Melanchthon, Philipp - Freiheit des Christen

Melanchthon, Philipp - Freiheit des Christen

Gewöhnlich verteile ich zu Lehrzwecken die evangelische Freiheit auf vier Stufen.

Erste Stufe: Da Sünde und Zorn Gottes die größten Übel sind, muß zunächst über diese Stufe gesprochen werden, die Befreiung von diesen Übeln. Die erste Stufe der Freiheit besteht darin, daß uns um des Sohnes Gottes willen umsonst Vergebung der Sünden, Versöhnung, Rechtfertigung oder Anrechnung der Gerechtigkeit (Christi), Annahme zum ewigen Leben und das Erbe des ewigen Lebens geschenkt werden.

Das ist die Freiheit, daß uns mit Gewißheit um Christi willen all diese Güter umsonst geschenkt werden. Nach dem Willen Gottes sollen wir ganz und gar feststehen lassen und glauben, daß wir, indem wir Buße tun, um des Sohnes willen umsonst in die Gnade aufgenommen, erhört und gerettet werden, obwohl uns das Gesetz und unsere eigene Vernunft anklagen und davon abschrecken, diese Güter anzunehmen. Wir sind also von der Sünde befreit, vom Zorn Gottes, von der ewigen Verdammnis, von der Anklage des Gesetzes und von der Vorbedingung verdienstlicher Leistungen. Etwas anderes wird uns vor Augen gestellt und geschenkt, dessentwegen wir Vergebung der Sünden erlangen und für gerecht, d. h. Gott angenehm, erklärt werden, nämlich der Sohn Gottes, der Mittler, im Gegensatz zum Gesetz und unseren verdienstlichen Leistungen. Die Versöhnten werden als Gerechte, d. h. als von Gott zum ewigen Leben Angenommene erachtet. Dies geschieht um Christi willen durch den Glauben, obwohl sie weit von der Vollkommenheit des Gesetzes entfernt sind. Welch eine unermeßliche Wohltat! Obwohl den Versöhnten die Sündenreste noch anhaften, obwohl große Schmutzmassen auf uns lasten, gefallen wir doch um Christi willen Gott ganz gewiß so, als ob wir dem Gesetz Genüge taten. Von dieser Stufe der Freiheit kündet Paulus, wenn er sagt: »Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes erlöst, indem er selbst für uns zum Fluch geworden ist.« Das ist ein kurzer Ausspruch. Doch übertrifft er bei weitem die Weisheit aller Engel und Menschen, weil er auf den wahren, ungeheueren und unaussprechlichen Zorn (Gottes) gegen die Sünde weist, indem der Sohn, auf den der Zorn abgeleitet wurde, als »Fluch» bezeichnet wird. Dieser ist für uns zum Lösegeld und Opfer geworden. An diese Wohltat und diese Befreiung müssen wir immer denken, wenn wir Gott anrufen, und im Glauben soll uns feststehen, daß uns um unseres Herrn Jesu Christi willen unsere Sünden wahrhaft vergeben werden, daß sie bedeckt und begraben sind und daß er uns um des Mittlers willen wirklich annehmen, erhören und retten will. Indem wir uns in solcher Anrufung üben, wächst von Tag zu Tag das Verstehen dieser Freiheit, von der auf der ersten Stufe die Rede ist. Auf ihr gründet die Lehre von der Rechtfertigung, die oben ausführlich abgehandelt worden ist.

Auf die zweite Stufe gehört die Gabe des HI. Geistes, der im Denken ein neues Licht entzündet und im Willen neue Regungen erweckt, uns leitet und in uns das ewige Leben anfängt. […]

Wir sind noch dem Kreuz und dem körperlichen Tod unterworfen und ungeheueren Bedrängnissen ausgesetzt. An uns haftet noch mancherlei Schmutz, in uns sieht es noch in vieler Hinsicht finster aus. Noch setzt uns der Teufel zu und verwickelt uns in mancherlei Übel, aus denen wir uns nicht herauswinden können. Auch ist niemand so vorsichtig und sorgfältig, daß er nicht doch manchmal bei seinen Überlegungen auf Abwege käme. Endlich können wir mit bloßer menschlicher Sorgfalt in den Schwierigkeiten und Gefahren des Lebens und den Angelegenheiten unseres Berufes kaum den rechten Kurs halten. Schon Jeremia sagt: »Herr, ich weiß, daß der Weg des Menschen nicht in seiner Macht liegt.« (Jer. 10,23)

Obwohl wir also noch in einem traurigen Kerker eingeschlossen scheinen, sind wir doch frei. Denn - erstens -steht fest, daß wir Gott um Christi willen als wohlgesonnenen Beschützer haben, wie auf der ersten Freiheitsstufe gelehrt wird, und - zweitens - werden wir vom HI. Geist unterstützt und geleitet. Aus dem Lande in die Fremde vertrieben, ringt David mit unüberwindlichen Übeln. Dennoch hält er sich durch den gewissen Trost aufrecht, von Gott nicht verworfen zu sein, und erinnert sich an das Wort Nathans: »Der Herr hat deine Sünde weggenommen.« Dann bittet er um den Beistand und die Leitung des Hl. Geistes und erfährt die Hilfe Gottes. Themistokles weiß jedoch bei seiner Vertreibung aus Griechenland um keinen solchen Trost. Nur solange er bei Menschen Aufnahme und Schutz findet, erträgt er ruhigen Sinnes die Verbannung.

Den zweiten Grad der Freiheit lernten in der Gefahr alle Heiligen, als sie die Hilfe und Stärkung Gottes erfuhren, so etwa Stephanus bei seinem Bekenntnis und in seinem Todeskampf oder Laurentius und viele andere im Martyrium.

Deshalb wollen auch wir im Blick auf unsere Schwäche und unsere Gefährdungen diese Stufe bedenken und den Beistand und die Leitung des Hl. Geistes erbitten nach dem Gebot Christi: »Bittet und ihr werdet empfangen.« (2 Joh. 16,24) »Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.» Beim Gebet werden wir ohne Zweifel spüren, wie uns Hilfe zuteil wird, wie wir durch gute Ratschlüsse geleitet und zum Ziel geführt werden, wie Gefahren abgewehrt und Belastungen gemildert werden.

Diese ständige Übung des Gebets läßt uns diese zweite Freiheitsstufe begreifen. Jeder möge bei sich bedenken, welch große Wohltaten Gottes bereits die ersten beiden Stufen darstellen. Handelt es sich doch um die Befreiung aus den größten Übeln, von der Sünde, vom Zorn Gottes, vom ewigen Tod, und um das Geschenk der Gerechtigkeit und des ewigen Lebens, den Schutz gegen den Teufel, die gnädige Führung in allen Angelegenheiten und Gefährdungen, wobei der Hl. Geist die Herzen leitet und uns zum Bedenken des Wortes Gottes anfeuert, endlich um die Gegenwart des ewigen Gottes, der uns um seines Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi willen schon jetzt umfaßt. Es gibt nichts Besseres und Größeres als diese Güter.

Deshalb ist die durch das Blut Christi bewirkte Freiheit, die uns das Evangelium anbietet, ein übergroßes und unermeßliches Gut und keineswegs nur ein leeres Wort oder eine stoische Einbildung, wie gottlose Menschen meinen.

Dem, der klaren und frommen Sinnes ist, wird es auch nicht schwerfallen, den Unterschied zwischen dieser Befreiung von der Sünde und dem Zorn Gottes und der politischen Freiheit oder auch Befreiung von Steuern und Abgaben einzusehen. Von äußeren politischen Zuständen, seien sie eher durch Annehmlichkeit oder eher durch Unfreiheit gekennzeichnet, ist auf den ersten beiden Stufen nicht die Rede. Diese beiden Grade seelischer Freiheit hat auch Joseph, (1. Mose 39,20) mag er auch ein Sklave sein und im Kerker sitzen. Sie kommen auch Daniel im Löwenkäfig (Dan. 6,17) und Laurentius auf dem Rost zu. Denn politische Freiheit oder Unfreiheit hat mit diesen beiden Stufen nicht mehr zu tun als körperliche Stärke oder Schwäche. Im dritten Kapitel des Galaterbriefes heißt es: »Durch den Glauben an Christus Jesus seid ihr alle Söhne Gottes. Hier ist weder Jude, noch Grieche, weder Sklave, noch Freier. Gläubige Menschen verstehen das leicht: Güter der Seele und leibliche Zustände sind ganz verschiedene Dinge.

Auf der dritten Stufe endlich geht es um das äußere und politische Leben. Die Christen sind nicht an die sozialpolitische Ordnung des Mose oder die eines anderen Volke gebunden. Vielmehr sollen wir jeweils an unserem Ort der Obrigkeit und den gegebenen Gesetzen gehorchen, soweit sie mit dem Naturrecht übereinstimmen und nichts gegen die Gebote Gottes vorschreiben. Wie wir uns in verschiedenen Ländern an unterschiedliche Zeiteinteilungen halten, so können wer auch in unterschiedlichen staatlichen und gesetzlichen Ordnungen leben. Die einzige Voraussetzung ist dabei, wie ich schon gesagt habe, daß sie nicht zu Verstößen gegen die Gebote Gottes verpflichten. [. . .]

Wie zu Athen die Gesetzestafeln Solons oder zu Rom die der Decemviri unter veränderten staatlichen Verhältnissen ihre Geltung verloren, so sind auch jetzt die Zeremonial und Gerichtsgesetze des Mose, die nur für eine bestimmte Zeit gegeben wurden und nach der Zerstörung des mosaischen Gemeinwesens niemanden verpflichten sollten, außer Kraft. Weiter oben haben wir bei der Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Testament die Gründe für die Errichtung jenes Gemeinwesens dargelegt.

Schwieriger ist die Antwort auf die Frage nach der Geltung des Moralgesetzes. Sie wird von Christus und den Aposteln entfaltet, aber von gottlosen und unbußfertigen Menschen nicht verstanden. Denn das Moralgesetz ist kein veränderliches Gesetz wie Zeremonialvorschriften oder die Gesetzestafeln der Decemviri, sondern es ist eine ewige und unveränderliche Richtschnur im Bewußtsein Gottes. Sie gebietet, was getan werden soll; sie verbietet und stellt unter Strafe, was nicht getan werden darf.

Die folgende Aussage ist ewig und unveränderlich: Gott ist weise, gut und gerecht. Ähnlich ewig und unveränderlich sind auch die weiteren Aussagen: Gott erachtet es als gerecht, daß er als Schöpfer von dem vernunftbegabten Geschöpf geliebt und allem anderen vorangestellt wird. Gott beurteilt das schweifende, keine Grenzen achtende Triebleben als schlecht. Sein Wohlwollen gilt dem, der den geforderten Gehorsam leistet, sein Zorn dem, der sich hartnäckig widersetzt.

Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind den vernunftbegabten Geschöpfen eingegossen und können, solange sie existieren sowenig abgeschafft werden wie das Wissen um die Gesetzmäßigkeit der Zahlen.

Diese Richtschnur, das Moralgesetz, bleibt also ständig. Für immer gilt die Ordnung der göttlichen Vernunft, daß das Geschöpf gehorchen solle. Denn jedes Gesetz verpflichtet zum Gehorsam oder zum Erdulden der Strafe.

Da die Menschen den Gehorsam nicht geleistet haben, konnte es nur so sein, daß sie entweder selbst unter der Strafe zugrunde gingen oder ein anderer die Strafe auf sich nahm, d. h. die das Lösegeld bezahlte. Deshalb bezahlte nach seinem wunderbaren und unaussprechlichen Ratschluß der Sohn Gottes das Lösegeld, trat für uns ein und leitete den Zorn (Gottes), den wir hätten erleiden müssen, auf sich selbst ab. Gott milderte also sein Gesetz nicht ohne Ausgleich, sondern hielt seine Gerechtigkeit durch die Forderung des Strafleidens aufrecht. Deshalb sagte Christus: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen« (Mt. 5,17), nämlich dadurch, daß ich die Strafe für das Menschengeschlecht auf mich nehme, das Gesetz lehre und es in den Herzen der Gläubigen erneuere. Diese Erklärungen sind schwierig, doch bitte ich die Frommen, was ich gesagt habe, zu bedenken. Da Christus das Lösegeld bezahlt hat, sind wir seinetwegen vom Gesetz befreit, damit wir nicht unter dem Fluch bleiben, wenn wir uns nur seine Wohltat durch den Glauben aneignen. Deshalb sagt Paulus klar und deutlich, wir seien vom Fluch des Gesetzes befreit, weil nämlich Christus das Lösegeld bezahlt hat. Die Sünden sind im Willen Gottes keineswegs aus unbegründetem Wankelmut vergeben. Vielmehr ist um der Gerechtigkeit Gottes willen ein großer Ausgleich eingetreten. […]

Diese Lehre weist uns auf zweierlei hin: Den ungeheueren Zorn Gottes gegen die Sünde, die nicht ohne Ausgleich vergeben wurde, und die wunderbare Wohltat Christi. Immerdar haßt Gott die Sünde, weil er aber seinen Zorn auf den Sohn umgeleitet hat, nimmt er uns an. Das Gesetz verpflichtet, wie ich gesagt habe, zum Gehorsam oder aber zum Erdulden der Strafe. Die Strafforderung ist vom Sohne beglichen worden.

Nun will ich auf die Hauptfrage antworten. Wir sind vom Fluch des Gesetzes befreit worden, weil der Sohn das Lösegeld bezahlt hat und sind um des Sohnes willen angenommen worden. Doch bleibt die ewige und unwandelbare Ordnung Gottes, nach der das Geschöpf dem Schöpfer zu gehorchen hat. Zwar klagt das Gesetz die Versöhnten nicht an und verurteilt sie nicht, doch bleibt in der göttlichen und in unserer Vernunft bestehen, daß wir Gott gehorchen sollen. Der Satz: >Das Gesetz ist abgeschafft<, bezieht sich auf den Fluch, nicht auf den Gehorsam. Der Hl. Geist wird gegeben, damit er in unseren Herzen Regungen im Einklang mit Gottes Gesetz erwecke. So heißt es im dritten Kapitel des Zweiten Briefes an die Korinther: »Wir spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.«

Von daher ist der Ausspruch des hl. Paulus zu verstehen: »Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.« D. h.: Die Strafe ist auf Christus übertragen worden, die Gläubigen sind vom Zorn (Gottes) befreit und um Christi willen gerecht oder angenommen, mögen in ihnen auch noch Sündenreste haften, gegen die sie im Geiste ankämpfen. Wenn es bei Paulus heißt: »Für den Gerechten ist das Gesetz nicht aufgerichtet«, dann geht es ihm dabei ganz offensichtlich um die Zucht. Er will sagen, das Gesetz sei für die Ungerechten, die Ehebrecher, die Todschläger usw. aufgerichtet, damit sie gebändigt, angeklagt und bestraft werden. Durch eine solche äußere Zucht, ein solches Gefängnis, braucht der Gerechte, der aus dem Hl. Geist Wiedergeborene, nicht gezähmt werden, weil er durch den Hl. Geist geleitet wird und ihm das Wort Gottes voranleuchtet, dem er das Vernunftwesen untergeordnet weiß. Den Gerechten beschwert das Gesetz nicht, es lastet nicht drückend auf ihm. […]

Die vierte Freiheitsstufe besteht in der Lehre des Evangeliums, daß mit menschlicher Autorität in der Kirche über Mitteldinge festgesetzte Riten keine Sündenvergebung verdienen, daß sie nichts mit der Gerechtigkeit des Evangeliums zu tun haben, daß man sie nicht in der Meinung, sie seien notwendig, zu halten braucht, sondern ihre Unterlassung völlig unanstößig ist. Dies wird in folgenden Aussprüchen völlig deutlich. »Vergeblich verehren sie mich mit Menschengeboten.« (Mt. 15,9) »Niemand kann euch hinsichtlich des Essens oder Trinkens etwas vorhalten.« (Kol. 2,16) Ich habe weiter oben die Irrtümer aufgezählt, mit denen die Heuchler diese Riten menschlichen Ursprungs verbinden. Da diese Irrtümer widerlegt werden müssen, muß in der Kirche von dieser Freiheitsstufe die Rede sein. Gott will, daß wir ihn und seinen Willen aus seinem Wort erkennen, und gesteht uns nicht zu, nach unserem Gutdünken Meinungen darüber zu erdichten, wie dies die Heiden und Götzendiener aller Zeiten getan haben

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