Monod, Adolphe - Der Apostel Paulus - Das Christenthum Pauli oder seine Thränen.

Monod, Adolphe - Der Apostel Paulus - Das Christenthum Pauli oder seine Thränen.

Zweite Rede.

„Von Miletus sandte er gen Ephesus und ließ rufen die Aeltesten der Gemeinde. Als die zu ihm kamen, sprach er zu ihnen: Ihr wisset, von dem ersten Tage an, da ich bin in Asia gekommen, wie ich die ganze Zeit bin bei euch gewesen, und habe dem Herrn gedient mit aller Demuth und mit vielen Thränen und Anfechtungen, die mir sind widerfahren durch die Nachstellungen der Juden; wie ich nichts verhalten habe des Nützlichen, daß ich's euch nicht verkündiget hätte, und euch gelehret öffentlich und in Häusern, und habe bezeuget, beide den Juden und Griechen, die Buße zu Gott und den Glauben an unsern Herrn Jesum Christum. Und nun siehe, ich im Geist gebunden, fahre hin gen Jerusalem, weiß nicht, was mir daselbst begegnen wird, ohne daß der Heilige Geist von einer Stadt zur andern bezeuget und spricht: Bande und Trübsale warten meiner. Aber ich achte deren keines, halte mein Leben auch für mich selbst nicht theuer, auf daß ich vollende meinen Lauf mit Freuden, und das Amt, das ich empfangen habe von dem Herrn Jesu, zu bezeugen das Evangelium von der Gnade Gottes. Und nun siehe, ich weiß, daß ihr mein Angesicht nicht mehr sehen werdet, Alle, durch welche ich gezogen bin und gepredigt habe das Reich Gottes. Darum bezeuge ich euch an diesem heutigen Tage, daß ich rein bin von Aller Blut. Denn ich habe euch nichts verhalten, daß ich nicht verkündigt hätte den ganzen Rath Gottes. So habt nun Acht auf euch selbst und auf die ganze Heerde, unter welcher euch der Heilige Geist gesetzet hat zu Bischöfen, zu weiden die Gemeinde Gottes, welche Er durch Sein eigen Blut erworben hat. Denn das weiß ich, daß nach meinem Abschied werden unter euch kommen grausame Wölfe, die der Heerde nicht verschonen werden. Auch aus euch selbst werden aufstehen Männer, die da verkehrte Dinge reden, die Jünger an sich zu ziehen. Darum seid wacker und denket daran, daß ich nicht abgelassen habe drei Jahre, Tag und Nacht, einen Jeglichen mit Thränen zu vermahnen. Und nun, liebe Brüder, befehle ich euch Gott und dem Wort Seiner Gnade, der da mächtig ist aufzubauen und euch zu geben das Erbe unter Allen, die geheiligt sind. Ich habe Keines Silber, noch Gold, noch Kleidung begehrt. Denn ihr wisset selbst, daß mir diese Hände zu meiner Nothdurft, und denen, die mit mir gewesen sind, gedienet haben. Ich habe euch Alles gezeiget, daß man also arbeiten müsse und sich der Schwachen annehmen und gedenken an die Worte des Herrn Jesu, das Er selbst gesagt hat: Geben ist seliger denn nehmen. Und da er Solches gesagt, knieete er nieder und betete mit ihnen Allen. Es ward aber viel Weinens unter ihnen Allen und fielen Paulo um den Hals und küsseten ihn, am allermeisten betrübt über dem Wort, das er sagte, sie würde sein Angesicht nicht mehr sehen. Und geleiteten ihn in das Schiff.
Apost. 20, 17-38.

Heute, da ich den Apostel Paulus durch den Christen Paulus zu erklären beabsichtige, glaubte ich keinen geeigneteren Text wählen zu können als seine Abschiedsrede an die Aeltesten der Gemeinde zu Ephesus. Paulus ermuntert sie im Hinblick auf die Treue, mit der er seine Aufgabe erfüllt hat, die ihrige ebenso gewissenhaft zu lösen; er stellt sich somit im edelsten Sinne des Wortes auf einen persönlichen Standpunkt: er spricht von sich, von dem, was er gethan, von dem, was er ist. Es ist das für unsre Untersuchung ein wahres Glück; denn was könnte uns willkommener sein, als Paulus von seiner eignen Hand lebendig gezeichnet zu sehen und zwar mit den Zügen, die in seinen eignen Augen das Wesentlichste seines apostolischen Amtes bilden?

Er stellt sich hier zwar als Apostel dar, und wir wollen ihn als Christen betrachten; aber so bedeutend dieser Unterschied auch bei jedem Andern sein mag, bei ihm verschwindet er ganz und gar. Bei ihm ist der Apostel nichts anderes als der Christ, den Gott beauftragt hat, sein Leben der Ausbreitung des Christenthums zu widmen, und den Er dieses Zweckes wegen mit gewissen übernatürlichen Gaben ausgerüstet hat, mit Gaben, die, wenn sie auch als eine Gnade des Apostelamtes anzusehen sind, doch nicht das innerste Wesen oder die eigenste Kraft desselben ausmachen. Daher schildert er sich als Apostel und nicht als Redner, nicht als Mann der Verwaltung oder der Wissenschaft, auch nicht als Träger besonderer Wunderkräfte; er zeigt sich uns in seiner Selbstverleugnung, seiner Liebe, seiner Zärtlichkeit und steigt bis in die Tiefen des Seelenlebens hinab, wo der Christ und der Apostel im Innern des Menschen ineinander aufgehen. Er offenbart uns in wenigen Zeilen das Geheimniß seines apostolischen Lebens durch das Geheinmiß seines christlichen Lebens.

Allein diese wenigen Zeilen sind so inhaltsreich, daß ich mich genöthigt sehe, aus ihnen noch eine Auswahl zu treffen. Enthält doch diese kurze, aber gehaltvolle Rede, die man als eine vorläufige Trauerrede auf seine ganze apostolische Wirksamkeit ansehen kann. Alles in Allem: seine Lehre, seinen Glauben, seine Liebe, seinen Eifer, seine Thätigkeit, seine Aufopferung, seine Geduld, seine Wachsamkeit! Unter den verschiedenen Zügen, aus denen das von ihm selbst geschilderte Christenthum des Apostels besteht, suche ich einen besonders hervortretenden Zug, der das Ganze beherrscht und dem Bilde Einheit verleiht; ich finde ihn in den Thränen des Apostels. Je stärker der Gegensatz ist, welchen dies rührende Zeichen menschlicher Schwäche gegen die unbeugsame Willens- und Thatkraft des größten Apostels zu bilden scheint, um so mehr überrascht mich die Bedeutsamkeit, die sie in jenem Auftritt zu Milet einnehmen. Man sagt zuweilen, ein Mensch habe Thränen in seiner Stimme; hier kann man behaupten, daß Paulus, ohne seine darum nicht minder ausgesprochene christliche Freudigkeit zu beeinträchtigen - wunderbarer Widerspruch des Evangeliums - daß Paulus in seiner ganzen Rede Thränen hat. Erinnert er doch gleich zu Anfang an die Thränen, die seine ganze apostolische Laufbahn bezeichnen: „Wie ich dem Herrn gedient habe in aller Demuth und mit vielen Thränen“. Etwas weiter erinnert er uns an die Thränen, die er bei der Ermahnung seiner lieben Epheser vergossen hat: „Denkt daran, daß ich nicht abgelassen, Tag und Nacht einen Jeglichen mit Thränen zu ermahnen.“ Dann sehen wir, wie er nach dem Schluß seiner Rede, nachdem er sich mit großer Mühe einige Augenblicke im Gebet gesammelt, seine Thränen mit denen seiner Zuhörer vermischt, darum daß sie sein Angesicht nicht mehr sehen sollten. “ Es war viel Weinens unter ihnen.„

Die Thränen des Apostels sind nicht Thränen weichlicher oder fleischlicher Rührung, sondern ernstere, bedeutsamere Thränen, die ihren Grund sowohl in der Natur als in der Gnade haben, und die darum in unserm Innern nicht blos eine flüchtig vorübergehende Rührung, sondern manche heilsame Betrachtung erwecken und uns in dem Herzen des Apostels das innere und persönliche Christenthum, das wir ergründen wollen, erkennen lassen. Fassen wir sie darum näher in's Auge, sie sind nicht alle gleicher Art. Die ersten, die ihm die Mühseligkeiten seines Apostelamts entlockt haben, sind Thränen des Schmerzes, Die zweiten, die ihm durch seine geistliche Sorge entlockt sind, sind Thränen des Erbarmens. Die letzten, die ihm die Aussicht, seine Freunde in Ephesus nicht wiederzusehen, in diesem Augenblicke auspreßt, sind Thränen der Zärtlichkeit. Ein sonderbarer Gedanke, sagt ihr vielleicht, das Christenthum des Apostels aus seinen verschiedenen Thränen erklären zu wollen! Sonderbar immerhin, wenn er nur wahr ist, und er ist um so wahrer, als der Apostel, seinem Herzensdrange folgend, sich uns auf diese Weise ganz natürlich ohne vorgefaßte Absicht schildert. Uebrigens fürchte Niemand, daß der Gesichtspunkt, den ich wähle, für meinen Gegenstand zu niedrig ist. Der Zug, durch den ich den Apostel zeichne, gehört zu denen, durch welche der heilige Geist den Herrn selbst schildert. Auch Jesus hat Seine Thränen vergossen und zwar dieselben Thränen wie Paulus: Thränen des Schmerzes in Gethsemane, Thränen des Erbarmens über Jerusalems Zukunft und Thränen der Zärtlichkeit am Grabe Seines Freundes Lazarus.

Die ersten Thränen, die uns den innern Menschen in Paulus offenbaren, sind Thränen des Schmerzes. Paulus ist Christ, nicht Stoiker; gleich seinem Meister sucht er keine Ehre darin, den Ausbruch eines Schmerzes zu unterdrücken, den zu vermeiden nicht in seiner Macht stand und den zu verbergen ihm unnatürlich schien. Wenn der Schmerz einem Philosophen des Alterthums den stolzen Ausruf auspreßt: „O Schmerz, du wirst mich nicht zu dem Geständniß bringen, daß du ein Uebel bist!“ so setzt er an die Stelle eines freien und aufrichtigen, durch einen Schmerzensschrei oder eine Thräne sich kundgebenden Geständnisses ein erzwungenes und verstecktes. Wirkliche Kraft liegt nur in der Wahrheit. Paulus leidet und weint; er hat in seinem Leben viel geweint, weil er viel gelitten hat.

Um aber das zu schildern, was er gelitten, müßte man seine ganze Geschichte von seiner Bekehrung an erzählen. Wie viel Uebles haben ihm die Juden zugefügt, die er hier allein nennt, weil sie überall die Urheber oder Anstifter aller ihm gewordenen Verfolgungen waren! Kaum vor den Thoren von Damaskus bekehrt, hätten sie ihn daselbst getödtet. wäre er ihnen nicht dadurch entkommen, daß er Nachts in einem Korbe aus dem Fenster an der Mauer hinuntergelassen wurde. So wie er in Jerusalem ankommt, trachten die dortigen Juden ihm nach dem Leben und er kann sich nur durch eine schleunige Flucht nach Tarsus ihren Verfolgungen entziehen; in Paphos durchkreuzt ein falscher jüdischer Prophet seine Wirksamkeit; Juden verjagen ihn aus Antiochien in Pisidien, verfolgen ihn bis nach Ikonien; Juden sind es, die ihn vor den Thoren Lystra's steinigen - und doch sind das nur die ersten Schritte in seinem Berufe, der spätere Verlauf entspricht diesem Anfange. Das ganze Amt des Apostels ist ein Thränenamt; welches die ganze von dem Psalmsänger geweißsagte Bitterkeit, aber auch die ganze von ihm verheißene Herrlichkeit verwirklicht: „Die mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten; sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben,“ (Ps. 126, 5 u. 6,) Durch die Kraft seines Glaubens eilt Paulus den Tagen der Ernte voraus und siegt, obgleich er weint; aber er weint auch, obgleich er siegt. Er weint, während er um Mitternacht in dem Gefängniß zu Philippi lobsingt; er weint, wenn er den Thessalonichern schreibt: „Seid allezeit fröhlich;“ er weint in unsrer Rede zu Milet und „vollendet seinen Lauf in Freuden;“ er weint, indem er in Rom das Abschiedslied anstimmt: „Ich werde schon geopfert, und die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden. Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten,“

Halten wir uns an den Apostel selbst. Welch ein Schmerzensbild - dieser von seiner eignen Hand entworfene Abriß seines Lebens! „Sind sie Diener Christi (ich rede thöricht), so bin ich es wohl mehr. Ich habe mehr gearbeitet, ich habe Schläge erlitten, ich bin öfter gefangen, oft in Todesnöthen gewesen; von den Juden habe ich empfangen vierzig Streiche weniger einen. Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht habe ich zugebracht in der Tiefe des Meeres; ich habe oft gereiset, bin in Gefahr gewesen zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meere, in Gefahr unter den falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; ohne was sich sonst zuträgt, nämlich, daß ich täglich werde angelaufen und trage Sorge für alle Gemeinden. Wer ist schwach und ich werde nicht schwach; wer wird geärgert und ich brenne nicht?“ (2 Cor. 1l, 23-29.)

Als Paulus während seines langen Aufenthalts in Ephesus und einige Monate vor der Zusammenkunft in Milet diese Worte an die Korinther schrieb, hatte er kaum zwei Drittheile seiner Laufbahn zurückgelegt; zehn Arbeitsjahre, d. h. zehn Leidensjahre standen ihm noch im Dienste seines Herrn bevor. Was wird er erst am Ende seines Apostolats uns sagen können, als der Ausgang die dunkeln Ahnungen, die ihn in Milet bewegen, aber nicht erschüttern können, bewahrheitet hatte, ja über sie hinausgegangen war: „Und nun gehe ich nach Jerusalem , weiß nicht, was mir daselbst begegnen wird, ohne daß der heilige Geist in allen Städten bezeugt und spricht: Bande und Trübsal warten meiner.“ Uebrigens hat Der, für den in der Zukunft nichts verborgen ist, gleich beim Beginn in einem einzigen Worte kürzer und bestimmter als Paulus dies vorher verkündet: „Gehe hin, sprach der Herr zu Ananias, denn dieser ist mir ein auserwähltes Rüstzeug, daß er meinen Namen trage vor den Heiden und vor den Königen und vor den Kindern von Israel. Denn ich will ihm zeigen, wie viel er um meines Namens willen leiden muß.“ (Apost. 9, 15 u. 16).

Diese letzten Worte, die ich die Einweihungsrede Pauli nennen möchte, zeigen uns den innigen Zusammenhang zwischen seinem Apostolat und seinen Leiden. Geht man nur durch viele Trübsale in das Reich Gottes ein, so bedarf es doppelter Trübsal, um es der Welt verkündigen zu können; aber die Thränen, die der Apostel so reichlich auf seinem Wege vergoß, sollten nicht umsonst die Erde benetzen, sie machen sie fruchtbar. Leiht man doch einem Sachwalter, der für die Sache, die er versicht, leidet, ein aufmerksames Ohr; könnte er wohl ein zuverlässigeres Zeugniß für seine aufrichtige und tiefe Ueberzeugung bieten! Ja, es liegt hierin noch mehr: Der Schmerz hat schon an und für sich gewisse Rechte auf das Menschenherz; er übt eine Herrschaft aus und erlangt eine ihm eigenthümliche Achtung. Der Apostel selbst beruft sich mit der Kenntniß des menschlichen Herzens, die aus Allem, was er sagt, hervorleuchtet, auf dies natürliche Gefühl, indem er den Galatern schreibt: Hinfort mache mir Niemand weiter Mühe; denn ich trage die Maalzeichen des Herrn Jesu an meinem Leibe.“ (Gal. 6, 17.) Es darf euch daher nicht Wunder nehmen, wenn Paulus so gern auf die Erzählung seiner Schmerzen zurückkömmt; es liegt darin nicht etwa eine Erniedrigung des Stolzes von sich zu reden, sondern der Wunsch der Liebe zu überzeugen. Zudem hatte er diesen zarten Weg zum Menschenherzen von einem Größeren gelernt. Wenn die Schmerzen Christi bei Gott um Gnade für den sündigen Menschen flehen, so sprechen sie bei dem Menschen für die Lehre des göttlichen Erlösers. Wer hat nicht empfunden, wie sehr die Sendung Christi an Macht über unsern Geist, oder vielmehr über unser Herz gewinnt durch den furchtbaren Kampf in der Wüste, welcher seinen Erlösungsberuf eröffnet, durch jene Reihe fortwährender Verfolgungen, die ihn fortsetzen, und besonders durch das schwere Leiden in Gethsemane und auf Golgatha, die ihn beenden! Unser Apostel ging also in den Geist seines Meisters ein, als er jene für die Ausleger so bedenkliche, für die Einfältigen so erbaulichen Worte schrieb, in denen die Leiden des Jüngers als beinah eben so nothwendig zur Belehrung der Kirche dargestellt sind als die des Herrn zur Erlösung derselben. „Ich freue mich in meinen Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an Trübsalen Christi für Seinen Leib, welcher da ist die Gemeinde.“ (Col. 1, 24.)

Ja, liebe Bruder, seit jenem Tage, wo uns Jesus am Kreuze erkauft hat, wird Alles, was groß, mächtig, heilsam und ernst ist, werden alle Saaten des Lebens und der Wiedergeburt nur in Schmerz und Tod gesäet. Wißt ihr, was ich, um auch die Ungläubigsten unter euch zu erschüttern, wünschen möchte? Ich wollte, ich könnte Paulus diese Kanzel besteigen lassen, abgemagert durch Fasten, ermattet durch Anstrengungen, erschöpft durch Wachen, entkräftet durch Gefängnißhaft, verstümmelt durch die Ruthenstreiche von Philippi und die Steinwürfe von Lystra. Sagt, welchen Eingang würden solche Erinnerungen zu seiner Rede bilden, welches Gewicht, welchen Eindruck würden sie dem geringsten seiner Worte verleihen! Wie kann ein treuer Diener des Evangeliums nach der jetzigen Auffassung des Wortes, ein Mann, dessen Tage in Wohlleben vergehen, der dem Leiden fremd ist, in vollen Zügen die Annehmlichkeit des persönlichen, häuslichen, öffentlichen Lebens genießt, mag er auch allgemein geachtet und geliebt sein, jemals diese mächtige Wirkung hervorbringen! Ach, braucht man denn diese gemächlich lebenden Diener des Evangeliums so weit zu suchen? Wären wir anders, wie hätte dann das gegenwärtige Geschlecht der Kinder Gottes uns hervorgebracht, ja, wie ertrüge es uns nur! Ist es nicht selbst ein Geschlecht des Wohllebens?

Man hat die Bemerkung gemacht, daß im Gegensatz zu früheren Zeiten das Evangelium in unsern Tagen die meisten Fortschritte unter den wohlhabenden Ständen gemacht hat; fügt jedoch hinzu, daß sich dasselbe, um bei ihnen Eingang zu finden, nach ihrem Bilde gestaltet hat, und daß das Christenthum, in welchem diese Klassen leben, das Gepräge ihrer eigenen Behaglichkeit und Bequemlichkeit an sich trägt. Denn, was kostet es, heutzutage ein Christ, und zwar ein rechtgläubiger, untadeliger Christ nach den christlichen Ansichten unsrer Zeit zu sein! Ehemals war diese Frage eine schreckliche Frage. Ein Christ sein war in vielen Verhältnissen nichts anderes, als sein Wohlleben, sein Vermögen, seine Ehre, seine Familie, sogar sein Leben aufopfern. Gestehen wir es nur, bei uns stehen die Dinge nicht so schlimm, und wenn diese Umgestaltung nun auch unsers Herrn Gnade und Erbarmen uns kundgibt, hat sie nicht zugleich in Beziehung auf uns, in Christo geliebte Brüder und Schwestern, ihre ernste, fast erschreckende Seite? Es steht geschrieben: „Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und folget mir nach. der kann nicht mein Jünger sein.“ Nun wohl! Wo ist euer Kreuz? Welches sind die Opfer. die Schmerzen, die Demüthigungen, zu denen euer Glaube euch verurtheilt, und - beachtet diese Frage wohl - welches sind die Freuden, die Genüsse, die Eitelkeiten, mit denen euer Evangelium in Kampf lebt? Nein, weder ein leichtfertiges noch ein verweichlichtes Leben stimmt mit der christlichen Auffassung des Lebens, woran ich in diesen Reden denke, überein. Ist es euch wirklich Herzenssache, zu der Erneuerung der Kirche und der Gesellschaft eurerseits mitzuwirken, so erwäget wohl, daß ihr dies nur in einem ernsten, demüthigen. kreuztragenden Leben vermögt. Hiezu eignen sich nicht die Jaebez. deren Gebet lautet. „Wahre unsre Gränze, und gib, daß wir ohne Schmerzen sind“ (l Chron. 4, 9 u. l0); es gehören Menschen dazu, wie Paulus, die „allezeit das Sterben des Herrn Jesu an ihrem Leibe tragen.“ Irre ich mich, meine Brüder, wenn ich annehme, daß Manche unter uns, meinen Ermahnungen vorauseilend, im Stillen nach diesem so bittern, aber auch so kräftigen Todesleben geseufzt haben? Möge bald ein Geschlecht erstehen, das zur Ausführung des heiligen Werkes, welches uns befohlen ist, tauglicher ist als das jetzige! Und ist die Erde, die uns trägt, zur Erzeugung dieses Geschlechts noch nicht genugsam befruchtet durch die Thränen des Apostels, so möge sie es doch durch das Blut des Kreuzes sein!

„Wachet und denket daran, daß ich nicht abgelassen habe, drei Jahre Tag und Nacht einen Jeglichen mit Thränen zu ermahnen.“ Immer wieder lese ich diesen Vers, ich werde nicht müde, ihn stets von neuem zu lesen. In diesen Thränen des Erbarmens durchschaue ich den Christen bis in seinen innersten Herzensgrund, - ahne ich im voraus den Apostel bis ans Ende seiner Laufbahn. „Drei Jahre habe ich nicht abgelassen Tag und Nacht einen Jeglichen mit Thränen zu ermahnen.“

Welch ein Ermahnen! Kein Zug, der nicht trifft! „Drei Jahre,“ - das gilt der Zeit, der Apostel hat keinen Tag verloren, von dem ersten bis zum letzten, solange er in Ephesus verweilte; „bei Tag und bei Nacht, ob ermüdet oder erfrischt, ob leicht oder schwer, zur Zeit oder zur Unzeit“ - das gilt den äußern Umständen; „ ich habe nicht abgelassen“, ohne Aufhören, ohne Unterbrechung. - das gilt der Ausdauer; „einen Jeglichen “, nicht allein die Aeltesten, sondern auch die Glieder der Gemeinde zu Ephesus, - das gilt den Personen; endlich „ mit Thränen“, - das gilt der Liebe.

Versucht es einmal, euch diese Verhältnisse zu vergegenwärtigen; versetzt euch an die Stelle derjenigen, die Paulus auf diese Weise ermahnt. Denkt euch, ihr wäret einer dieser Juden oder Heiden von Ephesus, die da anfingen, dem Evangelium ihr Ohr zu leihen; es handelte sich jetzt darum, euren zwischen Gott und der Welt noch hin und her schwankenden Sinn zur Entscheidung zu bringen. Oder denkt euch, ihr wäret eins jener Gemeindeglieder, die das Evangelium noch nicht ernstlich ergriffen haben, sondern sich einbilden, es ließe sich mit dem Geiste der Zeit in Einklang bringen, und die Aufgabe wäre nun, euch ganz entschieden für Christus zu gewinnen. Seht, wie der Apostel euch nicht mehr Ruhe läßt, als er sich selber gönnt; wie er euch den Tag über nachgeht und bis in die Nacht hinein bei euch aufhält. Beklagt euch nicht über seine Zudringlichkeit; stört er doch eure Ruhe, ihr Undankbaren, nur einmal, während er die eigne Nacht für Nacht opfert und zwar bald für den Einen, bald für den Andern. Uebrigens wird er euch, was ihr auch thun mögt, nicht ruhen lassen, bis er erlangt hat - was? welche Gunst, welche Gnade? Ach, die größte Gunst, die größte Gnade, die ihr ihm erweisen könnt, die, euch zu Christo zu bekehren oder ihm mit größerer Treue zu dienen. Ihr verweigert sie ihm, ihr entzieht euch seinen Bitten, ihr stoßt ihn vielleicht zurück; aber ehe ihr euch ganz von ihm abwendet, seht ihn doch an: er weint! Er weint über die Sünden, in der ihr verharrt, über das Unheil, welches euer Beispiel der Gemeinde zufügt, über das Aergerniß, welches ihr der Welt gebt, und vor allem über die Zukunft, die ihr euch bereitet. Der Apostel liegt in Thränen vor euch, ich möchte fast sagen, zu euren Füßen, was sagt ihr dazu? Einst faßte der Gott, dem er dient. Alles, was Sein Apostel für Ihn werden sollte, in das eine Wort zusammen: „Siehe, er betet“ (Apost. 9, 1l); ihr dagegen, denen er die frohe Botschaft bringt, ihr könnt Alles, was er euch ist, mit dem einen Worte ausdrücken: Siehe, er weint.

Denn lassen euch die Thränen, die er um euretwillen vergießt, nicht in das innerste Herz seines Christenthums blicken? Was mich anlangt, so finde ich darin die christliche Glaubenslehre und christliche Moral; ja noch viel mehr: statt der Glaubenslehre die Wahrheit und statt der Moral die Liebe. Die Wahrheit spricht sich darin so klar auf, daß sie ihn, wenn ihr sie fernerhin verwerft, ein furchtbares Unglück für euch ahnen läßt; die Liebe ist darin so tief empfunden, daß ihm euer Heil fast ebenso nothwendig erscheint wie sein eignes. Was ist dies anders, als seine schöne, durch eine noch schönere Verwirklichung vervollständigte Erklärung des christlichen Glaubens „Wahrheit und Liebe“. (Ephes. 4, 15.)

Ich wende mich hier an diejenigen unter euch, meine lieben Zuhörer, die unsre Reden der Uebertreibung zeihen, und denen der Glaube, welchen wir predigen, zu sonderbar in seinen Grundsätzen, zu ausschließlich in seinen Behauptungen, zu streng in seinen Drohungen erscheint. Ich richte an sie eine einzige Frage und beschwöre sie, dieselbe ohne Vorurtheil zu beantworten. Verstand Paulus, in welchem ihr wie ich den treuen Träger der christlichen Offenbarung ehrt, das Evangelium wie ihr oder wie ich? Und um diese Frage genau zu erörtern, halte ich mich nur an den einen Zug: Paulus kann sein Evangelium nicht zurückweisen sehen, ohne bittre Thränen zu vergießen; das genügt mir. Ich frage: Was ist die evangelische Wahrheit in den Augen dieses Mannes, der euch mit Thränen beschwört sie anzunehmen? Es handelt sich darum, ob das Evangelium Pauli nur ein reinerer Deismus ist, dessen ganze Lehre nur in dem Dasein Gottes und in der Unsterblichkeit der Seele, dessen Offenbarung nur in Gottes Vaterliebe und der Menschen Bruderliebe besteht, der als Mittler nur einen Christus kennt, welcher als Prophet lebt und als Märtyrer stirbt, - oder ob dies Evangelium eine ganz besondere Religion ist, die außerordentliche neue Dinge offenbart, einen unbekannten Gott verkündigt, eine unaussprechliche Erlösung verspricht, eine Umwandlung von Grund auf verlangt, die barmherzig und schrecklich zugleich ist, ja weit wie die Erde, hoch wie der Himmel, tief wie die Hölle. Ihr braucht nicht erst die Briefe und Reden des Apostels durchzulesen, die ja voll der fröhlichen Botschaft, einer überraschenden, überschwänglichen Gnade sind; seht ihn doch nur weinend zu euren Füßen. Ja, erklärt mir die Thränen des Apostels, wenn er der Welt keine andre Lehre zu bieten hatte als die eurige - als eure Lehre. Und werdet ihr weinen, wenn man sie verwirft? Was hat denn diese Lehre für euch gethan, das euch verpflichtete, so viel für sie zu thun? Erklärt mir seine Thränen, wenn er etwas Geringeres verkündete als die Menschwerdung, die Erlösung, die Wiedergeburt, eine unverdiente freie Gnade, einen Gott-Heiland, „den Weg, die Wahrheit und das Leben!“ Es handelt sich darum, ob das Evangelium Pauli nur eine mehr oder minder sichere Auslegung, eine mehr oder minder begründete Ansicht ist, die wir gegen die Auslegungen und Meinungen Andrer nur bescheiden vertheidigen, jedoch nicht mit aller Entschiedenheit zu behaupten wagen, um nicht des Stolzes und der Unduldsamkeit angeklagt zu werden; oder ob dies Evangelium die Wahrheit selbst ist. die eine, unbestreitbare, unwandelbare, ewige, die gegen Alle mit der unbeugsamen Festigkeit eines in sich selbst gewissen Glaubens vertheidigt werden muß? Ihr braucht die Briefe und Reden des Apostels nicht zu durchforschen, in denen überall dieser eifrige Glaube athmet, der, ohne etwas von seiner wunderbaren Bestimmtheit und Klarheit zu verlieren, bis in die geheimnißvollsten Tiefen dringt; ihr braucht ihn nur weinend zu euren Füßen zu sehen! Ja, erklärt mir diese Thränen des Apostels, wenn er der Welt nur eine wahrscheinliche Glaubensmeinung zu bringen hatte, wie ihr es an seiner Stelle auch könntet; erklärt sie mir, wenn er etwas Geringeres verkündete, als die einzig wahre, allein heilsame Wahrheit, außerhalb welcher es nur Verirrung. Sünde und Verdammniß gibt? Es handelt sich endlich darum, zu wissen, ob Pauli Evangelium denen, die es verwerfen, nur mehr oder weniger schmerzliche Uebungen, mehr oder weniger peinliche Prüfungen in den dunkeln Entwicklungen einer undurchdringlichen Zukunft voraussagt, - oder ob er ihnen die Schrecken des göttlichen Gerichts, die Furcht vor dem zukünftigen Zorne, die Schmerzen einer ewigen Strafe offenbart? Mögen Andre über die genaue Bedeutung des Wortes „ewig“ streiten, mögen sie untersuchen, ob es nie von einer endlichen Dauer gebraucht wird - mögen sie alle Stellen der heiligen Schrift durchforschen, alle Schriften und Reden des Apostels vergleichen, wir bedürfen dessen nicht: uns ist es genug, ihn weinend zu unsern Füßen zu sehen. Ja. erklärt mir Pauli Thränen, wenn er alle Ausflüchte, die eurer Empfindsamkeit zu Gebote stehen, zu seiner Verfügung hat; erklärt sie mir, wenn er nicht das Bild einer entsetzlichen Strafe für diejenigen vor Augen hat. welche die Wahrheit verwerfen oder sich von ihr abwenden, wenn er nicht ein entsetzliches, unaussprechliches, alle Begriffe übersteigendes Elend für sie bereitet sieht, oder, um mich seiner kraftvollen Sprache zu bedienen „ein schreckliches Warten des Gerichts und des Feuereifers, der die Widersacher verzehren wird.“ Ich sprach soeben von denen, die unsern Glauben nicht theilen! Ihr, die ihr euch zu ihm bekennt, ihr rühmt euch vielleicht, die Thränen des Apostels, dessen Evangelium ja auch das eurige ist, erklären zu können? Ach, sollten wir uns dessen rühmen? Hätten wir nicht viel mehr Grund, an unsre Brust zu schlagen? Können wir Pauli Thränen erklären, verstehen wir sie aber nicht zu weinen, so macht uns dies nur um so armseliger. Wir sprechen dem Unglauben die Möglichkeit ab, die Thränen des Apostels anders zu erklären als aus der Wahrheit, die er verkündigt; gestatten wir unserseits aber auch dem Unglauben, daß er uns herausfordert, sie anders zu erklären als durch die Liebe, die ihn beseelte. Selbst bei der unerhörten Neuheit seiner Offenbarungen, selbst bei der unwandelbaren Gewißheit seines Glaubens, selbst bei dem rächenden Feuer, welches er den Unbußfertigen ankündigt, erklärt mir die Thränen Pauli, wenn er nicht mit dieser göttlichen Wahrheit eine göttliche Liebe verband, wenn er nicht euer Heil ebenso glühend ersehnte, wie das seinige, wenn er nicht dem Grundsatze seines Meisters nachlebte: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Erklärt mir auch, wie ihr und ich, die wir für unsre leiblichen Uebel, für die Trübsale in unsern Familien und für unsre öffentlichen Unglücksfälle Thränen haben, die Quelle derselben versiegt finden, sobald es sich nur um das Verderben der Seelen und um die Ehre Gottes handelt; erklärt es mir, wenn wir nicht eben so kalt und unbeständig sind, wie der Apostel liebevoll und sich selber treu war. Was ist der zu euren Füßen weinende Apostel anders als die Liebe des lebendigen Gottes, wie sie im Herzen eines Menschen lebt und das Evangelium in Handlung, in Klarheit, in eine wirkliche und greifbare Thatsache verwandelt?

Welche Gewalt liegt daher auch in diesen Thränen? Wer vermöchte ihnen zu widerstehen? Könnt ihr es? Ueberlegt es euch. Angenommen, ihr habt den beredtesten, dringendsten, feierlichsten Ermahnungen des Apostels euer Ohr geliehen und euch doch nicht ergeben; ihr habt gediegene, ebensowohl geschriebene als gut gedachte Abhandlungen gelesen, in welchen die Wahrheit der Wunder und die Erfüllung der Weissagungen mit beinahe mathematischer Gewißheit bewiesen wurde, und seid doch nicht überzeugt worden. Ihr habt die Heilige Schrift, Moses und die Propheten, die Apostel und selbst diesen Paulus gehört, wie sie den Glauben mit jener aus dem Grunde der Dinge geschöpften Klarheit, die schon an sich Beweis genug ist, darlegen, - und schwankt doch noch in eurem Entschlusse. Aber wenn ihr diesen christlichen Redner, oder den Verfasser dieser Abhandlung, oder den von Christus begeisterten Zeugen in euer Kämmerlein treten sähet, und er dort allein mit euch, ohne jeden Beweggrund menschlichen Interesses, in euch dränge, euch zu bekehren, euch beschwörte, Mitleid mit euch selbst zu haben und er endlich beim Anblick eures hartnäckigen Widerstandes, in dem erdrückenden Gefühle seiner Ohnmacht euch dem Verderben nicht entreißen zu können, nun rathlos schwiege und in Thränen ausbräche, - sagt, könntet ihr auch da noch ungerührt bleiben? Ach, erwarten wir nicht zu viel: Viele, Viele haben die Thränen des Apostels gesehen und sich doch nicht ergeben; aber muß man nicht, um einem so gepredigten, so bewiesenen Evangelium zu widerstehen statt eines Herzens einen Stein im Busen tragen?

Volk des Herrn, wenn du dereinst inmitten des verirrten Geschlechts dieser Zeit erstehst, mit den Thränen Pauli in den Augen, in der Stimme, in dem Herzen; wenn du hie Krankheiten der großen dich umgebenden Menge trägst und ihre Schwachheit auf dich genommen hast. dann wirst du schon erfahren, ob man dich nicht hört. Aber wann wirst du diese Thränen haben? Du wirst sie haben, sobald du das Volk Dessen bist, dessen Apostel unser Paulus war, das Volk der Wahrheit in der Liebe; du wirst sie haben, wenn du aufhörst, das zu sein, was du heute bist, lau im Glauben, unsicher in der Lehre, kalt gegen die Rechte Gottes, unbekannt mit Seinen Strafgerichten, schwankend in wesentlichen Dingen, streitend über Nebensachen; mit einem Worte, willst du über Andre weinen lernen wie er, mußt du zuvor lernen, über dich selbst zu weinen!

Welchen Eindruck auch immer die zweifache Erinnerung an diese Thränen des Schmerzes und des Erbarmens auf die Zuhörer des Apostels zu Milet gemacht hat, mächtiger werden sie von den Thränen der Zärtlichkeit ergriffen, die sie ihn in diesem Augenblicke vergießen sehen und mit denen sie die ihrigen vermischen. „Es war aber viel Weinens unter ihnen Allen und fielen Paulo um den Hals und küsseten ihn, am allermeisten betrübt über das Wort, das er sagte, sie würden sein Angesicht nicht mehr sehen.“ Diese Thränen christlicher. Freundschaft, welche den ergreifenden Auftritt meines Textes beschließen, sind in ihrer Art auch lehrreich für uns: sie offenbaren uns vollends das persönliche Christenthum des Apostels und erklären uns seinen Einfluß.

Die Vorstellungen von Größe und Thatkraft, die selbst ein oberflächlicher Leser des Evangeliums mit dem Namen des Apostels Paulus verbinden muß, lassen uns leicht einen andern Zug seines Charakters übersehen, den ein aufmerksameres Erforschen seines Lebens uns entdeckt. Soll ich es ein seltenes Vorrecht der Natur oder der Gnade nennen, Paulus vereinigte die sonst entgegengesetzten Eigenschaften in sich: eine durch Milde gedämpfte Kraft in einem der zartfühlendsten Herzen, die je auf Erden geschlagen haben; ich nenne dies Herz nicht allein warm, sondern auch zartfühlend voll zärtlicher Zuneigungen, voll lebhafter Empfindungen und leichter Rührung: Beweis genug, daß seine Größe nichts Stolzes und seine Thatkraft nichts Hartes hatte.

Welche Sprache kann zärtlicher sein als die des Apostels an seine Brüder zu Thessalonich, seine Kinder im Glauben: „Wir hätten uns mögen ein Gewicht geben als Christi Apostel, aber wir sind milde gewesen in eurer Mitte, gleichwie eine säugende Mutter ihr Kind pflegt. Also hatten wir Herzenslust an euch und waren willig euch mitzutheilen nicht allein das Evangelium Gottes, sondern auch unser Leben, darum, daß wir euch liebgewonnen hatten… Nachdem wir eine Weile eurer beraubt gewesen sind nach dem Angesicht, nicht nach dem Herzen, haben wir desto mehr geeilet, euer Angesicht zu sehen mit großem Verlangen… Darum haben wir es auch nicht länger ertragen und haben uns lassen Wohlgefallen, daß wir zu Athen allein gelassen wurden, und haben Timotheum gesandt, unsern Bruder, euch zu stärken und zu ermahnen in eurem Glauben.“ (l Thess. 2 u. 3.) Und dies gilt Allen, die er für das ewige Leben gewonnen hat; alle sind ihm eben so viele Freunde, die er im Herzen vor Gott trägt. Die zahllosen Gemeinden, die er gegründet, enthalten nicht ein einziges Mitglied, das in den Gebeten des Apostels wäre vergessen worden. Diese Gebete sind so häufig und inbrünstig, daß man sich fragt, wo der Apostel die Zeit hernahm (um nur von der Zeit zu reden,) so anhaltend für so Viele zu beten; gewiß hat die unerschöpfliche Zärtlichkeit seiner Seele großen Antheil an der Lösung dieses rührenden Räthsels.

Aber die brüderliche Liebe schließt eine besondre Vorliebe für Einzelne nicht aus. Man beachtet es gewöhnlich nicht, welch bedeutende Stelle die Freundschaft und zwar eine zärtliche Freundschaft in dem Leben und dem Apostelamt Pauli einnimmt. Zu Gunsten seines Apostolats hatte er freiwillig auf das Recht verzichtet, „eine Schwester zum Weibe mit umherzuführen, wie die andern Apostel und des Herrn Bruder und Kephas“ (l Cor. 9, 5); er wollte weder den Gemeinden zur Last fallen noch seine eigne Freiheit durch den Unterhalt und die Sorge für eine Familie beeinträchtigen. Wenn wir aber den lebhaften Neigungen, die sein Herz empfand, glauben dürfen, so hat er sich nicht ohne Opfer den zarten Banden des häuslichen Lebens entzogen; ja dies Opfer war für ihn vielleicht größer als es für viele Andre gewesen wäre. Freilich gibt es kein Opfer, das nicht seinen Ersatz fände; und grade dieses Alleinstehen, zu dem der Apostel sich verurtheilte, eröffnet den Tröstungen und den Hilfeleistungen christlicher Freundschaft einen um so leichteren Zugang bei ihm. Das beweist schon die große Anzahl von Brüdern und Schwestern, die am Ende seiner meisten Briefe genannt und der Reihe nach in den zartesten Abstufungen der treusten christlichen Liebe gegrüßt werden: eine viel zahlreichere und vielleicht ihm viel ergebenere brüderliche Familie, als es die natürliche Familie, auf die er freiwillig verzichtete, dem Apostel hatte sein können. Da sehen wir z. B. eine Priscilla und einen Aquilas „seine Mitarbeiter in Jesu Christo, die ihr Leben für ihn gewagt haben“, ferner eine Andronica und einen Junias, „seine Verwandten und Mitgefangenen, die sogar vor ihm in Christo waren“; eine Persis, „die vielgeliebte, die viel im Herrn gewirkt“; einen Rufus den Erwählten des Herrn, und dessen Mutter, die, fügt er hinzu, auch die meinige war. Von diesem Gesichtspunkte aus gewähren diese Gruß-Kapitel, die ihr vielleicht als ohne allgemeines Interesse, überschlagt, ein ebenso lehrreiches, als anziehendes Studium, indem sie uns einen Blick in das Privatleben und die persönlichen Verhältnisse des Apostels thun lassen.

Doch dies ist noch nicht Alles. Unter so vielen christlichen Freunden, die ihn umgeben, zählt Paulus Einige, denen er mit der innigsten Liebe zugethan ist: Lukas, seinen so wahren und zugleich so liebeerfüllten Geschichtschreiber, Barnabas, seinen ersten Mitarbeiter, den eine vorübergehende Trennung ihm nicht entfremden konnte; Philemon, dem er mit einer solchen Lebhaftigkeit des Gefühls schreibt, daß die Feder des liebevollsten Weibes sie nicht übertreffen könnte; Epaphroditus, den Gott seinen Bitten wiedergab, „damit er nicht eine Traurigkeit über die andre hätte“; ferner Epaphras, Tychikus, und mehr als alle Anderen, Timotheus und Titus, Timotheus seine rechte und Titus seine linke Hand.

Welche Mutter schrieb je einen Brief voll größerer Fürsorge an ihren Sohn, als Paulus es in seinem zweiten Brief an Timotheus thut? Die von Liebe beseelte Sprache des Lehrers läßt uns in dem Herzen eines Jüngers lesen, das wir durch die in so reichem Maße ihm zugewandten geistlichen, oder soll ich sagen, väterlichen Ermahnungen durchschauen. Sehen wir nicht den Timotheus vor uns, wie er, dem doppelten Druck geistiger Niedergeschlagenheit und körperlicher Schwäche erliegend, reichliche Thränen an der Brust seines alten Freundes vergießt? Paulus weint diese Thränen nicht, er weiß nur zu gut, was Thränen bedeuten; er richtet den gebeugten Geist durch heilige Tröstungen wieder auf (2 Tim. l, 5 ff.); selbst auf den leidenden Körper erstreckt er seine wachsame, fast mütterliche Fürsorge: „ Trinke nicht blos Wasser, sondern gebrauche etwas Wein, um deines Magens willen und daß du oft krank bist“, (l Tim. 5, 13.)

Und was soll ich von Titus sagen? Wenn ich euch den Apostel schilderte, wie er von Gemeinde zu Gemeinde seinem theuren Jünger „seinem Sohn im Glauben“ nacheilt, um in seiner lieben Gesellschaft Ruhe zu finden, so würdet ihr mich der Uebertreibung beschuldigen, und doch will ich nur das wiederholen, was Paulus im zweiten Briefe an die Corinther schreibt: „Da ich gen Troas kam, zu predigen das Evangelium Christi, und mir eine Thür aufgethan war in dem Herrn, hatte ich keine Ruhe in meinem Geiste, da ich Titum, meinen Bruder, nicht fand, sondern ich machte meinen Abschied mit ihnen und fuhr aus nach Macedonien“. Der Mensch, der hier spricht, ist der schwache, nach menschlicher Unterstützung verlangende Mensch, im Gegensatz zu dem Einzigen, der, weil er mehr ist als Mensch, immer gleich stark in Gott sagen konnte: „Es kommt die Stunde, wo ihr mich allein lasset; aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“. Wenn dies aber auch eine Schwäche ist, so ist es, erlaubt mir den Ausdruck, eine liebenswürdige Schwäche, die sogar ihren Nutzen hat: der Glanz einer so seltenen Heiligkeit würde entweder unsre Augen blenden oder wir könnten, wenn sich nicht an irgend einer Stelle der Mensch verriethe, an ihrer Wirklichkeit zweifeln.

Das ist also die Quelle der Thränen, welche unser Apostel zu Milet bei seinem Abschiede von den Aeltesten von Ephesus vergießt. Ich habe sie Thränen der Zärtlichkeit genannt; ich hätte sie auch natürliche Thränen nennen können, denn sie rühren von der Anhänglichkeit an seine ihm besonders eigene Familie her, unter welcher die Aeltesten einer Gemeinde, in der er sich öfter und einmal volle drei Jahre aufgehalten, eine der ersten Stellen einnehmen. Uebrigens bildet die Eigenthümlichkeit, welche diese Thränen uns offenbaren. nicht nur einen anziehenden Zug seines persönlichen Christenthums, sie macht zugleich eine Hauptstärke seines Apostelamtes aus.

Diese Stärke äußert sich in mehr als einer Weise. Sie wirkt, indem sie dem Apostel Seelen gewinnt: fühlt sich doch ein Jeder zu einem Menschen hingezogen, in welchem die Fähigkeit zu lieben, diese zarteste und zugleich wirksamste Kraft im Menschen, eine solch' außerordentliche Höhe erreicht hat. Und da die größten Hindernisse, die sich dem Evangelium entgegenstellen, im Willen des Einzelnen liegen, so ist der Zuhörer schon für dasselbe eingenommen, wenn man ihn für den Verkündiger desselben günstig gestimmt hat. Sie wirkt ferner dadurch, daß sie die Mittel für die Thätigkeit des Apostels vermehrt. Jene brüderliche Familie, die sich um einen so liebenden Menschen sammelt, bildet gleichsam eine heilige Schaar, in welcher Jeder von dem einsichtsvollen Führer an den für ihn geeigneten Posten gestellt, seinen persönlichen Beitrag zum Widerstände gegen den gemeinschaftlichen Feind mit einem Feuer und Eifer leistet, der seiner Anhänglichkeit an den Führer entspricht. Diese Eigenthümlichkeit wirkt ferner dadurch, daß sie durch den entschiedensten Beweis, den der Thatsache, zwei Vorurtheile widerlegt, welche die Neigungen des Herzens gegen das Evangelium einnehmen: das eine, das Evangelium schließe die Vorliebe der Freundschaft aus, während doch Paulus, um nicht zu sagen Christus selbst, diese Vorliebe so gut gekannt hat; das andere, das Evangelium stumpfe das Gefühl ab, und lockere die menschlichen Zuneigungen, während das Beispiel Pauli, der auch hier nur Christi Vorbild folgt, beweist, daß das Evangelium alle wahren Empfindungen nur verstärkt und die rechte Zuneigung befestigt. Jene Charaktereigenthümlichkeit des Apostels hat endlich eine noch tiefere Wirkung, und bei dieser allein will ich verweilen. Die Wärme und die Lebendigkeit der Zuneigungen des Apostels verleihen dem Evangelium, das er in seiner Person uns darstellt, eine gewisse Einfachheit und Natürlichkeit, welche mächtig dazu beitragen, ihm die Herzen zu gewinnen. Dies bedarf jedoch einer näheren Erklärung.

Da das Evangelium mit seinen Lehren und Grundsätzen der in der Welt herrschenden Anschauungsweise entgegengesetzt ist, so bilden sich Manche ein, es stände nicht in Einklang mit den Bedürfnissen unserer Natur. Es ist eine schöne Theorie, heißt es, aber sie kann nie das Gesetz der Menschheit werden, oder diese müßte denn zuvor sich wesentlich anders gestalten. Das Evangelium übt nicht allein keinen Einfluß auf die öffentlichen Interessen, den Handel, die Gewerbsthätigkeit, die Politik, die Künste, die Literatur aus; es kann auch nicht einmal das schöpferische Prinzip unsrer besonderen Beziehungen, unsrer persönlichen Empfindungen und unsers sittlichen Lebens werden, da es sich unserm innern Leben nicht völlig anpaßt, sondern gewissen Trieben desselben auf Kosten anderer störend entgegentritt. Kurz, wie man heutzutage sagt, das Evangelium ist nicht der menschlichen Natur gemäß. Diese Ansicht verschließt der Wahrheit manche Thür, denn der Mensch kann sich von seinem eignen Grund und Wesen nicht ablösen, und die Sache des Evangeliums ist verloren, wenn es den Menschen nur durch die Verleugnung seiner Menschlichkeit erretten kann. Die alten Einwendungen des Unglaubens haben zwar in unsern Tagen viel von ihrer Kraft verloren; dieser Einwand dagegen findet jetzt mehr Eingang als je und dient dazu, viele Geister, und darunter die besten, dem Glauben zu entfremden. Und doch ist diese Ansicht nur ein Vorurtheil, welches auf einer Verwechslung der wahren ursprünglichen Natur mit unsrer gefallenen beruht. Nein, das Evangelium, diese dem Menschen geoffenbarte Wahrheit, ist der wahren Menschlichkeit nichts Fremdes; es tritt nur den falschen und verkehrten Richtungen entgegen. Es verbündet sich mit der normalen Menschheit gegen die gefallene, mit dem Menschen, wie er sein sollte, gegen den Menschen, wie er ist; es steht daher, wie seltsam dies auch dem nicht wiedergebornen Menschen erscheinen mag, in vollkommenem Einklang mit den wahren und bleibenden Bedürfnissen der menschlichen Natur, auf welche sich Christus und nach Ihm die Apostel, insbesondre der Apostel Paulus, überall berufen. Dies lehrt uns das Evangelium, wie es Paulus gepredigt und gelebt hat, verstehen, ja mit Händen greifen. Das Christenthum unsers Apostels ist ein wesentlich menschliches Christenthum. Das Evangelium hat sein Herz völlig erneuert; aber es hat weder den allgemeinen Charakter des Geschlechts noch das Temperament des Individuums verändert. So eifrig Paulus danach trachtet, seinen alten Menschen in allem Verkehrten abzulegen, so sorgfältig ist er darauf bedacht, in Allem, was den rein natürlichen Grund seines Wesens ausmacht, sich selber treu zu bleiben. Das Evangelium gewinnt dadurch bei ihm an Tiefe und Umfang; da es ihm wie zur andern Natur geworden ist, durchdringt es ihn ganz, ja es nimmt bei ihm den Charakter des Instinkts und unwiderleglicher Gewißheit an. Man sieht, wie er es mit derselben Einfachheit auf die geringsten wie auf die größten Dinge anwendet. Mag er sich zu den höchsten Regionen des Himmels erheben und wünschen „verbannt zu sein von Christo für seine Brüder, die seine Gefreundete sind nach dem Fleisch“, oder mag er sich nach dem Augenblick sehnen, wo er abscheidet, um bei Christo zu sein, oder mag er zu den geringeren irdischen Beschäftigungen herabsteigend, für die Christen in Korinth die Einrichtung der Gemeinde, die Ordnung des Gottesdienstes, die Feier der Sakramente, selbst die Kleidung der Frauen bestimmen, ja mag er sich selbst mit seinen Büchern, die er nicht länger mehr entbehren kann, und an seinen einzigen Mantel, welchen die rauhe Jahreszeit nöthig macht, beschäftigen, - immer ist es der Geist Jesu Christi, der ihn beseelt, der aber so ganz in sein Wesen übergegangen ist, daß er unsern Apostel so leicht und einfach beherrscht, wie der Mensch sonst nur durch seinen eignen Geist sich leiten läßt. Paulus ist ein christlicher, aber eben deßhalb um so besserer Freund, ein christlicher und darum desto besserer Verwandter, ein christlicher und darum desto besserer Bürger, ein christlicher und - zweifelt nicht daran - um so besserer Handwerker: er ist das Muster eines Christenmenschen.

Daher sein Einfluß auf den menschlichen Geist. Dies in dem Apostel so wesentlich menschliche Evangelium wendet sich an das wesentlich Menschliche in seinen Zuhörern, und da eines Menschen Herz dem andern gleicht, wie das Angesicht im Wasser dem wirklichen Angesicht, so findet es einen so leichten Eingang in die Gemüther, wie es nie der Fall gewesen wäre, wenn es nicht schon vorher durch den Glauben von denen erfaßt worden wäre, die es hören, sowie es durch den Glauben zum lebendigen Eigenthum dessen geworden war, der es verkündigte. Wenn Paulus den Athenern den Gott Christi als den unbekannten Gott verkündigt, welchem sie, ohne es zu wissen, einen Altar ohne Namen errichtet hatten, so habt ihr diesen Eingang vielleicht nur als eine sinnreiche Redeform angesehen, die ganz geeignet war, eine leichtsinnige und geistreiche Zuhörerschaft zu fesseln. Es ist aber mehr als eine Redewendung, es ist eine Wahrheit; Paulus ist bei dieser Gelegenheit nur so fein, weil er so wahr ist. Wir sind alle solche Athener; mögen wir es aber auch mit einem Götzen nach dem andern versuchen, der wahre Gott, nach welchem unser Herz sich unbewußt sehnt, bleibt uns immerdar unbekannt, bis wir Jesum Christum gefunden haben. Seine Stelle, die kein Anderer auszufüllen vermag, bleibt im Grunde unsers Herzens leer, bis Er sie einnimmt und wir ausrufen: „Der ist's, den ich gesucht habe!“ Weil das Evangelium unsers Apostels ein so natürliches und, wenn ich so sagen darf, ein so persönliches Evangelium ist, so sind seine Kämpfe, auch die seiner Hörer, seine Erfahrungen ihre Erfahrungen, seine Empfindungen ihre Empfindungen. Das ist's, was sie so mächtig zu ihm und durch ihn zu Christo zieht, für den allein er sie gewinnen will.

Liebe Brüder, unser Christenthum leidet an einem großen Fehler: es ist äußerlich und oberflächlich, es ist an uns, aber nicht in uns, oder, besser gesagt, es ist in uns, aber es ist nicht wir selbst. Von der Oberfläche unsers Wesens, auf welcher es haften bleibt, ist es bis in unsre Morgen- und Abendgebete, nicht aber in unser häusliches Leben, in unser Studierzimmer, unsre Literatur, unsern Handel und unsre Politik gedrungen, es ist nicht mit unserm menschlichen Dasein verschmolzen, und darum übt es einen so geringen Einfluß auf die Menschheit aus. Denen, die uns beobachten, scheint es, als müsse man aus der Welt scheiden und sich von der großen menschlichen Familie trennen, wenn man sich zur Annahme unsers Evangeliums versteht. Hätten sie es aber mit Christen wie Paulus zu thun, so würden sie einsehen, daß nur das Evangelium den Menschen und die Gesellschaft von Grund auf zu erneuern vermag, indem das Gute und Wahre in der Gesellschaft wie im Menschen ihm nie fremd ist. Widersetzt es sich doch auch unsern oberflächlichen Naturtrieben nur, um die tieferen Triebe um so besser zu befriedigen, wie der Bohrer das trocken und sandige Erdreich, auf welches er anfangs stößt, nur durchdringt, um einer tiefern Erdschicht klare und heilsame Quellen abzugewinnen, welche dem Gebrauch der Menschen und dem freundlichen Lichte des Himmels durch darüber gelagerte Massen entzogen waren.

Die Thränen des Apostels haben uns dies erklärt. Die Macht seines Apostolats bestand in seinem persönlichen Christenthume und sein Christenthum war ein Christenthum der Thränen. Durch seine Thränen des Schmerzes hat er die Herzen sich in Ehrfurcht unterworfen; durch seine Thränen des Erbarmens sie in Liebe gewonnen; durch seine Thränen der Zärtlichkeit sie vollends für die menschliche Einfachheit seines Evangeliums erobert.

Christen, dies geht uns an! Bedarf es der Wiederholung, daß Paulus in diesen Reden nur als vermittelnde Persönlichkeit dasteht, der Zweck derselben aber ihr selber seid, oder, richtiger gesagt, Jesus Christus in euch? Fern sei von mir der Gedanke, einen Menschen zu verherrlichen. Dem Herrn allein gebührt die Herrlichkeit, und Paulus wäre nicht Paulus, wenn er nicht mit Johannes dem Täufer spräche: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ Nein, es ist nicht meine Absicht, Paulus zu verherrlichen, sondern euch zu demüthigen und euch allesammt anzutreiben durch das, was ein Mensch gethan, ein Mensch, der trotz des unendlichen Abstandes, der ihn von seinem göttlichen Meister trennt, uns doch so bedeutend vorausgeeilt ist.

Es muß sich ein wahres Volk Gottes bilden, ein hochherziges Volk des Kreuzes, ein hingebendes Volk der Liebe und ein einfaches Volk der Natur, aber einer Natur, die durch die Gnade sich selbst wiedergegeben ist. Mögen diejenigen, die das Wohlleben dem Kreuze, die Selbstsucht der Liebe, den Schein dem Wesen vorziehen, unserm heiligen Unternehmen fern bleiben; aber du, Volk der Thränen, erwache! Säe auch du mit Thränen, um dereinst in Freuden zu ernten!

Bedauert wohl unser Apostel, der so viel geweint hat, jetzt noch seine Thränen? Heute wie er und morgen mit ihm!

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