Nourney, Anton Hermann - Würde und Zweck der Sendung Jesu.

Nourney, Anton Hermann - Würde und Zweck der Sendung Jesu.

Advents-Predigt
über Jesaia 61, 1. 2.
von
A. Nourney.
evangelisch - reformirter Prediger zu Elberfeld.

Eingang.

Tröstlich ist die Versicherung, welche uns der Apostel Paulus Coloss. 3, 11. giebt: „Alles und in Allen Christus.“ - Der Apostel redet von Christo, dem großen Mittler des neuen Bundes, welcher als Prophet den ganzen Rath Gottes von unsrer Erlösung uns in seinem Evangelio bekannt gemacht, als Hoherpriester sich für uns als Opfer zu unserer Versöhnung dahingegeben, und als Herr und König den bußfertigen Sündern Gnade zusichert und schenkt, sie regiert und schützt. - Von diesem Christo bezeugt Paulus: Er ist Alles. - Und dieses ist auch Christus. - Er kann alles, was wir zum Heil unsrer Seele bedürfen, in uns wirken, was kein Mensch vermag, und wir selbst nicht vermögen. Fehlt es uns an Licht und Erkenntniß: Er ist unser Licht, und kann uns durch das Wort seines Evangeliums erleuchten. Haben wir bei unserem Forschen nach Wahrheit mit Zweifeln zu kämpfen: Er ist die Wahrheit, kann die Zweifel heben und uns in unsrem Glauben befestigen; Er ist das Leben und kann uns zum neuen Leben erwecken. Haben wir ein verwundet Herz und Gewissen: Er ist der Arzt, welcher dieses heilen kann. Sind wir mit Sünden beschwert, die uns drücken: Er ist unsere Gerechtigkeit, durch den wir vollkommene Vergebung unsrer Sünden erlangen können. Sind wir von Sünden Gefangene: Er kann uns als solche von den Sünden-Banden frei machen. - Alles ist Christus, in allen Lagen und Umständen unsres Lebens. In Armuth ist Er unser Reichthum, im Mangel unser Segen, in Verlegenheit unser Rath, in Traurigkeit unsre Freude, im Leiden unser Trost, in Schmach unser Ruhm, in Dunkelheit für uns Sonne der Gerechtigkeit, in geistlicher Dürre unsere Erquickung. - Er weiß uns als Träge zu wecken, als Verzagte zu ermuntern, als Müde zu starken, als Verirrte zurecht zu bringen, als Zerstreute wieder zu sammeln, und als Gefallene wieder aufzurichten. - Christus ist Alles, nicht bloß zu gewisser Zeit, sondern immerfort, durch alle Zeiten unsres Lebens hindurch. Er ist der Anfänger und Vollender unsres Glaubens. Er will nie von uns weichen, uns nie verlassen und versäumen. Er will im Tode mit uns, in den Augenblicken, wenn Leib und Seele verschmachtet, unsers Herzens Trost und Theil seyn. Er will uns dereinst, wenn Er uns in die ewigen Wohnungen des Friedens aufgenommen hat. Alles seyn. Alsdann will er die Schätze seiner Allgenugsamkeit öffnen, uns mit seinem Lichte völlig bestrahlen, und mit ungestörtem Frieden uns erfreuen.

Aber in welchen ist Christus Alles? Paulus sagt: in Allen. Da meint er aber nicht alle und jede Menschen ohne Unterschied. Er meint nicht die Sündenknechte, welche die Finsterniß mehr lieben als das Licht, die Gnade Gottes, die ihnen im Evangelio angeboten wird, verachten und diese durch ihr sicheres Sündenleben von sich stoßen. Er meint nicht die Heuchler, welche den Schein der Gottseligkeit haben und die Kraft derselben verläugnen, die Christum wohl auf der Zunge, aber nicht im Herzen haben, die ihn mit dem Munde bekennen und annehmen, aber mit ihrem Leben verwerfen. Er meint nicht fleischlich und weltlich Gesinnte, welchen die Welt mit ihrer Lust Alles, Christus aber Nichts ist. Paulus meint, wenn er sagt: „Alles und in Allen Christus,“ alle gläubige, rechtschaffene Christen, welche Jesum durch Glaube, Liebe und Gehorsam ehren; da sieht er nicht auf Stand und Ansehen, nicht auf Geschlecht und Abkunft; nicht auf Alter. Es mag Einer jung oder alt, reich oder arm, hoch oder niedrig seyn; ist ihm nur Jesus Alles, daß er an Ihn glaubt. Ihn liebt. Ihm folgt: so ist Jesus ihm Alles, Hirte, Führer, Fürsprecher, Seligmacher. Fragst du, mein Christ, der du noch so schwach im Glauben bist und dich so sündlich und elend fühlst: bin ich auch wohl gemeint? Ja, du bist gemeint. Denkst und sprichst du: könnte ich das nur recht von mir sagen: Jesus Christus ist für mich Alles. - Gewiß, wenn du dies für dich von Herzen wünschest, gern durch Ihn gerecht und selig werden willst: so wird dein Jesus für dich Alles seyn, du magst noch so arm, so schwach und elend in, deinen Augen seyn; denn Paulus sagt nicht: Mir und meinen Mitaposteln ist Christus Alles; er sagt auch nicht: dem Starken und Freudigen im Glauben, dem geförderten Christen ist Christus Alles, sondern er sagt: „Alles und in Allen Christus.“ - O, wohl uns, wenn wir dieses erfahren; alsdann werden wir erst recht inne werden, welchen großen Segen wir der Erscheinung Jesu in diese Welt zu verdanken haben. Dann können wir so recht mit Wärme des Herzens den Herrn preisen! „Gelobet sey, der da kommt im Namen des Herrn! Meine Seele erhebet den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes;“ denn wir wissen, daß der Herr den Elenden, denen, die zerbrochenen Herzens sind, den Gefangenen und Gebundenen zum Segen gesandt ist. - Von diesem Segen der Sendung Jesu in diese Welt laßt mich noch näher zu euch reden.

Text: Jesaias 61, 1. 2.:

Der Geist des Herrn Herrn ist über mir, darum hat mich der Herr gesalbet. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden: zu predigen den Gefangenen eine Erledigung, den Gebundenen eine Oeffnung; zu predigen ein gnädiges Jahr des Herrn, und einen Tag der Rache unsers Gottes; zu trösten alle Traurigen.

In dem vorhergehenden Kapitel wird der herrliche Zustand der Gemeine des Herrn beschrieben, und in diesem Kapitel, besonders in den euch vorgelesenen Worten meines Textes wird gesagt, von welchem diese Glückseligkeit herrühre, nämlich von Christo, dem verheißenen Messias. Der, welcher in diesen Worten redet, ist nicht der Prophet Jesaias; nicht dieser, sondern nur Jesus konnte von sich rühmen, daß der Geist des Herrn über Ihn sey, daß Gott Ihm gesalbt und gesandt habe, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, den Gefangenen eine Erledigung und den Gebundenen eine Oeffnung und ein gnädiges Jahr des Herrn zu verkündigen. - Und Jesus deutet auch diese Stelle Lucas 4, 19-21. bei der Gelegenheit auf sich, als Er sich an einem Sabbather in der Synagoge zu Nazareth befand; Er äußerte darin den Wunsch, aus der heiligen Schrift vorzulesen. Als der Vorsteher der Synagoge dieses merkte, überreichte er Ihm den Propheten Jesaias, und beim Aufschlagen desselben fiel sein Auge auf die Stelle in meinem Texte; diese las Er vor, und nach geendigter Vorlesung schlug Er die Buchrolle wieder zu, und gab sie dem Vorsteher der Synagoge wieder zurück. Nun waren aller Augen auf Ihn gerichtet und voller Erwartung, was Er über diese Stelle sagen würde. Und Er sprach: „Heute ist die Schrift erfüllet vor euren Augen.“ Er wollte sagen: Ich, den ihr jetzt reden höret, bin es, den Jesaias in dieser Stelle redend einführet, der Verkündiger dieser trostvollen Lehre. Jesaias sahe die Güter meines Reichs in der Ferne; ihr habt aber Den vor euch, der diese euch anbietet, und euch derselben, wenn ihr sie begehret, theilhaftig machen kann und will. - Hieraus sehet ihr, daß in den Worten meines Textes von niemand anders als von Jesu Christo und von seiner Sendung hier auf Erden die Rede ist. - Nach Anleitung dieser meiner Textes-Worte laßt uns betrachten:

  1. Die Würde und Hoheit der Sendung Jesu;
  2. Zu welchem Zwecke Er gesendet worden.

I.

Der Herr Jesus Christus ist der würdigste Gegenstand unserer Verehrung und Anbetung; denn Er bezeugt selbst von sich: „Der Geist des Herrn ist über mir, darum hat mich der Herr gesalbt und gesandt.“ So konnte keiner der Propheten von sich reden; freilich, diese hatten den Geist des Herrn, der sie unterrichtete, was sie reden sollten, aber sie hatten nur einzelne Gaben desselben. Allein der Herr Jesus besaß ihn ohne Maaß, unveränderlich in allen seinen Gaben, Kräften und Wirkungen, und Er besaß denselben nicht bloß für sich, sondern ihn auch zu geben, daher Er auch zu seinen Jüngern sagen konnte: „Nehmet hin den heiligen Geist.“ Auf Ihm ruhete der Geist des Herrn nicht nur seinen Gaben, sondern selbst seinem Wesen nach. Auf Ihm ruhete derselbe als ein Geist der Weisheit und des Verstandes, als ein Geist des Raths und der Stärke, als ein Geist der Erkenntniß und der Furcht des Herrn. Mit diesem Geist, der über Ihm war, hat Ihn Gott gesalbet. Er hat Ihn zur Ausführung des Werks der Erlösung der Menschen abgesondert, und mit den dazu nöthigen Gaben versehen. Er hat Ihn verordnet, daß Er der große Prophet, Hohepriester und König seyn sollte. Dieser seiner Aemter wegen ist Er gesalbet worden; diese Salbung geschahe, als Jesus durch die Taufe im Jordan von Johannes zu seinem Lehramt eingeweihet wurde; da fuhr der heilige Geist über Ihm herab in Gestalt einer Taube. Dieser überschattete gleichsam seine heilige Menschheit; durch diesen wurde er ausgerüstet mit ausnehmender Weisheit und Eifer, um seinen Vater zu verklären und seinen Namen auszubreiten; dadurch empfing Er die gelehrte Zunge, um mit den Menschen zur rechten Zeit zu reden; dadurch wurde sein Muth gestärkt, daß Er vor seinen bittersten Feinden auftrat, lehrte, und keinen Widerstand und keine Lästerung scheute. Ja, in Ihm, als des Menschen Sohn, wohnte die Fülle der Gottheit leibhaftig. Daß er in die verborgenste Tiefe des Herzens hineinblickte und diese erforschte, daß der Geist des Herrn über Ihm war und dieser Ihn gesalbt hatte, das zeigte sich in seiner Lehre, welche Er verkündigte; denn diese bewies sich so kräftig, daß sichere Sünder geweckt und belebt. Mühselige und Beladene erquickt, verwundete Gewissen geheilet und trostlose getröstet wurden. Und dieses, daß Jesus die Salbung von oben vom Geiste hat, erfahren wir noch immer, wenn wir uns zu Ihm wenden, um durch das Wort seines Evangelii belehret und weise zur Seligkeit gemacht zu werden; alsdann erfahren wir es, daß Er Worte des ewigen Lebens hat.

Diesen Jesum, über welchem der Geist des Herrn war und welcher mit demselben gesalbt war, hat Gott gesandt; dadurch hat er die größte Liebe uns bewiesen. Groß war schon seine Liebe, daß Er Ihn in dem ewigen Friedensrath zum Erlöser bestimmte, um sich der gefallenen Adamskinder zu erbarmen. Diese Liebe Gottes stieg dadurch noch höher, daß Er Ihn verhieß, diese Verheißung wiederholte und bestätigte, und uns bekannt machte, welchen Segen wir von Ihm zu erwarten hätten. Aber dadurch verherrlichte Gott diese seine vollkommene Liebe gegen uns, daß Er Ihn wirklich sandte, um unser Versöhner, Mittler und Erlöser zu seyn, daß Er Ihn zur Annahme unsres Fleisches, zur niedrigsten Knechtsgestalt, zur äußersten Armuth, zu den schwersten Leiden, zu dem schmählichsten und martervollsten Kreuzestod hingab. Dies ist eine Liebe, die ihres Gleichen nicht hat, und welche Ewigkeiten hindurch eine unerschöpfliche Materie unseres Dankes und unserer Anbetung seyn wird.

II.

Und wie wohlthätig ist der Endzweck der Sendung Jesu. Er bezeugt: „Ich bin gesalbt und gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu predigen den Gefangenen eine Erledigung, den Gebundenen eine Oeffnung, zu predigen ein gnädiges Jahr des Herrn.

Jesus ist gesandt, den Elenden zu predigen. Elende, welche Luc. 4, 18. Arme genannt werden, sind solche, welche ihr Sündenelend, ihre geistliche Armuth erkennen, und sich dessen bewußt sind, daß sie nichts in sich selbst haben, welches ihnen ein Recht zur Gottes-Gemeinschaft, zu seiner Vaterliebe und zur Seligkeit geben kann; welche daher die Nothwendigkeit der ihnen in dem Evangelio angebotenen Gerechtigkeit fühlen, und mit jenem Zöllner gerührt und demüthig zu Gott beten: „Gott sey mir Sünder gnädig!“ Solche Elende, die sich selbst nicht zu rathen wissen, und sich aus dem Elende, worin sie liegen, nicht retten können, bedürfen Anweisung dazu. Und für diese ist Jesus gesandt, ihnen zu predigen, es ihnen zu verkündigen, daß Gott, der reich an Barmherzigkeit ist, die Schätze seiner Gnade geöffnet und seines eingebornen Sohnes nicht geschonet, sondern Ihn für uns dahin gegeben hat, um mit Ihm uns Alles zu schenken. Er ist gesandt, den Elenden zu predigen, daß Er ihren Hunger nach Gnade befriedigen, ihren Durst nach dem Wasser des Lebens stillen ihre Blößen mit seiner Gerechtigkeit bedecken, ihre Schulden erlassen, und sie als seine Erlöseten in seine Gemeinschaft aufnehmen, und mit Allem, was sie zum geistlichen Leben bedürfen, versorgen wolle. Deswegen der Herr Jesus Johannes dem Täufer, als dieser aus dem Gefängniß seine Jünger zu Ihm schickte und Ihn fragen ließ: „Bist du, der da kommen soll; oder sollen wir eines andern warten?“ sagen ließ: „den Armen wird das Evangelium gepredigt.“ Und Jesus predigte auch, da Er hier auf Erden wandelte, den Armen das Evangelium; Er verkündigte ihnen, daß Er gekommen sey, das zu suchen, und selig zu machen, was verloren ist. - Er bot sich ihnen an als ihren Hirten, bei dem sie Leben und volles Genüge finden würden, als ihren Heiland, der sich ihrer erbarmen wolle. Was waren die Zöllner, welche zu Ihm sich naheten, was ein Zachäus, welcher begierig war, um Ihn zu sehen; was war der Gichtbrüchige, welcher zu Ihm gebracht wurde, der Aussätzige, welcher zu Ihm mit der Bitte trat: „Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen;“ was war die große Sünderin, welche mit ihren Thränen seine Füße benetzte, und mit ihren Haupthaaren trocknete; was waren die Viele, welche ihre Zuflucht zu Ihm nahmen? waren es nicht Elende, Hülfs- und Gnadebedürftige? und ihrer nahm sich Jesus an, ihnen predigte Er Frieden. Auch für dich, der du dich so arm, so elend und verdorben fühlst, daß du selbst dich aus deinem Verderben nicht erretten kannst, für dich ist Jesus von seinem Vater mit dem heiligen Geist gesalbet und gesandt. Dies ist sein Amt und Beruf, daß Er den Armen und Elenden Gnade und Frieden predigt.

Doch Jesus ist nicht bloß für die Elenden gesandt, um diesen zu predigen, sondern auch für die zerbrochenen Herzen, diese zu verbinden. - Wer sich einmal in seinen Sünden und in dem Elende derselben fühlt, bei dem erweckt dieses Gefühl Traurigkeit, Betrübniß und Schmerz. Das Herz wird zerbrochen und zerschlagen, denn es kommt ihm die Größe und Menge seiner Sünden und seine Verdammnißwürdigkeit vor. Er sieht über sich einen Gott, welcher ein gerechter Richter ist, und vor sich eine Ewigkeit, in welcher über diejenigen, die Böses gethan und dem Evangelio nicht gehorsam gewesen, Ungnade, Fluch und Verdammniß kommen soll. Er fühlt in sich ein verdammendes Gewissen. Das Herz ist zerbrochen und geängstiget, aus diesem steigen Seufzer nach Trost und Gnade; es ertönen aus seinem Munde Klagen, er kämpft mit Furcht und Hoffnung, ob Rettung für ihn sey. - Sind denn solche verwundete und von Sündengefühl zerbrochene Herzen noch zu heilen? Gewiß; aber nicht, wenn sie der Welt folgen, welche ihnen anräth, solche Verlegenheit aus dem Sinne zu schlagen und sich zu zerstreuen, oder auch, wenn sie den bangen Zweifeln Gehör geben und denken, du hast zu lange, zu schwer gesündigt, es ist wohl für dich keine Erlösung zu hoffen. Solche zerbrochene Herzen müssen zu Jesu fliehen; - denn Er ist gesalbt und gesandt, sie zu verbinden, ihre Wunden zu heilen, ihnen Schmuck für Asche, und Freude für Traurigkeit zu geben, daß sie mit einem David gerührt und dankbar rühmen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was Er dir Gutes gethan hat, der dir alle deinen Sünden vergiebt und heilet alle deine Gebrechen.“

Jesus ist gesandt, den Gefangenen eine Erledigung zu predigen. - Gefangene sind wir alle, so lange wir uns noch unter dem Gesetz befinden, welches uns drohet, schrecket, strenge Forderungen an uns thut, ohne uns Kraft zur Erfüllung derselben zu geben, und über uns Fluch und Verdammniß spricht. - Alsdann haben wir Ursache, die Sprache und Klage zu führen, welche Paulus Röm. 7, 14. u. 23. führte: „Wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, ich aber bin unter der Sünde verkauft. Ich sehe ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüthe, und nimmt mich gefangen in dem Sünden-Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. Ach, ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ Fühlen wir uns als solche Gefangene, so ist Jesus da, um uns aus der Gefangenschaft herauszuführen, und zur Freiheit zur bringen. Denn glauben wir an Ihn, so soll das Gesetz aufhören, uns zu verdammen. Paulus sagt Röm. 10, 4.: „Christus ist des Gesetzes Ende, wer an Ihn glaubet, der ist gerecht.“ - Jesus hat dem Gesetz vollkommen genug gethan. Er ist unsere Gerechtigkeit, und diese können wir dem Gesetz entgegensetzen, wenn dieses den Stab über uns bricht und uns zum Tode verurtheilt.

Christus ist gesandt, um den Gebundenen eine Hoffnung zu predigen. - Gebunden sind wir, so lange wir uns noch unter der Herrschaft der Sünde und vieler verkehrter Lüste und Begierden befinden, und uns als Sclaven von einer Sünde zur andern hinreißen lassen. Als Gebundene und von der Sünde Verstockte haben wir keine Kraft, um die Stricke der Sünde, die uns fesseln, zu zerreißen und uns frei zu machen. Wir liegen als Gefangene gleichsam in einem finstern Kerker, so daß kein Strahl des Lichtes auf uns fallen kann. Wie unglücklich waren wir, wenn wir von dem Heilande nichts wüßten, welcher den von Sünden gebundenen ihre Banden löset. Aber Er bezeugt selbst: „Ich bin gesandt, den Gebundenen eine Oeffnung zu predigen.“ Fühlen wir mit Schmerzen die Fesseln der Sünde, sind wir es müde, dieselben zu tragen, sehnen wir uns nach Freiheit, und wollen wir gern Leibeigne des Herrn seyn, die Ihm dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit, so bietet uns Jesus nicht allein Freiheit an, sondern Er macht uns auch frei, - Er erledigt uns der schweren Sündenlast, die uns drücket, - Er läßt uns bei dem tiefen Verderben, worin wir liegen, den Reichthum feiner Barmherzigkeit und Liebe sehen, wie Er Sünder, die größten Sünder, annimmt, - Er läßt uns bei unserem Unvermögen, uns selbst von unseren Sünden frei zu machen, die Macht seiner Gnade zu unserer Befreiung und Erlösung erfahren.

Alle diese Wohlthaten, welche Jesus uns verschaffen sollte, werden am Ende meines Textes in den Worten zusammengefaßt - „zu predigen ein gnädiges Jahr des Herrn.“ - Hier wird auf die Verordnung Gottes, welche wir 3. B. Mos. 25, 10. und in den folgenden Versen lesen, gesehen. Nach dieser Verordnung fiel alle 50 Jahr das große Jubel- und Erlaß-Jahr ein. Dies war ein Jahr der Ruhe, der Freiheit und ein gnädiges Jahr des Herrn für die Israeliten. - In diesem Jahr durfte weder gesäet noch geerndtet werden. Die liegende Gründe und Aecker, welche aus Noth waren verkauft und veräußert worden, fielen ihren vorigen Besitzern wieder zu. Alle Schuld-Forderungen wurden erlassen. Diejenige, welche in Sclaverei gerathen und sich in Knechtschaft befanden, wurden frei gegeben. - Dieses große Jubel- und Erlaß-Jahr, dieses gnädige Jahr des Herrn, dessen sich vorzüglich die Armen und Verschuldeten unter den Israeliten zu erfreuen hatten, war ein Bild der Zeit des neuen Testaments, welche deswegen 2. Korinth. 6, 2. „die angenehme Zeit, der Tag des Heils,“ und Luc. 19, 44. „die Zeit der gnädigen Heimsuchung des Herrn“ genannt wird. - Wir stecken tief in Sündenschulden, allein wenn wir an Jesum glauben, so sollen alle unsere Schulden erlassen werden. Durch die Sünde haben wir die köstlichste Güter, Gerechtigkeit, Frieden, Kindschaft und die Hoffnung des ewigen Lebens verloren; aber durch Jesum sollen uns dieselben wieder zu Theil werden. Wir sind in die Sklaverei und Knechtschaft der Sünde gerathen; aber durch Jesum sollen wir daraus errettet und frei werden. Dies zu verkündigen heißt mit Recht ein gnädiges Jahr des Herrn predigen. Dieses predigte erst Jesus selbst; darauf ließ Er dieses durch seine Apostel den Juden und und Heiden predigen. Auch uns wird dasselbe fortdauernd durch die Diener des Worts des Evangeliums gepredigt.

Das Erlaß-Jahr wurde den Israeliten an ihrem Versöhnungstage unter dem Trompetenschall angekündigt. Dadurch wurde ihnen angezeigt, daß alle die Vorzüge, welche ihnen in diesem Jahre zu Theil würden, eine Frucht der durch das Opfer gestifteten Versöhnung seyen. So ist denn auch die gnadenreiche Zeit des neuen Testaments, worin den tief verschuldeten und in Knechtschaft gerathenen Sündern Vergebung der Sünden und Freiheit angekündigt wird, eine Frucht von der Versöhnung, welche Jesus, der große Hohepriester und Mittler des neuen Bundes, an dem Tage gestiftet, da Er am Kreuz als ein Opfer für unsere Sünden starb. Dieses Opfer mußte erst gebracht werden, ehe die reiche Gnade Gottes den Sündern konnte verkündigt, angeboten und ertheilt werden.

Schluß

Wie glücklich sind wir also, daß uns das gnädige Jahr des Herrn gepredigt wird. Wer sich als arm und elend erkennt, der kann sich mit dem Evangelium des Friedens aufrichten, welches die geistlich Armen selig preist und ihnen das Himmelreich zusichert. Wer zerbrochenen und zerschlagenen Herzens ist, der kann sich dessen freuen, daß Jesus gesandt ist, die zerbrochene Herzen zu verbinden. - Wer unter der Dienstbarkeit der Sünde seufzet und nach Freiheit sich sehnet, der kann sich dessen trösten, daß Jesus gesandt ist, den Gefangenen Befreiung und den Gebundenen Erledigung zu predigen. - Gewiß ein gnädiges Jahr des Herrn! - Aber wie schwer wird auch einmal unsre Verantwortung seyn, wenn wir in der Zeit des Evangelii, in dem gnädigen Jahr des Herrn gelebt haben, daß uns die Erlösung von Sünden durch Jesum, die Erlassung der Strafen derselben und Gnade zur Rückkehr von unsern Sünden zum Vater verkündigt und angetragen worden, und wir haben diese Gnade nicht geachtet und die Tage des Heils dahin streichen lassen, ohne uns als Elende durch Jesum retten, als Verwundete heilen, als Gefangene und Gebundene frei machen zu lassen.

Und sind nicht solche unter euch, welche so lange das gnädige Jahr des Herren erlebt haben, sich aber der Gnade, des Friedens und der Befreiung nicht trösten können, welche das Evangelium denen, die zerbrochenen Herzens sind, den Gebundenen und Gefangenen verkündigt. Und woran liegt es, daß ihr euch dieses nicht trösten könnt? Ach, ihr wollt nicht arm und elend seyn, sondern dünkt euch reich zu seyn, gar satt und keinen Mangel zu haben. Ihr wollt nicht zerbrochenen Herzens seyn und wie viele Ursache habt ihr dazu, da der Sünden so viele sind, womit ihr wider Gott gehandelt, und euch seinen gerechten Zorn und Verdammniß zugezogen habt. Ihr wollt es nicht zugeben, nicht fühlen, daß ihr Gefangene und Gebundene von Sünden send, und Befreiung bedürfet, daher habt ihr auch keinen Segen von der Sendung Jesu. Denn Er ist gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochene Herzen zu verbinden, den Gefangenen eine Oeffnung, den Gebundenen eine Erledigung zu predigen.

Die ihr hier nicht arm und elend seyn wollt, sondern bei euern Sünden guter Dinge seyd, und euch in dem Besitz und Genuß der Welt glücklich schätzet, wie arm und elend werdet ihr euch fühlen, wenn die Welt mit ihrer Lust vergehet, und die Thür der Gnade für euch durch den Tod verschlossen wird. Die ihr hier nicht zerbrochenen Herzens seyn wollt, um von Jesu geheilet zu werden, wie werdet ihr dereinst zerschlagenen Herzens werden, wenn ihr hinter euch das gnädige Jahr des Herrn seht, das ihr gehabt, aber nicht geachtet habt, und welches ihr nicht wieder zurück rufen könnt; wenn ihr vor euch sehet den Weltrichter, welcher das unabänderliche Urtheil der Verdammniß über euch ausspricht und die endlose Ewigkeit, in welcher keine Zeit zur Buße mehr statt findet. Ihr wollt euch hier nicht als Gefangene und Gebundene von Sünden fühlen, um davon befreiet zu werden; aber wie werdet ihr dereinst die Sündenketten verfluchen, die ihr hier getragen habt, wenn ihr diese fühlen werdet, und ihr keinen Erlöser findet, der euch davon frei machen wird.

Das gnädige Jahr des Herrn, die Zeit der Gnade währet noch für euch, - wer weiß, wie lange? Habet ihr bis dahin in Sicherheit und Sorglosigkeit gelebt, so bedenkt, was zu eurem Frieden dient, und sehet zu, daß ihr Gottes nicht versäumet. - Es wird euch noch verkündigt, daß Jesus gesandt ist, den Elenden zu predigen. Leget den Stolz ab, daß ihr glaubt, durch euch selbst vor Gott gerecht zu seyn. - Send elend, tragt leid über eure Sünden. - Es wird euch gepredigt, daß Jesus gesandt ist, die zerbrochene Herzen zu verbinden - bringet Ihm zerbrochene Herzen dar, welchen es redlich um Heiligung zu thun ist. - Es wird euch verkündigt, daß Jesus gesandt ist, den Gefangenen Befreiung und den Gebundenen Oeffnung zu predigen. - Fühlet mit Schmerzen die Banden eurer Sünden, die euch fesseln, und laßt durch Jesum euch davon frei machen.

Ist es euch von Herzen darum zu thun, so verzaget nicht, um dazu zu gelangen, denn grade für euch ist Jesus gesandt, um euch zu helfen, zu heilen und frei zu machen. - Stehet euch nicht durch Unglauben im Weg, daß ihr den Trost, den euch das Evangelium anbietet, von euch weiset. Gebet nicht bangen Zweifeln Gehör. Sein Wort soll dir gewisser seyn, und sprach das Herz auch lauter - Nein - So laß dir's doch nicht grauen. Bauet fest auf das Wort der Verheißung, das der Herr euch gegeben hat. Es wird gewiß die Zeit für euch kommen, daß Er diese erfüllen wird, und ihr rühmen müßt: Ich danke Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn, denn Er hat mir Elenden geholfen, mich Verwundeten geheilet, mich Gefangenen erlöset.

Die ihr dieses rühmen könnt, preiset den Herrn dafür, was Er an Euch gethan hat, freuet euch dessen dankbar, daß Er sein Mittleramt an euch, um euch zu heilen, zu reinigen, und euch freier zu machen, noch fortsetzen will. Alle Tage eures Lebens sollen lauter Gnadentage seyn, an welchen Er seine Güte, Treue und Barmherzigkeit an euch verherrlichen will. Ihr sollt täglich Gnade um Gnade nehmen, diese wird immer mit euch seyn, und alles in euch wirken, und euch verleihen, was ihr bedürfet. Richtet euch damit auf, wenn ihr euch oft so elend und arm, so dürre und voller Gebrechen fühlt. - Einmal wird das große Jubel- und Erlaß-Jahr eintreten und angekündigt werden. Alsdann werdet ihr zur vollkommenen Freiheit und Ruhe gelangen und ewig Den anbeten, der euch eure Schulden erlassen und euch das Recht zum ewigen Leben gegeben hat. Amen.

Quelle: http://glaubensstimme.de/doku.php?id=verzeichnisse:quellen:rheinische_missionsgesellschaft_ezadw

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