Lamparter, Helmut - Morija - Der Berg der Versuchung

Lamparter, Helmut - Morija - Der Berg der Versuchung

Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. Und Er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den Ich dir sagen werden.
Da stand Abraham des Morgens früh auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: Bleibet ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen; und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer, und legte es auf seinen Sohn Isaak, er aber nahm das Feuer und Messer in seine Hand und gingen die beiden miteinander.
Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz, wo aber ist das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. und gingen die beiden miteinander. Und als sie kamen an die Stätte, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham daselbst ein Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete.
Da rief ihm der Engel des Herrn vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts: denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hangen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt. Und Abraham hieß die Stätte: Der Herr siehet. Daher man noch heutigestags sagt: Auf dem Berge, da der Herr siehet.
1. Mose 22,1-14.

Unter den sieben Bitten, die bei jedem Vaterunser über unsre Lippen gehen, steht auch die eine, seltsame, bei der wir uns wohl im allgemeinen am wenigsten denken: Führe uns nicht in Versuchung! Es ist eine barmherzige Bitte, ein Zugeständnis an unsre Schwachheit und Ohnmacht, und wir haben allen Grund, dankbar zu sein, daß uns unser Herr Jesus Christus zu dieser Bitte da Recht einräumte. Wer meint, sie sei überflüssig, wird durch diese Geschichte eines andern belehrt. „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham“ – so lesen wir. Offenbar ist dies, daß Gott einen Menschen in Versuchung führt, eine ernsthafte Möglichkeit. Sie wird durch unser Bitten: Führe uns nicht in Versuchung! wohl zurückgedrängt, aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß unser Weg früher oder später an diesem Berg Morija vorüberführt. Vorüberführt, sage ich. Ob er hinaufführt, ist eine andre Frage. In Wahrheit ist dieser Abraham der einzige, den Gottes Befehl wirklich hinaufgeführt hat auf diesen steilen, schroffen Berg. Wir wollen uns hüten, seine Versuchung mit dem, was wir erleiden, allzu schnell in einem Atemzug zu nennen. Es ist die Versuchung eines Patriarchen, die uns in dieser Geschichte berichtet ist. Was hier geschieht, spielt sich auf einer unendlich einsamen Höhe ab. Es wäre verkehrt, wenn wir dies übersehen und die Glaubensprobe dieses Abraham, den die Schrift mit Bedacht den „Vater aller Glaubenden“ nennt, nivellieren wollten. Dieser Berg Morija hat im letzten Grund nur eine Entsprechung in der gesamten Menschheitsgeschichte Golgatha! Aber daß wir seiner ansichtig werden, daß uns Gott ein Stück weit hinaufführt, wenn anders wir auf Ihn unser Leben wagen, daß die mächtigen Schatten dieses Berges auf unsre Pfade fallen, ist offenkundig. Und mancher, dessen Glaubenslauf von Leid und Opfer, Trübsal und Tränen gezeichnet ist, wird es dem Abraham ein Stück weit nachfühlen, wie schwer ihm die Wanderung auf diesen Berg geworden ist.

Nach dieser Geschichte versuchte Gott Abraham – wir mögen wohl erschrecken, wenn wir in unsrer Bibel an diesen Vers kommen. Er ist wie ein drohendes, dumpfes Gewittergrollen. “Gott versucht niemand“, so lesen wir im Jakobusbrief (1,13). Wie will sich das zusammenreimen? Beide Aussagen bilden auf den ersten Blick einen unversöhnlichen Widerspruch. Aber der Widerspruch löst sich, sobald wir erkennen, daß dieses Wort “Versuchung“ in unsrer Sprache einen eigentümlich schillernden, doppelten Sinn besitzt. Wir gebrauchen es im Sinn von Verführung und sprechen etwa von Menschen, die uns zur Versuchung werden, will sagen, die uns zum Bösen verleiten. In dieser Bedeutung des Worts ist es allerdings wahr und bleibt’s dabei: Gott versucht niemand! Er hat noch keinen einzigen Menschen auch nur zu einer einzigen Sünde verleitet. Licht ist Gott, und in Ihm ist keine Finsternis. Es geht nicht an, daß wir Ihm für unsre Verfehlungen und Zerwürfnisse die Schuld aufbürden. Alles Böse fällt auf uns selbst zurück. „Ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eignen Lust gereizt und gelockt wird. Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod“ (Jak. 1,13 f.). Jeder kann es an sich selbst studieren: Das ist der Geburtsprozeß des Bösen, die Diagnose stimmt! Aber wir dürfen nicht vergessen, daß dieses Wort „Versuchung“ auch noch einen andern Sinn und Klang hat. Denk an den Motor, der in einer Fabrik auf den Versuchs- und Prüfstand kommt, um seine Leistungsfähigkeit abzuhorchen! Versuchen kann auch soviel wie „prüfen, erproben“ bedeuten. Und in diesen Sinn wagt die Schrift durchaus dieses Wort auf das Handeln Gottes mit den Menschen anzuwenden. Gott versuchte Abraham, d.h. Er hat eine Prüfung, eine wahre Zerreißprobe seines Gehorsams mit ihm angestellt. Ähnliche Zerreißproben bleiben keinem erspart, der auf Gott seine Hoffnung stellt. Des zum Zeichen stellt uns die Bibel diesen Berg Morija vor Augen. Wir wissen jetzt, wessen wir uns von Gott zu versehen haben. Mach dich darauf gefaßt: Er schickt Proben! Er läßt es auf einen Versuch ankommen, ob wir Ihn wirklich über alle Dinge fürchten, ob wir Ihn mehr lieben als alles andre, auch das Liebste in diesem Leben, ob wir Ihn durch ein ungeteiltes, grenzenloses Vertrauen ehren, das auch dann noch den Glauben nicht aufkündigt, wenn es zeitweise um uns und in uns ganz dunkel wird.

Schauen wir uns diesen Berg der Versuchung genauer an! Es ist einer der gewaltigsten Berge der Bibel. Man kann ihn nur mit Furcht und Zittern betrachten. „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst.“ Was für ein Befehl“ Hundert Jahre hat Abraham auf diesen Sohn gewartet. Er ist für seinen Glauben der lebendige Unterpfand der Treue Gottes. An diesem Isaak hängt die Erfüllung der herrlichen Verheißung Gottes, die Abraham in seiner Berufung zuteil geworden ist. „Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen. Du sollst ein Segen sein, in dir sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden“ (1. Mos. 12,2 f.). Und nun soll Isaak sterben, ausgerechnet dieser Isaak, der einzige Sohn und Nachkomme, den der Patriarch besitzt, der Träger der Verheißung, und – das ist das Furchtbarste – sterben soll er durch seine, des Vaters, eigne Hand! Jedes Wort an diesem schrecklichen Befehl trifft Abraham wie eine tödlich verwundende Schwertspitze mitten ins Herz. Nicht nur seine natürliche Liebe wird ins Herz getroffen. Gott greift und ficht seinen Glauben an. Er scheint seine eigenen Verheißungen wieder durchzustreichen. Es ist unmöglich, daß Abraham seinen Gott noch verstehen kann. Dunkel, ganz dunkel wird ihm sein Antlitz. Wie nahe liegt die Auflehnung gegen diesen furchtbaren Befehl, gegen diesen schrecklichen Gott! Wird dürften uns nicht wundern, wenn Abrahams Antwort in einem leidenschaftlichen „Nein, niemals“ bestünde: Alles kannst Du von mir verlangen, nur dies nicht! Es wird uns nicht erzählt, was in seiner Seele vorgeht. Nur zwischen den Zeilen ahnen wir etwas von dem Kampf, der in ihm wogt, als dieser Befehl Gottes an ihn ergeht und wie ein Schwert durch seine Seele dringt. Was uns erzählt wird, ist nur dies: Abraham gehorcht! Wortlos, mit einer schweigsamen Entschlossenheit trifft er die Vorbereitungen zum Aufbruch. Er gürtet den Esel. Er spaltet das Holz. Er weckt den Sohn. „Wir spüren den festen Schritt des Gehorchenden“ (Hartenstein). Er grübelt nicht lange, er besinnt sich nicht. „Hier bin ich“ – war seine Antwort, als ihn Gott beim Namen rief. Ein kurzer Anruf genügt, und er ist zum Hören bereit, wie ein Knecht, der seinem Herrn in jedem Augenblick zur Verfügung steht. Nun fügt er zum Hören das Gehorchen, wiewohl er den Willen Gottes nicht von ferne begreift. Er nimmt seinen Isaak an die Hand und wandert dem Berge zu, den sich Gott im Land Morija als Opferstätte auserkor.

Drei Tage wandern sie, Vater und Sohn – schweigend. Was für eine Wanderung! Unverwandt ist Abrahams Antlitz auf das von Gott gewiesene Ziel gerichtet. Er schaut nicht zurück. Er gönnt sich keine Rast. Am Fuß des Berges angekommen, läßt er das Tragtier und die Knechte zurück. Er muß jetzt allein sein in dieser schwersten Stunde seines Lebens, in der ihm kein Mensch mehr helfen, auch nur einen Bruchteil der Last abnehmen kann. Nicht umsonst hat ihn Gott auf einen Berg befohlen. Abseits von den gebahnten Straßen, fernab von allen Menschen, unter vier Augen mit seinem Gott soll der Erzvater diese höchste und schwerste aller Gehorsamsproben ablegen. Nur seinen Isaak nimmt er mit auf die einsame Bergspitze, um dort oben „anzubeten“. Jawohl, um anzubeten – nicht, um seine Faust gegen den Himmel zu recken und sich mit einem schrecklichen Fluch von diesem schrecklichen Gott endgültig loszusagen. Abraham ist zum Opfer bereit. Auf dem Wege stellt Isaak, noch völlig ahnungslos, was geschehen soll, seine Frage nach dem Opfertier. Wie schneidet diese Frage dem Vater ins Herz! Was soll er antworten? „Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Ist es nur eine Ausflucht oder glimmt in dieser Frage der Funke einer letzten Hoffnung, Gott möchte es nicht zum Äußersten kommen lassen? Das letztere mag wohl zutreffen, aber siehe – da ist kein Schaf zum Brandopfer. Da ist nur der Befehl und der schweigende Himmel über der einsamen Anhöhe. Noch sieht Abraham keinen Ausweg, und es bleibt ihm nichts übrig, als den Altar aufzuschichten, seinen Sohn mit Stricken auf diesem Altar festzuschnüren. Wieder verzichtet der Erzähler bewußt auf jede psychologische Ausmalung. Wir hören kein Wort darüber, wie sich der Knabe, den Gott als Opfer verlangt, in seine Lage findet. Genug, zu wissen: Abraham gehorcht. Er schickt sich an, den Befehl Gottes zu vollziehen. Er hat ihn nicht nur zu Herzen genommen, sondern, was Gott von ihm will, auf seine Hände und Füße übersetzt. „Und er reckte seine Hand aus und faßte das Messer…“

Laßt uns an dieser Stelle einen Augenblick innehalten! Schaut euch diesen Mann Gottes an in seiner erschütternden Entschlossenheit! Wir spüren den ungeheuren Abstand von den Glaubensproben, wie sie Gott uns und andern auferlegt. Was hier gefordert wird, liegt eigentlich schon jenseits der Grenzen des Menschlichen. Und wir müssen schon die Bibel selbst befragen, wenn wir wissen wollen, wie Abraham dazu kam, diese unfaßlich schwere Probe im Gehorsam des Glaubens zu bestehen. “Im Glauben opferte Abraham den Isaak“ – so lesen wir im Hebräerbrief (11,17) – „denn er dachte, daß Gott ihn wohl könne von den Toten auferwecken“. Wenn diese Deutung zutrifft, so heißt das: Abraham verzichtet auch jetzt noch immer nicht auf die Verheißung Gottes. Sein Gehorsam hat nichts gemein mit jener trotzigen Entschlossenheit, die nicht selten der Ausdruck der Verzweiflung ist. Auch jetzt noch, da er das Messer faßt, hat Abraham de Glauben nicht weggeworfen. Gott wird seine Verheißung wahrmachen, und wenn Er den Isaak, den Träger der Verheißung, aus den Toten auferwecken muß! Mitten im furchtbaren Dunkel dieser Stunde klammert sich dieser Mann, den die Schrift mit Fug und Recht den „Vater aller Glaubenden“ nennt, erst recht an seinen Gott. Eben darum wird ihm das Letzte erspart. Im letzten Augenblick, als die Versuchung aufs höchste gestiegen ist, fällt ihm der Engel des Herrn in den erhobenen Arm. Gott nimmt seine Bereitschaft als Opfer an. Er hat ihn auf dem ganzen Wege nicht aus den Augen gelassen. Und Er hat gesehen, was Er sehen wollte: Dieser Abraham ist bereit, Ihm das Beste und Liebste zu opfern. Er ist entschlossen, dem Befehl Gottes auch dann noch zu gehorchen, wenn ihm das Herz darüber in Stücke bricht. Auf Grund dieses eindeutig erwiesenen Gehorsams läßt es Gott nicht zum Letzten kommen. Er schafft einen Ausweg, nimmt den Widder als Opfer an und gibt dem übermenschlich hart Geprüften seinen Sohn zurück.

Es ist klar, daß diese Gesichte alle Analogien sprengt. Sie hat ein Format, das nicht nur ungewöhnlich, sondern übermenschlich ist. Wir sollen, wie schon gesagt, diese Versuchung Abrahams nicht nivellieren. Es ist die Glaubens- und Gehorsamsprobe eines Patriarchen, die uns in diesen holzschnittartigen Versen berichtet wird. Und doch ist es so gut wie sicher, daß wir, wenn anders wir zu dem „Samen Abrahams“, d.h. zu dem Volk der Glaubenden, gehören, in unsrem eignen Glaubenslauf an diesem Berg der Versuchung nicht unbehelligt vorbeikommen. Aus guten Grund ist diese Erzählung von Isaaks Opferung in unsre Bibel aufgenommen. Wir sollen daraus ein Dreifaches sehen und lernen:

1. Was ist der verborgene Sinn der Versuchung?

Sie hat schon einen Sinn, auch wenn wir das in der Stunde der Versuchung nur sehr schwer begreifen. Es geht um die Frage, ob wir bereit sind, unsren Gott so zu ehren, wie Er geehrt sein will, nicht nur um seiner Güter und Gaben willen, sondern um seiner selbst willen, einfach darum, weil Er der Herr, unser Gott, ist. „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine andren Götter neben Mir haben“, so hören wir im ersten Gebot. Das heißt doch, daß wir diesem Gott einen ganzen, ungeteilten Gehorsam schulden. Gerade dies ist nicht weniger als selbstverständlich. Wir denken an die gefährliche Frage, mit welcher der Satan die Echtheit der Frömmigkeit eines Hiob in Zweifel zog: Dient Hiob Gott umsonst? Ohne heimliche Selbstliebe, ohne versteckten Eigennutz? Solange Gottes Wille unsren Wünschen entgegenkommt, läßt sich das nicht entscheiden. Da geschieht es nur zu leicht, daß wir den Namen Gottes im Munde führen, aber im Grunde ist es uns nur um seine Hilfe, seinen Beistand, seinen Segen zu tun. Anstatt Gott zu dienen, wollen wir, daß Er uns diene und zu unsren Projekten sein Ja und Amen spreche. Es ist klar, daß Gott auf diese Weise weder zu seinem Recht noch zu seiner Ehre kommt. Eben deshalb schickt Er uns die Versuchung auf den hals. Er läßt es auf eine Probe ankommen, ob wir bereit sind, Ihm bedingungslos zu gehorchen, auch dann noch, wenn Er unsre Wünsche durchstreicht, unsre Hoffnungen vereitelt und genau das, woran unser Herz hängt, zum Opfer fordert. Nun muß es sich zeigen, ob wir bereit sind, an dem, was wir leiden, Gehorsam zu lernen und mit dem Dennoch des Glaubens an Gott festzuhalten. Ist unsre Frömmigkeit religiös drapierte Eigensucht oder Gehorsam ohne Vorbehalt? Gott läßt es darauf ankommen, Er schreckt vor der Probe nicht zurück, die ans Licht bringt, was im Menschen ist. Er kann schwere und schwerste Opfer fordern, sei es, daß Er uns einen sonderlich geliebten Menschen wegnimmt, wie Er hier von Abraham das Opfer seines einzigen Sohnes fordert, sei es, daß Er unser selbstgewähltes Lebensprogramm, unser sogenanntes „Glück“ zerschlägt. Er hat viele Möglichkeiten und Wege, um diese Gehorsamsprobe durchzuführen. In jedem Fall geht es um den ganzen Gehorsam, um die völlige Auslieferung unsrer Wünsche an seinen Willen, um die Anbetung des Gottes, der im Dunkel wohnen will. Das ist eine schwere Lektion, und es ist uns bange, wenn wir daran denken, wie wir sie bestehen sollen. Wie gering ist unsre Tragkraft, wie groß unsre Leidensscheu! Wohl wird uns gesagt, daß Gott keinen „über sein Vermögen“ versucht (1. Kor. 10,13). Aber wenn wir an die Versuchung Abrahams und Hiobs denken und darüber hinaus an so manches Leidensschicksal der Gegenwart, merken wir, daß ein starker Glaube dazu gehört, um diesen Satz zu unterschreiben und daran festzuhalten, daß die Proben, die Gott zuschickt, innerhalb der Grenzen unsres menschlichen Vermögens bleiben. Und doch entläßt uns gerade diese Geschichte von der Versuchung des Patriarchen nicht ohne Hilfe und ohne Trost. Sie zeigt uns nicht nur, wie schwer das Opfer sein kann, das Gott von seinen Knechten fordert. Sie gibt uns zugleich eine Anleitung, mit deren Hilfe wir die Stunde der Versuchung bestehen können. Wir bekommen eine Antwort auf die Frage:

2. Was ist der rechte Weg, die Versuchung zu bestehen?

Schau dir diesen Abraham an! Er könnte sich den Kopf zerbrechen und das arme Herz zerquälen: Warum nur fordert Gott so Furchtbares von mir? Womit habe ich das verdient? Er könnte Gott seine Verheißung vorhalten, daß in seinem Samen, also in diesem Isaak, alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen, und Ihm vorrechnen, wie Er mit diesem schrecklichen Befehl sein eignes Versprechen durchstreicht und Lügen straft. und von diesem Vorrechnen wäre nur noch ein kleiner Schritt zu Hader und Anklage, zum trotzigen Aufbegehren, zur wilden Verzweiflung, die sich von diesem Gott trennt und lossagt mit einem letzten Fluch. Statt dessen tut Abraham etwas ganz andres: Er sattelt das Reittier, er spaltet das Holz, er weckt seinen Sohn, er nimmt den Weg unter die Füße - lauter Schritte des Gehorsams. Hier wird deutlich, was der rechte Weg ist, um in der Stunde der Versuchung zu bestehen: Nicht grübeln, nicht mit der quälenden Warumfrage sich abquälen, sich gleich gar nicht auf das Rechten und Hadern mit Gott einlassen, sondern die ersten, nächstliegenden, praktischen Schritte des Gehorsams tun, den Befehl Gottes auf Hände und Füße übersetzen und den Weg unter die Füße nehmen, den Er befahl, ganz gleich, ob das Warum dunkel und das Ziel ein Rätsel ist. Mag Gott selbst zusehen, wie Er das alles hinausführt, was wir nicht mehr begreifen! Wichtiger als daß wir seine Wege verstehen, ist dies, daß wir seinem Willen gehorsam werden. Das hat Abraham gewußt. Eben darum tut er die ersten Schritte des Gehorsams und läßt es im übrigen Gottes Sorge sein, wie Er seine Verheißung dennoch wahrmachen wird. So und nicht anders kann man bestehen in der Stunde der Versuchung: Die ersten Schritte des Gehorsams tun, nicht grübeln, sondern handeln und alles übrige auf Gott werfen, seiner Macht und Weisheit anheimstellen. Wer diesen Rat befolgt, der wird auch erfahren, was Abraham auf diesem Berg Morija erfahren hat: Wo alles verloren scheint, schafft Gott plötzlich ungeahnte Durchbrüche! Eine Hilfe bricht herein, ein Ausweg tut sich auf und das meist von einer Seite, von der wir’s am wenigsten erwarten, ja nicht selten buchstäblich im letzten Augenblick. Wo immer Gottes Auge diese Bereitschaft zu einem ganzen Gehorsam sieht und findet, erbarmt Er sich auch wieder des hart Geprüften nach seiner großen Güte. Über Nacht kann Er „dein Herz entladen von der so schweren Last, die du zu keinem Schaden bisher getragen hast“.

So wahr das ist, ja vieltausendfach bewährt, so bleibt doch – das können wir nicht verschweigen – gerade bei dieser Geschichte vom Berg Morija ein Stachel in unsrer Brust zurück. Ist und bleibt es nicht doch etwas schlechthin Furchtbares, was Gott von diesem Abraham verlangt: Den eigenen, einzigen Sohn zum Opfer darbringen – mit eigener Hand? Wenn wir darüber nachdenken, vielleicht als Vater eines Kindes, kann es nicht ausbleiben, daß uns über diesen Befehl immer wieder das Entsetzen packt. Und wir können die Frage schlecht unterdrücken: Wie kann Gott so etwas verlangen? Aber wenn wir in unsrer Bibel weiterblättern, machen wir die Entdeckung, daß Gott genau das, was Er von Abraham verlangt hat, nicht mehr und nicht weniger, sich selbst abverlangte. Er, der Gott und Vater Jesu Christi, hat „Seines eigenen Sohnes nicht verschont“ (Röm. 8,32). Sollte dieser Befehl am Ende darum an Abraham ergangen sein, damit wir erkennen und begreifen.

3. Was es heißt, seines eignen Sohnes nicht verschonen?

Ganz begreifen werden wir es nie. Aber wir können doch auf Grund dieser Geschichte von ferne ermessen, wie groß und schwer das Opfer ist, das unser Gott sich selbst abgerungen hat, als Er Seinen Sohn, den einzigen, von Ewigkeit her geliebten, dahingab an das Kreuz von Golgatha. „Also (so sehr!) hat Gott die Welt geliebt“, daß Er an diesem Kreuz genau das Opfer brachte, das Er Seinem Knecht auf dem Berg Morija zuletzt doch noch gnädig erspart hat. Wie oft blicken wir auf dieses Kreuz mit stumpfen Augen und unbewegten Herzen! Das vergeht uns, wenn unser Weg nach Golgatha über dem Berg Morija führte. Sie sind einander verwandt und zugeordnet, diese beiden Höhen, Morija und Golgatha. Es ist ein Geheimnis in dieser Geschichte von der Versuchung Abrahams. Sie ist ein Stück Prophetie, zu dem uns die Heilige Schrift selbst den Schlüssel gibt, indem sie uns unter das Kreuz Christi führt. Hier hat sich Gott selbst seinen Sohn vom Herzen gerissen, Er hat Ihn hingeopfert um unsrer aller Welt Sünde willen. Das heißt doch, Er hat das Äußerste, das Liebste, das Beste und Höchste an unsre Rettung gewagt. „Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat Ihn für uns alle dahingegeben, wie sollte Er uns mit Ihm nicht alles schenken?“ (Röm. 8,32). Wir wissen nicht, ob dem Apostel Paulus, als er diesen Satz niederschrieb, die Geschichte von Abrahams Opfer auf dem Berg Morija vor Augen stand. Aber der Gleichklang bis in den Wortlaut hinein („du hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um Meinetwillen“) ist so auffallend, daß wir heute diese Stelle aus dem Römerbrief gar nicht lesen können, ohne der Opferung Isaaks zu gedenken. Und wir verstehen auf dem Hintergrund dieser Erzählung von der Versuchung und dem Opfer des Erzvaters, daß der Apostel im Blick auf das Kreuz von Golgatha den herrlichsten Siegesjubel anstimmt, den die Bibel zu verzeichnen hat. „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? In dem allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat.“ Wir siegen hoch – so heißt es wörtlich. Denn angesichts dieses Opfers, das Gott selbst seinem Herzen abgerungen hat, kann die Liebe Gottes nicht mehr bezweifelt werden. Gott selbst hat für seine Liebe den schwersten und zugleich herrlichsten Beweis geführt. Nun magst Du alles in die Waagschale werfen, was an Kreuz, Trübsal oder Pein über einen Christen kommen mag – das alles vermag in keiner Weise aufzuwiegen, was auf Golgatha zu unsrer Rettung geschehen ist. Und es versteht sich, daß wir die Proben, die uns, wenn auch in ungleich bescheidenerem Maß, verordnet sind, ganz anders bestehen können, wenn wir diese kühne, unzweideutige Gewißheit, von Gott geliebt zu sein, im Herzen tragen. Sie können uns diese Liebe Gottes „eine kleine Zeit“ verdunkeln. Wer aber seinen Glauben unter dem Kreuz von Golgatha verankert hat, der weiß, daß er auch im tiefsten Dunkel dennoch von der Liebe Gottes umfangen ist. Darum fürchte der keines, was du leiden wirst!

Was dir auch immer begegnet
mitten im Abgrund der Welt,
es ist die Hand, die dich segnet,
es ist der Arm, der dich hält

Ob sich dein Liebstes verflüchtigt,
dein Festestes splittert und stiebt,
gedulde dem, der dich züchtigt,
der heimsucht, weil er dich liebt.

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