Nitzsch, Karl Immanuel - Das Streben des christlichen Jünglings

Nitzsch, Karl Immanuel - Das Streben des christlichen Jünglings

Die Versammlung vor dem Herrn, die wir dem Antritte einer neuen Laufbahn vorausgehen lassen, kündigt allezeit an, daß wir nicht ohne eine göttliche Weihe und Reinigung an unsern Beruf gehen sollen. Und es sei mir vergönnt, heute demgemäß zuerst an eine erhabene Rede zu erinnern, die der Anführer der Propheten des alten Bundes hinterlassen hat. „Es wird daselbst,“ ruft Jesaia, „eine Bahn sein und ein Weg, welcher der heilige Weg heißen wird, daß kein Unreiner darauf gehen wird“ Es giebt also Wege, Berufsbahnen, die es nicht dulden von Unreinen betreten zu werden. Wir verhehlen es nicht, der Prophet redet von dem Wege, den wir alle gemeinschaftlich mit allen unsern Brüdern suchen und gehen sollen, von dem Wege der ewigen Erlösung und Berufung; von dem Wege, der so wenig bloß den Wissenden zukommt, daß der Prophet ausdrücklich hinzufügt, er sei auch für die Unverständigen, Einfältigen, für die Thoren nicht zu verfehlen, die ihn mit reinem Herzen gehen.

Was es in einem solchen Zusammenhange demnach sagen wolle: „kein Unreiner kann ihn gehen,“ bedarf nicht erst erklärt zu werden.

Nun könnte es aber destomehr so scheinen, als sei von einer dergleichen Ausschließung der Unreinen dann nicht die Rede, wenn es sich um die wieder anzutretende Bahn des wissenschaftlichen Berufs handle. Denn dieser fordert und giebt eine eigenthümliche Weihe. Fast auf alle Bestrebungen und Künste, wenigstens auf die, welche die Pflege des Geistes betreffen, wendet man den Gegensatz der Geweihten und Ungeweihten an, den Unterschied des Priesters und Laien. Zu jedem solchen Berufe weihet das Talent, und die Anerkennung desselben in der betreffenden Gemeinschaft, und die den reinsten Zielen und Aufgaben dieser Gemeinschaft entsprechende Entsagung und Sinnes- und Lebensweise. Wer nun die Weihe zu dem einen sich erwirbt und besitzt, dem muthen wir keine andere zu.

Aber ein heilloser Irrthum reißt die Eingeweihten der Wissenschaft und Kunst mit sich fort, daß sie meinen von der Heiligung des Menschen durch den Geist des Herrn sich entbinden zu dürfen, sich diese ersetzen zu können, und je ihre besondren Gaben, Weihen und Kräfte, sogar im Gemeinwesen ihres Volkes, als das Mittel des allgemeinen Heiles gelten machen wollen.

Wie? Verlieren sich nicht die Wege der Wissenschaft selbst in die der Ewigkeit, in die göttliche, himmlische Berufung der Menschen? Sollten sie ihr nicht dienen? Fordert nicht auch die Wissenschaft auf ihre Weise ein reines Herz, ohne daß sie selbst es geben und bewirken kann?

Ich werde mich daher auch heute nicht scheuen, aus den Urkunden der Heiligung des Menschen durch Christus ein Wort der Warnung und Aufmunterung Euch vorzutragen. 2 Tim. 2, 22.

Fliehe die Lüste der Jugend, jage aber nach der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe, dem Frieden mit allen, die den Herrn anrufen von reinem Herzen.

Diese Worte sprechen von der Weihe der Jugend, von der Weihe der Jugendkraft, sie beschreiben das Streben des christlichen Jünglings nach geeigneten Merkmalen.

Niemand lege doch in den Sinn des großen und freien Apostels das Mürrische, Aengstliche, Alltägliche herein. Christen zwar befremdet es nicht, wenn vor Lüsten gewarnt wird, aber warum predigt er Flucht vor den Lüsten der Jugend, warum nur vor den Lüsten der Jugend? Sind doch die Erregungen und Bestrebungen, die das Wort Gottes Lüste nennt und die es unter dieser Beziehung bald als Ursache bald als Folgen der Sünde verwirft, dem Menschen auf jeder Altersstufe eigen, und auf jeder Altersstufe gefährlich. Kann es ihm doch nicht in den Sinn kommen gerade Jugend, Jugendkraft und Sünde als in einander aufgehend und zusammengehörig zu denken! Es ist ein Jüngling, an den der Apostel seine Worte richtet, ein für den Dienst des Herrn geheiligter und in demselben thätiger Jüngling; und wenn der ältere Eingeweihte, um die Jugend, Kraft und Bestrebsamkeit aus dem Gebiete der Lust zu retten, wenn er einem solchen noch den Scheideweg und die rechten würdigen Ziele vorzuhalten Ursache findet, so kann wohl niemand sein, der sich seiner Warnung und Ermunterung zu entziehen Ursache hätte. So ist denn der allgemeinere Begriff der Jugend hier nichts anders als die menschliche Kraft in ihrer Entwicklung, die Entscheidung unserer Gemüthsrichtung, die Bestrebsamkeit, Freudigkeit, Lebendigkeit unsrer Natur. Und der Begriff der Lüste der Jugend nichts anders als die Verirrung und Verkehrung, die eigensüchtige, weltliche, tödtliche Ausartung an dem allen; der Sinn aber des heiligen Warners dieser: Strebe, lebe, kämpfe, erziele, aber in der veränderten Richtung, in der Verneuerung des Sinnes von Anfang her; rette dich aus dem Scheine der Freiheit, der Wahrheit, der Freude, der Gemeinschaft in die Wahrheit dieser Dinge; auf einer Flucht der sich niemand zu schämen hat, und die niemanden gereut, wird der Sieg gewonnen; Selbstverläugnung in Furcht und Liebe des Herrn ist das wahrere Leben.

Und nun lasset uns auf die einzelnen Merkmale eines solchen durchdringenden Strebens nach dem Guten, auf die einzelnen Ziele achten, die der apostolische Erinnerer stellt.

1.

Fliehe die Lüste der Jugend und jage nach der Gerechtigkeit. In einem gesunden Gemüthe regen sich die Triebe der Freiheit und der Ehre. Sie sind nicht wider Gott, sie streiten nicht wider die Seele, sie sind nicht die Lüste, die das Ebenbild Gottes an uns zerstören, wir können mit ihnen und nicht ohne sie die aufrechte Stellung vor Gott behaupten. Aber welches Herz verirrt sich nicht in dem Verlangen nach Selbstheit an die Abgründe der Willkür und Eitelkeit? Endlich wird es gar eine Ehre Sünde zu thun, und zur Schande ein Gewissen zu haben, man will es schwachen Seelen überlassen das Gebot zu halten. Und auf diese Weise frei von der Gerechtigkeit, frei zur Ungerechtigkeit, wie wir es denn sind, fragt an einem andern Orte (Röm. 6, 19. ff.) derselbe Apostel: was hattet ihr nun davon oder damals für Frucht? Er antwortet: welcher ihr euch jetzo schämet. Denn wie sollten wir uns der Frucht nicht schämen? Wir haben Schranken gebrochen, die uns schützten, wir sind Herren geworden, um den Leidenschaften zu fröhnen, gegen das Unverletzliche, gegen das göttlich Notwendige haben wir ausgeschlagen, und wozu konnte das uns anders gereichen als zur Reue und Schmach? Es besteht noch, das wissen wir, in seiner Macht und Heiligkeit. Wir aber sind muthlos vielleicht, mürbe und müde geworden, so daß wir jetzt nach bloßen Umstanden uns einrichten, und dem Buchstaben des Gesetzes dienen, ja neben dem geheimen Trotze des Knechtes die Feigheit in unserm Herzen hegen. Da rufet der Weisere billig: ich will dir einen bessern Weg zeigen, jage nach der Gerechtigkeit. Warte es nicht ab, bis sie dich dermaleinst einhole, zwingend und strafend ergreife, halte dich auch bei ihrem bloßen Scheine nicht auf, noch bei ihrer kindischen Gestalt. Nicht des Gesetzes Bruch, sondern des Gesetzes That im Geist und in der Wahrheit, Christus ist des Gesetzes Ende, der Freiheit Anfang und die ewige Ehre. Die Hüllen des Buchstabens müssen sich lösen, die Schranken der Gewohnheit müssen fallen, die Gängelbänder der Furcht und der alten Art des Gehorsams beseitigt werden. Schaue durch die dürftigen Satzungen der Meinung und Sitte der Menschen hindurch, schaue die schönen Ordnungen Gottes an, sieh, wie Gottes Finger Licht von Finsterniß, Himmel und Erde scheidet, wie er selbst Höhen, Mitten und Tiefen bestimmt, wie er den Menschen das ebenbildliche Wesen dareinstellt, Gott zu erkennen, Gotte nach zu denken, Gotte nach zu thun. Da ist alles heilig, gut, weise, da ist alles Recht. Diesem aus seinem Urgeheimniß in Natur und Geschichte heraustretenden Willen des Herrn dich aufzuschließen, in diesen Willen mit deinem Willen aufzugehen, das heißt, und das allein einen Willen, einen besonnenen und ganzen Willen haben, das ist die Freiheit, und da die Ehre. Ja, über die weltliche, natürliche Nöthigung hinaus, wider den Willen des Fleisches und der Welt den Willen des Geistes, den Willen des himmlischen Vaters thun; wo Gott etwas geschaffen und es in seiner Wahrheit, Schöne und Unschuld hingestellt hat, mit deinem Eigenwillen zurücktreten und jede Verletzung scheuen, und wo er etwas Gutes in der Anlage und im Werden dir zeigt, es ihm thun und vollenden helfen mit Erhebung über alle Trägheit, Unlust und Gleichgültigkeit, aber um dieser Gerechtigkeit willen leiden, gleichwie Christus gelitten hat, und um der Gemeinschaft willen, die wir mit ihm haben, selbst unsre Sünde und Ungerechtigkeit uns davon nicht abhalten lassen, sie zu bekennen, und durch das Bekenntniß sie von uns zu scheiden, daß Gott sie vergebe und tilge, den Geist der Kindschaft uns strafen und antreiben lassen und seine Früchte bringen, das heißt nach der Gerechtigkeit jagen, und darin, darin ist Kraft und Leben zu spüren.

2.

Hören wir ihn weiter, Meine Brüder: Fliehe die Lüste der Jugend, und jage nach - dem Glauben. Es könnte sein, daß dieß Wort hier Treue, Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit in Bezug auf Uebereinstimmung zwischen Innerem und Aeußerem, zwischen Wort und That bedeutete. Solche Treue aber wurzelt im Vertrauen auf Gottes Wahrheit und Gnade, wurzelt in dem, was sonst Glaube heißt, und es ist kein Bedenken, auch hier bei des Wortes herrschender Bedeutung stehn zu bleiben.

In einem gewissen Sinne ist es nicht unrecht noch unweise dem Glauben zu entsagen. Denn bald wird er zur todten Meinung, bald artet er zum Aberglauben aus, wenn er nicht immer mehr zur Erkenntniß kommt, und nachdem er kindisch gewesen ist zur Männlichkeit gedeihet. Die kindischen Vorstellungen und Anschläge aufgeben, und den Grund der Erfahrungen, die uns umgeben, erforschen, ist nicht wider Gott, die Begierde der Erkenntniß ist an sich keine Lust, die wider die Seele streitet. Aber wo ist der jugendliche menschliche Geist, der sich in dieser Richtung nicht bis an die Untiefen der Leere, Nichtigkeit und Lüge verirrte? Anfangs zwar ist es nur die Einseitigkeit und Halbheit, die uns beschleicht, die wir vorzüglich die Wissenden sein wollen. Wir lernen wissen und verstehen was wir geglaubt - das Ewige, das Wahre, das Gute. Wir wissen es aber, und thun es nicht, wir wissen es, und lieben es nicht. Das Wissen soll das Thun, das Wissen das ganze Leben sein. Wir lehren es, und werden selbst verwerflich, denn wer da weiß Gutes zu thun, und thuts nicht, dem ist es Sünde (Jac. 4, 17). Wir finden uns als die Gelehrten und Wissenden, die ja täglich mit den höhern und höchsten Dingen vertrauten Umgang haben, mit dem Heiligthume ab. Und das ist noch nicht alles. Das könnte man für die Schwachheit der Wissenden halten; nun kommt das Arge hinzu. In das verstehende und wissende Bestreben mischt sich der vorige Betrug des Freiheitstriebes, mischt sich jenes Gelüsten ein, alle die Geheimnisse, die das scheue Herz in Pflicht und Hoffnung, in Pflicht und Furcht nehmen, mehr und mehr zu zerdenken. Es will endlich dahin kommen, daß der unendliche Gott uns so bekannt und begreiflich wird, Natur, Geist und Leben so ermessen und verstanden, als reichte das Denken zur Seligkeit hin, als sei keine Abhängigkeit, keine Ehrfurcht, keine Hoffnung mehr möglich noch würdig. Nichts ergreift uns mehr, nichts rührt uns mehr - wir wissen ja alles, was hinter der Erscheinung ruht. Und wenn nun doch die menschliche Natur auch Herz ist und als solches unabänderlich gerührt und gehoben, ergriffen und verpflichtet sein will: welche Folgen einer dergleichen Wissenschaftlichkeit ergeben sich dann? Keine der ungewöhnlichsten ist die, daß die hochweisen endlich noch mehr wieder bejahen als sie je verneint haben und sich vor dem Unglauben in den Aberglauben flüchten. Lasset es bei euch nicht also sein, m. Fr. Dem Glauben lasset uns nachjagen, d. h. seiner Entfaltung im Herzen und Leben, daß uns die Wissenschaft nicht verdorre und erkälte, und seiner Entwickelung im Wissen und Forschen, daß wir ihn allezeit vorbehalten in der Fülle seines Lebens dem bloßen Wissen und Begreifen, daß wir das kindliche Wesen gegen Gott nimmermehr ausziehen, daß wir die Quellen der ewigen Liebe, die nur im Glauben an Christus fließen, nimmer verlassen, und anders nicht verstehen, forschen und lernen und lehren wollen, denn als solche, die Gott nicht gesehn, die ihn in seinem Sohne erkennen, im Glauben ihn über alle Dinge ehren und lieben, und in Hoffnung stehen durch Herzensreinigung ihn zu schauen. Jage nach dem Glauben. Ohne ihn ist keine Seligkeit. Oder soll die Dichtkunst euch den Mangel des Glaubens ergänzen? So wenig als des Wissens Trieb ist die dichtende Vorstellung wider Gott. Wir verjüngen uns durch sie die Natur und das Leben, wir lösen die Schranken der Gemeinheit und starren Wirklichkeit auf, wir üben die Rechte der Kunst, die der Schöpfer in die Hand unseres Geistes gelegt hat. Daran ist die Sünde noch nicht, das ist kein Verderben. Aber wo ist der dichtende Jugendgeist, der nie sich verirrte? Der nicht schwärmte statt sich zu erheben, der nicht der Eitelkeit des Fleisches zu Liebe vielmehr als nach den Urbildern dichtete, die Gott dem Geiste eingedrückt? Fliehe die Lüste der Jugend, jage nicht nach jeglichem Bilde; in ihren geflügelten Einbildungen, die kein Gedanke der Wahrheit und Freiheit trug, sind viele Seelen gesunken. Willst du dir die Werke der Phantasie schön und frisch erhalten, so heilige sie. Ohnehin zerfließen die Träume der Jugend bald, und mancher dichtete ein hohes Lied vom Leben; da er es aber nicht verwirklichen konnte, fiel er in desto trostlosere Gemeinheit herab. Einen Quell der Dichtung giebt es, meine Brüder, der nie versiegt, der bis in die Tage der Arbeit, des Schweißes, des Kummers und des Alters, seine belebenden Ströme ergießt, Einen Schwung der Kräfte, die künstlerisch wahr das höhere Leben der Menschheit nach und vorzubilden vermögen, es ist der Glaube. Jage dem Glauben nach.

3.

Fliehe die Lüste der Jugend, fährt er fort, und jage nach - der Liebe. Der Unterschied des zu Fliehenden und des zu Erstrebenden kann uns hier deutlicher hervortreten als irgendwo. Denn woher kommt uns das, daß wir eine Lust haben das Gesetz zu brechen, und dann wieder nicht Unlust genug der Menschen Knechte zu werden? Woher kommt es uns, daß wir den Glauben ausziehen und wieder dem Aberglauben anheimfallen, daß wir der Erhebung uns nicht bedienen und doch der Einbildung uns hingeben? Das hat alles seine Ursache daran, das wir die Liebe fliehen und der Lust nachjagen, nämlich anstatt der Liebe nachzujagen, die durch den Glauben die ewig schönen Gegenstände des Wohlgefallens schauet, sich mit ihnen zu vereinigen, vielmehr im Wohlgefallen an dem geschaffnen, vergänglichen Schönen, als wäre es das unvergängliche, irrig verweilen. Das ist ja der Irrthum nicht, noch das Verderben, daß alles Lebendige sich seines bloßen Daseins nicht begnügt, daß es im Andern seine Ergänzung, daß es in der Hingabe und Wiedererlangung seiner selbst, daß es in der Erkenntniß und Gemeinschaft seine Bestimmung und seine Freude sucht. Indem Ihr dieser Bestimmung folgt, verkennet den Gegensatz Lust und Liebe nicht, erkennt es wenigstens hier, daß die Lust zu fliehen ist, daß das Leben und Streben der Jugend eine Weihe gewinnen muß, und nicht dem Tode und der Traurigkeit anheimfallen soll. Oder ist diejenige Jugendlust, die zwar Liebe geheißen wird aber es nicht ist, etwas anders als die Mutter der Sünde und des Todes? Sie giebt das Schöne vor und meint das Angenehme, sie sieht wie Hingebung aus und ist nichts als eigensüchtige Beraubung, sie bringt das Wunder fertig, das schreckliche, was sie liebt zu entehren, was sie liebt zu verachten, zu hassen, zu morden. Nein, sie weiß nicht, welchem finstern Todesfürsten sie den Jüngling unterwirft, den sie beglücken will, und es blüht keine natürliche Farbe des Lebens, die nicht von ihrem Anhauche erbleichen müßte. Wenn wir nun fragen, was hilft, was schützt gegen so unendliches Verderben, vor so jähem Sturze, vor so reißender Leidenschaft, so ist eins nur zu nennen, das vollkommen hilft, das unfehlbar schützt. Es ist eben die Liebe, die wahre, die reine. Nicht die Warnung des Freundes, nicht die Stimme des Gewissens, nicht die Predigt der Hölle, nicht das beginnende Gefühl des Todes, nicht die Erfahrung des Elends wirken so unausbleiblich zur Bändigung der Begierden und zur Beschämung der Lüste als ein einziger Zug des reinen Geistes, der nicht nur Liebe heißt, sondern Liebe ist, wenn er durch die verführbare Seele geht. Die Liebe erkennt in dem andern Dasein durch die sinnliche Hülle hindurch das Göttliche an, sie erkennt Gott den alleinguten in seinen Werken, er begegnet ihr in allen seinen Geschöpfen. Die Liebe ist gläubig an das persönliche Recht, die Liebe vernimmt die Stimme, welche ruft, rühre mich nicht an, denn ich bin heilig. Die Liebe, die in Christo das erlöste Leben der Menschheit, das ewige Leben erkennt, und der getilgten Sünde, des entwaffneten Todes, des vernichteten Blendwerkes sich freuet, die Liebe freuet sich keiner Sünde, verhehlt sich kein Gesetz Gottes, vertauscht sich mit keiner Lust, die Liebe ist durch und durch keusch und heilig und unbefleckt, so, daß wenn du ein einiges menschliches Wesen liebest und also göttliches Wohlgefallen an ihm hast und göttliches Wohlwollen ihm schenkest, du dich selbst zu hoch achten mußt, um nicht allen in Furcht des Herrn ju begegnen und in Furcht des Geistes zu nahen. Jage nach dieser Liebe, die aus dem Glauben kommt.

4.

Und nun noch einmal, theure Brüder, lasset den Apostel zu euch vom Fliehen und Streben reden. Fliehe die Lüste der Jugend und jage nach - dem Frieden, mit allen, die den Herrn anrufen von reinem Herzen.

Der Kampf ist nicht vom Uebel, der Streit ist nicht wider Gott. Wo es immer ein gemeinsames Leben giebt, da giebt es Vorgang und Nachfolge, Vorzug und Nachzug. Das Einerlei wäre der Tod, das schlechthin Gleiche hätte kein Leben. Die Einheit aber des Gesetzes und Zieles in all den verschiednen Bewegungen und mannichfaltigen Gliedern, aus denen das Ganze besteht, läßt einen kämpfenden Eifer übrig, der nur der wahre Friede selber ist. Wir dürfen den Kampf noch in einem andern Sinne loben. Viele stellen sich nur äußerlich und dem Namen nach unter das Gesetz und Ziel eines gemeinsamen Lebens, oder wollen das Ziel selbst verändern und das Gesetz, endlich stoßen auf Einer Erde, ja in Einem Lande Gemeinschaften auf ihren Grenzen an einander, die an sich schon eine entgegengesetzte Meinung verfolgen. Da giebt es allerdings noch andern Streit als bloßen Wettstreit. Das Neue bekriegt das Alte, das Unfreie das Freie, vielleicht liegt die Welt gegen das Heilige, und das Gute gegen das Böse zu Felde. Dieser Krieg ist unvermeidlich, aber er schließt den Frieden nicht aus. Denn die Gerechten und Gläubigen halten ihn, suchen ihn, wollen ihn mitten im Streit. Sie unterscheiden Sache und Person, sie greifen nach keiner Waffe, die nicht Wahrheit und Recht zu ihrem Stempel hätte, sie thun denen selbst wohl, denen sie wehe thun, sie bewahren, indem sie nach Außen streiten, im Innern jene leidenschaftlose Ruhe, aus welcher zu seiner Zeit die Vergebung, ja alle Augenblicke die handbietende Versöhnung hervortreten kann. So kann man nicht sagen, meine Brüder, daß der Kampf gegen den Frieden wäre. Ist es nicht anders mit den Lüsten des Streites, mit dem Hader, der zu den Werken des Fleisches gehört. Da erglühet an irgend einer neidischen Lust, da entbrennet an seiner eignen Kälte ein Eigenwille, der fühlt sich stark genug einen andern zu bedrängen, er lehnt sich gegen den Gemeinwillen auf; Ihr gefallet euch darin, zu herrschen und zu unterjochen, zu unterdrucken, den Schwachen eure Stärke fühlen zu lassen. Und was habt ihr davon für Frucht? Keine bessere als das tiefbeschämende Gefühl, doch den Geist, der wider euch ist, nicht binden, doch das Recht, das ihr beuget, nicht beugen zu können. Dann aber noch eine andre; daß ihr nach verrauchter Kampflust, nach vereitelter Herrschbegierde, nach beschämtem Ehrgeize, ungewohnt des edlern Krieges, des heiligen Widerstandes nur zu sehr mit allem zufrieden seid und einen schimpflichen Frieden mühevoller und gottvertrauender Thätigkeit vorziehet. Jaget nach dem Frieden! Machet es, wie anderwärts der Apostel von sich sagt, fahret schön mit den Leuten, nicht als fürchtetet ihr sie, sondern weil der Herr zu fürchten ist, der die Rechte der persönlichen Ueberzeugung zu heiligen weiß, der die wahren Seelenbedürfnisse eurer Brüder zu den seinigen macht, der nicht zugiebt, daß ein Rohr geknickt und ein glimmender Tocht grausam erstickt werde. Fahret schön mit den Brüdern, und achtet den Anschein der Schwäche nicht, wenn ihr Gotte offenbar seid; sie werden es selbst in ihrem Gewissen sich sagen müssen, daß ihr stark seid in der Liebe, die stärker als der Tod ist, und ihr werdet nie die Tage des alles gutheißenden menschengefälligen Friedens kommen sehen. Jaget nach dem Frieden! Die Stätte dieses Friedens, die unvergängliche Schule wahrer Friedfertigkeit habt ihr nicht weit zu suchen. Sie ist freilich nicht unter denen, die bald dem bald jenem menschlich großen Namen nachlaufen und nachbeten, sie ist bei denen, die den Namen des Herrn anrufen aus reinem Herzen. Sie ist nicht in der weltlichen, sie ist in der christlichen Gemeine aufgeschlagen. Natürlich und nothwendig ist die Gemeinschaft, schöner noch die freie gewählte und doch auch schon innerlich nothwendig gewordne Geselligkeit der Freunde; man hat gleiche Ziele und Wege, und doch bringt jeder etwas besondres mit, und stellt etwas eigenthümliches dar; man versteht sich leicht, man tauscht sich immer aus und ergänzet sich wieder, man kommt von den Einschränkungen der Eigenheit und der Einsamkeit los. Man feiert von der Mühe des Tages. Und doch, laßt es uns gestehen, vollständig können wir nur feiern, wo wir die Erlösung feiern vom innersten und wesentlichen Elende, vollständig nur inne werden was Gemeinschaft sei, wo wir die Einheit himmlischer Berufung inne werden. Dort in der Welt und weltlichen Geselligkeit haben wir Bekannte und sind es einander, die sich doch in der Hauptsache nicht kennen noch kennen lernen wollen, obschon sie alles sonst von einander wissen und erfahren; hier kennen wir oft den nahe stehenden nicht nach Name und Person und werden doch mit ihm in Einem Geiste das einzig und ewig vereinende Wesen des Vaters und des Sohnes inne. Dort in der Menge fühlen wir uns oft verlassen, hier in eine unübersehbare Brüderschaft, in eine unsichtbare, bleibende Gottesstadt aufgenommen. Denn diese schließt kein Herz aus, das sich reinigen läßt. Dort, wo wir Vergnügen und Erholung und Wohlsein suchen, empfangen wir die schmerzlichsten Verwundungen am Gewissen, an der vom Neide verletzbaren Zufriedenheit, hier heilt das ganze Herz wieder aus. Dort bereiten die Leidenschaften im scheinbaren Frieden den ungerechten heillosen Krieg Aller gegen Alle vor, der um das Mehr oder Minder von irdischer Habe und weltlicher Ehre geführt wird, und wir werden unversehens darein gezogen: Hier nehmen mir Alle an der allein gerechten und seligen Empörung gegen die Herrschaft des Fürsten der Finsterniß Antheil. Dort theilt und zerreibet und zerstreuet uns die Freude, hier sammelt, kräftigt und gründet uns die Feier. Ja hier lernen wir den Frieden halten, weil wir ihn haben lernen. Wer wollte diese Stätte umgehen? Hier lernen wir dem allen entfliehen, was Kraft zu sein nur lügt, und dem allen nachjagen, was ewige Jugend, Geist und Leben ist. Von hier aus - und dieses Hier liegt selbst im Geiste der Gemeine der gläubigen und reinen Herzen - von hier aus quillt alles frische Blut und Leben der Liebe , der Freude, der Treue in die Freundschaft und Gemeinschaft der Jünglinge und Männer herein, wenn sie ohne Zorn und Zweifel ihre Hände und Herzen in des Erlösers Namen zu Gott erheben. Fliehet die Lüste der Jugend, jaget aber nach der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe und dem Frieden, mit Allen, die den Herrn von reinem Herzen anrufen. Amen.

Das Streben des christlichen Jünglings
Dr. Carl Immanuel Nitzsch
Bonn,
bei Adolph Marcus
1836

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