artaxerxes, Und denket niemals, daß die Zeit verschwendet ist, welche man an Gott wendet. Eine Nation wird dadurch nicht ärmer, daß sie ein Jahr an Arbeitstagen unter sieben verliert, indem sie den Sabbath feiert. Ein Christ findet niemals, daß er auf die Dauer zu kurz kommt, indem er beim Beten beharrt.

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit der Inbrunst beim Beten an. Es ist nicht nöthig, daß man schreie, oder rufe, oder sehr laut sei, um zu beweisen, daß man eifrig ist. Aber es ist zu wünschen, daß wir herzlich und inbrünstig und warm seien, und daß wir so bitten, als solche, die wahrhaftig interessiert sind bei dem, was sie thun. Das ernstliche, inbrünstige Gebet ist es, welches viel vermag, und nicht das kalte, schläfrige, träge, gedankenlose. Das ist eine Lehre, welche wir aus den Ausdrücken entnehmen, welche in der Schrift vom Gebete gebraucht werden. Es heißt „anrufen, anklopfen, ringen.“ Das ist die Lehre, welche uns die Beispiele der Bibel geben. Jacob ist ein Beispiel. Er sagte zu dem Engel zu Pniel: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ (1. Mos. 25, 26.) Daniel ist ein anderes Beispiel. Hört wie er zu Gott flehete: „Ach, Herr, höre, ach Herr, sei gnädig, ach Herr, merke auf, und thue es, und verziehe nicht, um dein selbst willen, mein Gott.“ (Dan. 9, 19.) Unser Herr Jesus Christus ist ein anderes Beispiel. Es steht von ihm geschrieben: „Und er hat in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Thränen geopfert zu dem, der ihm vom Tode konnte aushelfen.“ (Ebräer 5, 7.) Ach! wie matt und lau erscheinen unsere Gebete im Vergleich mit jenen! Mit Recht könnte Gott zu Manchem unter uns sagen: „Ihr verlanget wirklich nicht, warum ihr bittet!“ Laßt uns versuchen, diesem Fehler abzuhelfen. Laßt uns laut anklopfen an dem Gnadenthore, wie die Barmherzigkeit in der „Pilgerreise,“ als ob wir umkommen müßten, wenn Gott uns nicht erhört. Laßt uns den Gedanken festhalten, daß kalte Gebete ein Opfer ohne Feuer sind. Laßt uns der Geschichte des Demosthenes, des großen Redners, gedenken. Als Jemand zu ihm kam und ihn bat, seine Sache zu führen, hörte er ihn ohne Aufmerksamkeit an, so lange als er seine Geschichte ohne Eifer erzählte. Der Mann bemerkte es und rief mit Heftigkeit, daß Alles wahr wäre. „Ah!“ sagte Demosthenes, „jetzt glaube ich euch!“

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit an, mit Glauben zu beten. Wir sollten uns bemühen zu glauben, daß unsere Gebete immer erhört werden, und daß, wenn wir um Sachen nach Gottes Willen bitten, sie immer gewährt werden. Dieses ist der klare Befehl unsers Herrn Jesu Christi: „Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubet nur, daß ihr es empfangen werdet; so wird es euch werden.“ (Marc. 11, 24.) Der Glaube ist für das Gebet, was die Feder für den Pfeil ist: ohne ihn wird das Gebet sein Ziel nicht treffen. Wir sollten die Gewohnheit annehmen, Verheißungen in unserm Gebete vorzubringen. Wir sollten uns auf irgend eine Verheißung berufen und sagen: „Herr, hier hast du dein eignes Wort gegeben. Thue an uns, was du gesagt hast.“ Das pflegten Jacob, und Mosts, und David zu thun. Der 119. Psalm ist voll von Bitten „nach deinem Worte.“ Vor Allem sollten wir uns der Gewohnheit befleißigen, Antworten auf unsre Gebete zu erwarten. Wir sollten es machen wie der Kaufmann, welcher seine Schiffe zur See schickt. Wir sollten nicht ruhen, bis wir einige wiederkehren sehen. Ach! es gibt wenige Punkte, in welchen die Christen so viel fehlen, als in diesem. Die Gemeinde zu Jerusalem betete ohne Unterlaß für Petrus im Gefängniß; aber als ihr Gebet eine Antwort erhielt, wollten sie es kaum glauben. (Apostelg. 12, 15.) Es ist ein erwägenswerthes Wort: „Es gibt kein sichereres Zeichen für Leichtfertigkeit beim Gebet, als gleichgültig zu sein gegen das, was man durchs Gebet erlangt.“

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit der Dreistigkeit im Gebet an. Es gibt eine unziemliche Vertraulichkeit in den Gebeten einiger Leute, welche ich nicht loben kann. Aber es gibt eine gewisse heilige Dreistigkeit, welche äußerst wünschenswerth ist. Ich meine solch eine Dreistigkeit wie die des Moses, als er Gott anfleht, Israel nicht zu verderben: „Warum,“ sagt er, „sollen die Egypter sagen und sprechen: Er hat sie zu ihrem Unglück ausgeführet, daß er sie erwürge im Gebirge, und vertilge sie von dem Erdboden? Kehre dich von dem Grimm deines Zorns.“ (2. Mos. 32, 12.) Ich meine solch eine Dreistigkeit wie die des Josua, als die Kinder Israels vor Ai geschlagen waren: „Was,“ sagte er, „willst du denn bei deinem großen Namen thun?“ (Josua 7, 9.) Das ist die Dreistigkeit, durch welche Luther sich auszeichnete. Jemand, der ihn beten hörte, sagte: „Welche Kühnheit, - welche Zuversicht war selbst in seinen Ausdrücken! Mit solcher Ehrfurcht flehete er, wie Einer, der zu Gott betet, und doch mit solcher Hoffnung und Zuversicht, als ob er mit einem liebevollen Vater oder Freunde spräche.“ Das ist die Dreistigkeit, welche Bruce auszeichnete, einen großen schottischen Gottesgelehrten aus dem 17. Jahrhundert. Man sagte von seinen Gebeten, daß sie wie „in den Himmel hinauf geschossene Bolzen“ wären. Auch hierin, fürchte ich, fehlen wir gar sehr. Wir machen nicht gehörig Gebrauch von den Vorrechten der Gläubigen. Wir rufen nicht so oft, wie wir könnten: „Herr, sind wir denn nicht dein Volk? Ist es nicht zu deinem Ruhme, daß wir geheiligt werden sollten? Ist es nicht zu deiner Ehre, daß dein Evangelium sich ausbreiten sollte?“

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit der Fülle im Gebet an. Ich vergesse nicht, daß unser Herr uns vor dem Beispiel der Pharisäer warnt, welche zum Schein lange Gebete hielten; und daß er uns befiehlt, beim Beten keine leeren Wiederholungen zu gebrauchen. Aber ich kann auf der andern Seite auch nicht vergessen, daß Er uns Seine eigne Weihe zu langen und weitläufigen Andachtsübungen gegeben hat, indem er die ganze Nacht im Gebete zu Gott hinbrachte. Auf alle Fälle sind wir heutzutage nicht in Gefahr, durch zu vieles Beten uns zu vergehen. Sollte man nicht eher fürchten, daß viele Gläubige in diesem Zeitalter zu wenig beten? Ist nicht der wirkliche Zeitraum, welchen viele Christen dem Gebete widmen, in dem Ganzen sehr gering? Ich bin besorgt, daß diese Fragen nicht befriedigend beantwortet werden können. Ich bin besorgt, daß die Privatandachten bei Vielen von bedauernswerther Dürftigkeit und Kürze sind - gerade hinreichend, um zu beweisen, daß sie noch am Leben sind und weiter nichts. Sie scheinen in der That wenig von Gott zu verlangen. Sie scheinen wenig zu bekennen, wenig zu erbitten zu haben; sie scheinen Ihm für weniges zu danken zu haben. Ach! das ist sehr unrecht! Nichts ist gewöhnlicher, als Gläubige klagen zu hören, daß sie nicht weiter kommen. Sie sagen uns, daß sie in der Gnade nicht zunehmen, wie sie es wünschen möchten. Ist nicht vielmehr zu vermuthen, daß Viele gerade so viel Gnade haben, als sie sich erbitten? Ist es nicht von Vielen richtig gesagt, daß sie Wenig haben, weil sie um Wenig bitten? Der Grund ihrer Schwäche ist in ihren eignen verkümmerten, zwerghaften, beschnittenen, verkrüppelten, übereilten, kleinen, dürftigen Diminutiv-Gebeten zu suchen. Sie haben nicht, weil sie nicht bitten. O! Leser, wir sind nicht in Christo beschränkt, sondern in uns selber. Der Herr sagt: „Thue deinen Mund weit auf, laß mich ihn füllen.“ Aber wir sind wie der König von Israel, welcher dreimal auf den Boden schlug, und innehielt, als er fünf oder sechs Mal hätte schlagen sollen.

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit der Genauigkeit im Gebet an. Wir sollen uns nicht mit großen allgemeinen Bitten begnügen. Wir sollen unsre Bedürfnisse vor dem Gnadenthrone genau angeben. Es sollte nicht genügen, uns als Sünder zu bekennen. Wir sollten die Sünden nennen, deren unser Gewissen uns am meisten schuldig erklärt, Es sollte nicht genügen, um Heiligung zu bitten. Wir sollten die Gnadenbezeugungen nennen, deren wir uns am meisten bedürftig fühlen. Es sollte nicht genügen, dem Herrn zu sagen, daß wir in Noth sind. Wir sollten unsere Noth und ihre besondern Umstände beschreiben. Das ist es, was Jacob that, als er seinen Bruder Esau fürchtete. Er sagt Gott genau, was er fürchtete. (1. Mos. 32,11.) Das ist es, was Elieser that, als er ein Weib für seines Herrn Sohn suchte. Er spricht klar vor Gott aus, was er bedarf. (1. Mos. 24, 12.) Das ist es, was Paulus that, als ihm der Pfahl ins Fleisch gegeben war. Er flehete zum Herrn. (2. Cor. 12, 8.) Das ist wahrer Glauben und wahres Vertrauen. Wir sollten glauben, daß nichts zu gering ist, um vor Gott genannt zu werden. Was wurden wir von dem Kranken denken, welcher zu dem Arzte sagte, er wäre krank, aber sich durchaus nicht auf die Einzelheiten einließe? Was würden wir von der Frau denken, welche zu ihrem Mann sagte, sie wäre unglücklich, aber die Ursache nicht genau angäbe? Was würden wir von dem Kinde denken, welches zu seinem Vater sagte, es wäre in Noth, aber weiter nichts? O, Leser, Christus ist der wahre Bräutigam der Seele, der wahre Arzt des Herzens, der wahre Vater von all Seinem Volk. Laßt uns zeigen, daß wir das fühlen, indem wir in unsern Mittheilungen an Ihn ohne Rückhalt sprechen. Laßt uns keine Geheimnisse vor Ihm verbergen. Laßt uns Ihm unser ganzes Herz ausschütten.

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit der Fürbitte in unsern Gebeten an. Wir sind alle selbstsüchtig von Natur, und unsre Selbstsucht ist sehr geneigt uns ankleben zu bleiben, auch wenn wir bekehrt sind. Es ist ein Hang in uns, nur an unsre eigene Seele zu denken, an unsern eigenen geistigen Kampf, an unsern eignen Fortschritt in der Gottseligkeit, und Andere zu vergessen. Gegen diesen Hang haben wir alle nöthig uns zu schützen und dagegen anzukämpfen, und vornehmlich in unsern Gebeten. Wir sollten darnach streben, von Gemeingeist erfüllt zu sein. Wir sollten uns dazu anregen, andere Namen als unsern eigenen vor dem Gnadenthrone zu nennen. Wir sollten versuchen die ganze Welt im Herzen zu tragen, die Heiden, die Juden, die Katholiken, die Schaar der wahren Gläubigen, die öffentlichen Protestantischen Kirchen, das Land, in welchem wir leben, die Gemeinde, zu welcher wir gehören, die Haushaltung, in welcher wir wohnen, die Freunde und Angehörigen, mit welchen wir verbunden sind. Für jedes und Alle (von diesen) sollten wir beten. Das ist die höchste Christenliebe. Derjenige liebt mich am meisten, welcher mich im Gebet liebt. Das ist zuträglich für unserer Seele Gesundheit. Es vergrößert unser Mitgefühl und erweitert unser Herz. Das gereicht der Kirche zum Besten. Das Gebet dient als Oel bei dem Räderwerk aller Maschinerie zur Ausbreitung des Evangeliums. Diejenigen thun ebensoviel für die Sache des Herrn, welche gleich Moses aus dem Berge für Israel beten, wie diejenigen, welche gleich Josua im Gedränge der Schlacht kämpfen. Das heißt Christus ähnlich sein. Er trägt die Namen der Seinigen auf seiner Brust und seinen Schultern als ihr Hoherpriester vor den Vater. O! welch ein Vorzug, Christo ähnlich zu sein! Das heißt den Dienern Gottes ein treuer Beistand sein. Wenn ich mir eine Gemeinde wählen sollte, so wünschte ich mir eine Schaar welche betet.

Ich empfehle euch ferner die Wichtigkeit der Dankbarkeit im Gebet an. Ich weiß wohl, daß Gott bitten und Gott preisen zweierlei ist. Aber ich sehe zwischen Beten und Preisen in der Bibel eine so nahe Verbindung, daß ich dasjenige kein wahres Gebet zu nennen wage, an welchem die Dankbarkeit keinen Theil hat. Es ist nicht umsonst, daß Paulus sagt: „Lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden.“ (Phil. 4, 6.) „Haltet an am Gebet, und wachet in demselbigen mit Danksagung.“ (Col. 4,2.) Es ist Gnade, daß wir nicht in der Hölle sind. Es ist Gnade, daß wir die Hoffnung des Himmels haben. Es ist Gnade, daß wir in einem Lande wohnen, in dem das Licht des Evangeliums auf dem Leuchter steht. Es ist Gnade, daß wir von dem Geiste berufen und nicht verlassen worden sind, die Frucht unsers eigenen Wandels zu ernten. Es ist Gnade, daß wir noch leben und Gelegenheit haben, Gott zu preisen durch die That und den Glauben. Wahrlich, solche Gedanken sollten unser Gemüth erfüllen, so oft wir mit Gott sprechen. Wahrlich, wir sollten niemals unsere Lippen im Gebet öffnen ohne Gott zu segnen für die freie Gnade, durch welche wir leben, und für die Güte, welche ewiglich währet. Niemals gab es ein Kind Gottes, welches nicht voll von Dankbarkeit gewesen wäre. Sanct Paulus schreibt kaum jemals eine Epistel, ohne mit Danksagung anzufangen. Männer wie Whitfield im vorigen Jahrhundert, und Bickersteth in unsrer jetzigen Zeit, strömten stets über von Dankbarkeit. O, Leser, wenn wir helle und strahlende Lichter in unserm Leben sein wollen, so müssen wir den Geist der Danksagung in uns walten lassen. Vor Allem müssen unsere Gebete dankbare Gebete sein.

Ich empfehle euch endlich die Wichtigkeit der Wachsamkeit bei eurem Gebete an. Das Gebet ist unter allen andern derjenige Punkt in der Gottseligkeit, bei welchem man auf seiner Hut sein muß. Hier beginnt das Leben aus Gott, hier glänzt es, und hier verfällt es. Sage mir, was für Gebete Einer hält, und ich will dir sofort sagen, welches der Zustand seiner Seele ist. Das Gebet ist der geistige Pulsschlag. An ihm kann man immer die geistige Gesundheit erproben. Das Gebet ist das geistige Wetterglas. An ihm kann man immer erfahren, ob es heiter oder trübe in unserm Herzen ist. O, lasset uns beständig ein offenes Auge für unsre geheime Andacht haben. Hierin besteht der Kern, und das Mark, und die Hauptkraft unseres ausübenden Christenthums. Predigten und Bücher, und Traktate, und fromme Vereine, und der Umgang mit guten Menschen sind alles gute Dinge in ihrer Art, aber sie werden niemals die Vernachlässigung des Gebetes im Verborgenen wieder gut machen. Habt Acht auf die Orte, und die Gesellschaft, und die Gefährten, welche eurem Herzen im Umgang mit Gott hinderlich sind. Seid dort auf eurer Hut. Beobachtet genau, was für Freunde und was für Beschäftigungen eure Seele in die geistigste Fassung versetzen, und sie am bereitwilligsten machen, mit Gott zu reden. An diese hänget euch und lasset nicht von ihnen los. Leser, wenn du nur für deine Gebete Sorge tragen willst, so will ich dir versprechen, daß deine Seele nicht viel vom rechten Wege abkommen wird.

Leser, ich biete dir diese Punkte zur stillen Betrachtung dar. Ich thue es in aller Demuth. Ich kenne Niemanden, der mehr bedürfte daran erinnert zu werden, als ich selber. Aber ich halte sie für Wahrheiten Gottes, und ich möchte wünschen, daß ich und Alle, die ich liebe, sie mehr fühlten.

Ich wünsche, daß die Zeiten, in welchen wir leben, Zeiten des Betens seien. Ich wünsche, daß die Christen unsrer Tage betende Christen seien. Ich wünsche, daß die Kirche von 1853 eine betende Kirche sei. Meines Herzens Verlangen und Gebet beim Absenden dieses Traktats ist einen Geist der Gebetsfreudigkeit zu befördern. Ich wünsche, daß diejenigen, welche noch niemals gebetet haben, sich aufmachen und den Herrn anrufen, und daß diejenigen, welche beten, es erkennen, daß sie nicht vergebens beten.

Und nun, wenn irgend Jemand zu beten anfangen, oder inbrünstiger beten sollte, darum, weil er diesen Traktat gelesen hat, so will ich ihn bitten, dem Verfasser desselben einen einzigen Gefallen zu thun, nämlich, seiner im Gebet zu gedenken. Ich verbleibe

Dein aufrichtiger Freund

J. C. Ryle.

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