Krummacher, Gottfried Daniel - Pilgrim und Bürger

Krummacher, Gottfried Daniel - Pilgrim und Bürger

(Predigt beim Jahresschluß, gehalten am letzten Sonntage des Jahres 1828)

Der heutige letzte Sonntag in diesem Jahre kommt mir wie eine Anhöhe auf einem Wege vor, wo ein Reisender ein wenig stehen bleibt, sich umzusehen und sowohl auf die zurückgelegte Streckte des Weges, so weit es thunlich ist, zurück, als auf die noch abzumachende vorwärts zu blicken. Thun auch wir das erste, blicken wir nämlich zurück, was stellt sich unseren Blicken dar? Erstlich eine Menge von Sünden, die uns um so größer, zahlreicher und strafbarer vorkommen werden, je erleuchteter, demütiger und gottseliger wir sind. Wie werden wir als Christen darauf zurückblicken? Wie anders als bußfertig, als uns selber „gram, daß ich, mein Heil, so oft verlassen dich, ich komme in Demut wieder,“ doch „willig bin ich, dir aufs neue Huld und Treue zu verschreiben, wenn dein Geist mich nur wird treiben!“ wie anders als Zuflucht nehmend zu dem freien offenen Born wider die Sünde und Unreinigkeit! Was stellt sich zweitens unsern Blicken dar, als eine unendliche Reihe der mannigfaltigsten und wichtigsten göttlichen Segnungen und Wohlthaten? Wer vermöchte sie alle namhaft zu machen, wie wir sie im allgemeinen und besondern, im Geistlichen und Leiblichen genossen haben? Meines Wissens hat sich doch in dem nun beinahe abgelaufenen Jahre kein namentlich besonderes Unglück weder im allgemeinen noch im Besonderen zugetragen. Das ist doch gar viel, soll das nicht Dankbarkeit erzeugen? Sollen wir Gott dafür nicht wieder ein Pläsier zu machen suchen? Seid ihr dazu geneigt, und fragt ihr, womit sollten wir das können? Nun, auf mannigfache Weise. Es ist ihm nicht schwer zu treffen. Ihr wißt ja, daß ihr ihn kleiden, speisen, tränken könnt. Hat ihr etwa eine Feindschaft: Söhnt euch ihm zu lieb aus! Habt ihr eine Lieblingslust: Bekämpft sie ihm zu lieb! Thut euerm alten Menschen einen bedeutenden Abbruch! Werdet demütig, denn ihr wißt, denselben ist er hold! Werdet gläubiger! Habt Christum lieber! Ihr wißt ja auch sonst, welches die Opfer sind, die ihm gefallen: Bringt sie ihm dar! Selbst euer Nichtkönnen wird er nicht verschmähen. Drittens fragt euch bei diesem Rückblick: Bin ich ganz gewiß, oder doch aller wohlbegründeten Wahrscheinlichkeit nach, auf dem rechten Wege, auf den man durch eine enge Thür gelangt, und der zum ewigen Leben führt? Ist das, wie blicken wir dann vorwärts? Da ist ein starker Nebel, der nicht weit sehen läßt, es sei denn, man bediene sich des Fernrohrs des Glaubens. Können wir aber nicht das Exempel jenes heiligen Reisenden benützen, wovon der Apostel Ebr. 11 sagt: Durch den Glauben ward Abraham gehorsam, da er berufen ward, auszugehen in das Land, das er ererben sollte, und ging aus, und wußte nicht wo er hin käme, besaß, wie Stephanus bemerkt, kein Erbteil drin, auch keines Fußes breit, eine wunderbare Reise, die er freilich nur im Glauben machen konnte. Es begegneten ihm, also erzählt jemand, auf seinem Wege etliche Reisende aus Haran, seiner Heimat, Handelsleute, die aus Egyptenland und Arabia heimkehrten mit Kamelen und vielen köstlichen Waren. Diese fragten Abraham und sprachen: Wohin geht dein Weg? Abraham antwortete und sprach: In ein fernes Land. Da fragten jene weiter und sprachen: Wie heißet des Landes Name, und welche Straße führt dahin? Abraham antwortete: Ich kenne des Landes Namen nicht, noch weiß ich die Straße, so dahin führt. Da lachten sie und spotteten Abrahams und sprachen: Wer soll dich denn geleiten und dir den Weg zeigen in der Wüste, daß du nicht umkommest? Und Abraham antwortete: Derjenige, der mich berufen hat. Darauf zogen jene spottend ihres Weges. Abraham aber ging fürbas und gelangte ins Land der Verheißung.

Psalm 39,13

Ich bin beides: Dein Pilgrim und dein Bürger.

In diesen Worten ist ein doppelter Charakter ausgedrückt, nämlich der eines Pilgrims und eines Bürgers und zwar Gottes. Laßt uns das Notwendige und Nützliche dieses doppelten Charakters erwägen und zwar:

Erstens: Den doppelten Charakter eines Pilgers und Bürgers.

Zweitens: Dessen Notwendigkeit und Nutzen.

Ich bin dein Pilgrim. Das Bild eines Pilgers oder Reisenden wird von den Heiligen, besonders unter dem Alten Testament sehr häufig als eine Bezeichnung ihres Zustandes hier auf Erden gebraucht. Aber auch das Neue Testament setzt sie fort und sagt überhaupt: Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir. Der Jahreswechsel, welcher in dieser Woche eintreten wird, mahnt uns an die Wahrheit der ersten Hälfte des angeführten Spruchs und zugleich an die Notwendigkeit der in der zweiten Hälfte ausgedrückten Gesinnung. Wir alle haben eine bedeutende Strecke des Weges hinter uns, die wir voriges Jahr noch vor uns hatten. Diese 365 Tage sind dahin gegangen, wir wissen selbst nicht wie. Ich ihrer Rückerinnerung gleichen sie den Träumen, die wir gehabt haben, und des allermeisten, was wir erlebt haben, sind wir, wie unsrer Träume, vergessen. Dem Ziele sind wir alle um ein bedeutendes näher gerückt. Was für einem Ziele aber? Das ist nach der Beschaffenheit der Personen sehr verschieden.

Laßt uns denn jetzt wie auf eine Anhöhe treten, und uns ein wenig umsehen! Es giebt eine Menge nützlicher, zweckmäßiger Betrachtungen, die sich für den heutigen Tag reimen, und wozu sich billig jeder einige Zeit nehmen soll. Unsere öffentliche diesmalige Betrachtung knüpft sich an die Ideen unseres Textes, welcher uns zunächst das Bild eines Pilgers oder Reisenden vor die Andacht schiebt. Laßt uns dasselbe ein wenig entwickeln, es paßt überhaupt auf alle Menschen.

Wir reisen alle. Wir reisen stets. Wir rücken immer, schnell, unaufhaltsam und unvermerkt wie auf einem Dampfboot vorwärts, wir mögen essen, trinken, uns beschäftigen oder ruhen, es geht immer vorwärts. Zuletzt aber nimmt jeder einen ganz erstaunlichen Schwung, thut einen ganz gewaltigen Satz, gar aus dieser Welt heraus in eine andere hinüber, dann ist die Reise zu Ende. Das Reisezeug bleibt zurück, der Reisende selbst ist - ja wo ist er? Alles schweigt. Man sieht's nicht, glaubt's nur, hoffet, fürchtet. Er hat viel und Wichtiges mitgenommen, aber was? Das, was hier meistens für das Unwichtigste gehalten wird. Seine Gesinnung, seine Wünsche, seine Begierden.

Wir reisen. Darüber sind wir alle einverstanden. Aber vielen fällt's gar nicht ein, oder wenn es ihnen einfallen wollte, würden sie doch denken, es sei noch gar zur Unzeit, sich das einfallen zu lassen, so lange werde ihre Reise noch dauern. Wird sie? Ihr seid etwa noch Jünglinge, und Salomo giebt, wenn man nur eins dabei wegläßt, euch eine willkommene Lebensregel, wenn er sagt: Freue dich Jüngling, in deiner Jugend und laß dein Herz guter Dinge sein! Thue was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt! Laß die Traurigkeit aus deinem Herzen, und das Übel von deinem Leibe! Dasjenige, was sich seltsam dazu reimet, lautet also: Und wisse, daß dich Gott um dies alles wird vor Gericht führen! Wer von euch jungen Leuten mag das aber bedenken? Doch gibt's deren auch noch manche, die es zu Herzen nehmen. sind andere im Alter schon vorgerückt, so verhehlen sie sich ihr Ziel um so mehr, je näher es gekommen ist. Und wie? Betet nicht selbst David im vorhergehenden: Herr, lehre doch mich, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß. Erhellet nicht daraus, wie tief der eitle Sinn bei uns gewurzelt, und wie groß und allgemein unsre Verblendung sein muß?

Wir reisen alle, aber wie reisen die meisten? So, daß sie aus dem Weg ihr Ziel machen, und vergessend, daß es nur eine Herberge ist, wo sie sich sehr kurze Zeit aufhalten werden, treffen sie Einrichtungen, die auf einen beständigen Aufenthalt deuten. Unser Psalmist sagt: Sie leben sicher, als wäre außer dem Sichtbaren nichts zu befürchten, noch zu hoffen. Dabei gehen sie daher wie ein Schatten oder eigentlich, wandeln unter Dingen, die nichts als einen Schein haben, und tummeln sich um nichts. Ihr Leben hat eigentlich keinen Zweck, oder wenn es einen hat, doch keinen solchen, wie er eines Menschen, der seinem edelsten Teile nach unsterblich ist, wie er eines Christen würdig ist. Sie sammeln, ja, wenn sie nur können, aber, was ist's? Erde. Und dabei wissen sie nicht einmal bestimmt, wer es kriegen, noch was für einen Gebrauch der davon machen wird, der's bekommt. Er selbst behält's aber auf jeden Fall nur eine Zeitlang. Wie so gar nichts, ruft der Psalmist deshalb aus, sind doch alle Menschen, oder buchstäblich: Fürwahr eine ganze Eitelkeit ist der Mensch auch wenn er dasteht wie ein Pfeiler. Sela, setzt er hinzu, merke es wohl, und wiederholt dies Sela, samt dem, was ihm vorhergeht noch einmal im 12. Vers. wir sehen die Welt wie ein vom Winde bewegtes Meer. Was setzt sie in Bewegung? Eitelkeit.

Wir reisen alle. Dem Anhören nach in ein besseres Land. Jede Todesanzeige braucht diese Phrase. Und mehr soll's wohl auch nicht sein als eine Redensart. Denn warum will denn niemand in dies Land, das doch besser sein woll, aber ihr glaubt selbst nicht einmal daran! Wer sonst in irgend ein Land reiset, versieht sich mit dem Nötigen, er läßt es nicht an Reisegeld und Paß und sonstigen Erfordernissen fehlen. Je länger er sich aufhalten will, desto sorgfältiger bereitet er sich vor, lernt Sprachen und Sitten, erwirbt sich Empfehlungen und zieht nach Möglichkeit Erkundigungen über dasjenige ein, was ihm daselbst nötig und förderlich sein möchte. Hier im ganzen nichts dergleichen. Keine Nachfrage, nicht einmal nach dem Wege, keine Nachfrage nach sonstigen Erfordernissen, was zu vermeiden, was zu beobachten sei, nichts. Ein mißliches Reisen fürwahr. Da machen es die Kraniche doch noch besser, die ihre Zeit und ihre Gegend wohl wahrzunehmen wissen, aber auch deswegen den Menschen vorgezogen werden, die sich doch mit ihrer Vernunft so viel wissen. Jesu kam dies Benehmen so erbärmlich vor, daß er bittere Thränen darüber vergoß, daß die Menschen zu ihrer Zeit nicht bedächten, was zu ihrem Frieden dient. Aber über was für Gegenstände man auch mit ihnen reden darf, hierüber nicht. Das hieße seltsam auftreten, plump und ohne Lebensart und scheinheilig sein.

Endlich läuft dann die sichtbare Reise zu Ende, wie sie bei vielen unserer Mitbürger im beinahe verflossenen Jahre zu Ende gegangen ist, und mit uns allen zu Ende gehen, und keiner übergeschlagen werden wird. David nennt sein Leben eine Handbreit, und gleich darauf gar nichts, als ob jenes Maß noch zu groß wäre. Aber, wie kurz unser Leben ist, so wichtig ist es. Es ist die Aussaat für jene Welt. Hier säet man und ist immer am Säen, dort erntet man. Unser Schicksal in derselbe, welches entweder schrecklich oder höchstselig, in beiden Fällen ewig ist, hängt lediglich davon ab, wie wir unsere kurze Lebens- und Gnadenzeit verwendet haben. Nachholen läßt sich da nichts mehr, nachbessern ebenso wenig. Ansehen, worin wir hier standen, gilt da nichts mehr. Aber wie beschließen denn die meisten die Reise? So daß man ihnen das Herannahen des Endes zu verheimlichen sucht. Es kommt doch. Bisweilen wird ihnen herzlich, bisweilen zum Schein, oft gar nicht nachgeweint. Man begräbt sie. Man unterhält sich nach dem Begräbnis munter über vorkommende Gegenstände. Wenn was da ist, teilen sich die Erben drein, und des Verstorbenen wird vergessen. Es dauert nicht lange, so ist er wie niemals dagewesen, und wird wenig oder gar nicht vermißt. Das ist es denn. Das war sonst der Mühe wert! So ging's auch mit dem reichen Manne und dem armen Lazarus. Sie starben beide und wurden begraben. Jesus zieht aber da, wo unser Nachsehen vorbei ist, den Vorhang weg und läßt uns den reichen Mann in der bittersten Armut in der Hölle, in der Qual, in der Flamme erblicken, den Lazarus aber in Überfluß, Freude und Ehre. jener wünscht seine Brüder bewahrt zu sehen, für die aber kein Rat ist, wenn sie die Schrift nicht hören wollen. Da haben wir's also. Schreckliche Reise, die einen solchen Ausgang nimmt, wie jenes vergnügliche Art zu reisen! Herrliche Reise, die zu Lazarus Ziele führt, möchte es während derselben auch noch so erbärmlich hergehen! Richtet euch denn darnach! Wer nach Osten reiset, kann nicht nach Süden kommen. Wer das gute Ziel will, muß auch den guten Weg einschlagen. Meine nur niemand, das Ziel sei einerlei, wie verschieden auch die Wege, er irrt gefährlich.

In diesem allgemeinen, und noch dabei sehr prekären und zweideutigen Sinne meint es aber der heilige Dichter nicht, wenn er sich einen Pilger, einen Wallfahrer und einen Reisenden nennt. Er meint etwas Gutes damit und sagt deswegen: Ich bin dein Pilger, du hast mich dazu gemacht, ich stehe dabei unter deiner Aufsicht, Leitung und Pflege. Er versteht eine Gesinnung darunter, wie er ein Verhältnis, eine Lage dadurch andeutet.

Daß dieser Sinn nicht schon von selbst da sei, haben wir ja jetzt genugsam bewiesen. Ach, wie gut gefällt's den Menschen hier in der Welt, solange es ihnen einigermaßen nach Wunsch geht! Wie ungemein wohl gefallen ihnen die Güter und Freuden derselben! Wie trachten sie darnach, wie erfinderisch sind sie, wie lüstern! Sie sind Pilger, weil sie es sein müssen, aber wie ganz würde es nach ihrem Sinne sein, wenn ihre Gesundheit und Kräfte niemals abnähmen, und sie beständig so in ihrer Lage bleiben dürften! Sie müssen davon, das wissen sie mit David. Aber das ist ihr Schmerz, und wir haben schon vorhin in seiner Bitte: „Lehre mich, daß es ein Ende mit mir haben muß,“ einen Beweis zu finden geglaubt, wie natürlich eigen uns allen dieser irdische Sinn sei, gegen den auch die Heiligen auf ihrer Hut sein müssen.

Der Pilgersinn ist also nicht schon von Natur da, daß wir damit geboren würden, sondern er muß als etwas Neues in uns gewirkt werden. Das geschieht zuerst durch die Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Die bringt, daß ich so rede, etwas Ausländisches ins Herz, etwas, das seine Wurzel nicht in der sichtbaren Welt hat. Es geschieht sodann durch den Glauben. Er ist ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Er hat eine feste Überzeugung von einer anderen Welt, welche eigentlich nur diesen Namen verdient, einer Welt, wo es im eigentlichsten Sinne Güter, Gold, ehre, schöne Kleider und Freudengenüsse giebt. Zu dieser unsichtbaren Welt fühlt er sich hingezogen. Ihre Güter werden die Gegenstände seiner heißen Begierde. Seine Seele dürstet nach Gott. Der Glaube überzeugt auch davon, daß es einen Weg zu dieser herrlichen Welt giebt, daß man also wohl dazu gelangen könne, obschon man selbst weder Kraft noch Würdigkeit dazu hat, daß Christus dieser Weg sei, daß also Gott nicht zu dem Samen Jakob gesagt hat: Suchet mich vergeblich, sondern, daß wer suchet, auch findet, und dem, der anklopft, auch aufgethan wird. Nun will der Mensch es denn auch seines Orts nicht an Fleiß, am Suchen, Ringen und Anklopfen fehlen lassen, bis auch er das Kleinod erreicht. Jetzt entsteht in ihm ein Sinn, welcher sagt:

Ach, sagt mir nicht von Gold und Schätzen,
Von Pracht und Schönheit dieser Welt:
Es kann mich ja kein Ding ergötzen,
Was mir die Welt vor Augen stellt.

Die weltlichen Güter und Vergnügungen machen den höchsten Gegenstand seines Strebens nicht mehr aus. Es erregt schon Aufsehen, daß man ihn in seinen bisherigen Gesellschaften und an den gewöhnlichen Belustigungsörtern nicht mehr findet. Und wie sollte er sich da finden lassen, da er einen andern Sinn, einen anderen Geschmack bekommen hat, der hier seine Nahrung nicht mehr findet. Er ist ein Schaf worden, und das verlangt andere Speise als ein unreiner Hund. So ist nun eine neue ausländische Art in ihn gekommen, und mit derselben ein neuer, ausländischer, ein Pilgersinn.

Dieser Sinn wird sodann mehr und mehr ausgebildet und gefördert. Das geht so rasch gewöhnlich nicht, allem abzusagen und Christo nachzufolgen, zu vergessen was dahinten ist und sich zu strecken nach dem, was da vorne ist, denn wir sind leider sehr träge und ins Irdische versunken, und bedürfen oftmals des Sporns, zu laufen, und des Zaums, nicht darnach zu trachten, was auf Erden, sondern nach dem was droben ist, und der Ermahnung, nicht lieb zu haben die Welt und was in der Welt ist. Dieser Pilgersinn wird dann auch da, wo er gewirkt worden, durch mancherlei Mittel gefördert. Der neue Mensch wächset und erstarket im Ganzen, und mit demselben auch der Sinn, welcher macht, daß wir uns hienieden je länger je weniger zu Hause fühlen und mehr und mehr solche werden, die da hinweg eilen. Dies ist zugleich ein zuverlässiges Kennzeichen des Wachstums in der Gnade; denn je besser es uns noch in der Zeit gefällt, desto mißlicher sieht es um unsern Seelenzustand aus, desto ferner sind wir von dem Herrn.

Zur Belebung dieses Sinnes dienen auch insbesondere die Tröstungen und Erquickungen, welche einem treuen Pilger von Zeit zu Zeit mitgeteilt werden. Es giebt zwischen den Werktagen lustige Sabbathe und Elims in der Wüste. Sie können wohl einmal mit Jakob sagen: Wahrlich hier ist nichts anders denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. (1. M. 28,17). Der Freund sieht wohl mit seinem lieblichen Angesicht durch eine Spalte. Der Himmel öffnet sich wohl über einer Seele, daß sie die Kräfte der zukünftigen Welt schmecket. O, wie unschmackhaft und leer dünkt ihr da alles, auch das Köstlichste in der Welt, das doch nur Mühe und Arbeit ist, wie sehr begehrt sie alsdann abzuscheiden und bei Christo zu sein!

Doch diese Sehnsucht bewirkte bei Paulus nicht die Tröstungen der Gnade, sondern vielmehr die Mühseligkeiten dieses Lebens.

„Kein Reisen ist ohne Ungemach,“

mag's hier wohl heißen. Und diese Mühseligkeiten tragen auch ihr Namhaftes dazu bei, uns mit unsern Begierden zur Welt hinauszujagen. Im Äußerlichen giebt's allerlei Verluste und Hemmungen, und auch die angenehmsten Verhältnisse haben oder bekommen doch allerlei bittere Beimischungen und Einschränkungen hunderterlei Art, so daß man mehr und mehr dem Salomo nachsagen muß: Es ist alles ganz eitel; und mit Paulo bekennt: Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die edelsten unter den Menschen. Im Innern geht es auch nicht immer nach Wunsch, sondern oft ganz konträr, wovon auch unser Textkapitel zeuget. David äußert gleich anfangs seine Bekümmernis darüber, daß man die ernstlichst gefaßten Vorsätze doch oft schlecht bis zur wirklichen Ausübung durchführt. so hatte er sich vorgesetzt, sich zu hüten, daß er nicht sündige mit seiner Zunge, und seinen Mund zu zäumen. Aber gleich darauf sagt er, wenn er daran denke, werde er entzündet und rede mit seiner Zunge. Das soll aber wohl ein kreuz und Elend sein für Gottseligkeit liebende Seelen, daß sie noch täglich mit der Schwachheit des Glaubens zu kämpfen haben, daß sie aus Röm. 7 nicht herauskommen und seine Jammertöne noch täglich anstimmen müssen.

Im neunten Vers betet er: Errette mich von allen meinen Sünden! So fremd diese Bitte denen ist, welche tot in Sünden sie weder erkennen, noch empfinden, ein so drückendes Kreuz liegt für Erneuerte darin und eine Ursache zu brünstigem Sehen, auch zu den Thränen, deren er in unserm Text erwähnt. Es giebt Züchtigungen, derer keines der Kinder Gottes überhoben bleibt, welche aber in der Anwesenheit keiner Freude, sondern Traurigkeit sind und dies Leben nicht versüßen, sondern vergällten. Zu diesen Züchtigungen giebt jeder durch seien Unarten (wer aber kann merken wie oft er fehlet) Anlaß genug. Deshalb sagt auch der Psalmist in dem vor unserm Text hergehenden Vers: Wenn du jemand züchtigst um der Sünde willen, so wird seine Schöne verzehrt, wie von Motten; alle seine Schönheit, nicht die körperliche, sondern die geistige, vergeht, wie ein Kleid von den Motten verunstaltet wird. Gott deckt ihm sein Elend so auf, daß er sich selbst ganz häßlich vorkommt, wie er ist. Hiob drückt dies so aus: Du tunkest mich in den Kot, daß mir keine Kleider scheußlich anstehen.

Es giebt allerlei, zum Teil äußerst schwere Leiden, um deren Abwendung unser Psalmist im 11. Vers betet, wenn er sagt: Wende deine Plage von mir, ich bin verschmachtet, lautet; so sagt er buchstäblich doch ohne Zweifel noch mehr, wo es heißet: Ich bin verschmachtet von dem Kriege deiner Hand. Was muß das sein, wenn Gott gegen jemand Krieg führet! Man sollte meinen, so handelte er nur mit seinen frechsten Feinden, aber unser Psalm beweiset, daß er so auch mit seinen Kindern umgehen könne. Sehet, diese Leiden sind ein zwar scharfes, aber kräftiges Förderungsmittel des Pilgersinnes. Die Welt hat unter solchen Umständen nichts Tröstendes oder Aufheiterndes, und es bleibt auf die Frage: Was soll mich trösten? keine Antwort als die: Ich hoffe auf dich.

Ein Pilger zu sein, hat also sein Mühseliges aber auch Gefährliches. Es geht der Weg durch eine Wüste voll Schlangen und Skorpionen, ja durch des Satans Land. Er ist der Gott dieser Welt. Er ist ein Fürst und Gewaltiger, eine Obrigkeit. Ungeplagt läßt er den nicht durchreisen, der es wagt, sich mit ihm zu entzweien. Ein Glück ist's, daß er nicht kann, was er wohl wollte, und nicht darf, was er wohl könnte. Es sind gewiß keine leeren Bilder, die Bilder einer Schlange, eines Wolfes, eines Löwen, die von ihm gesagt werden; und sind es keine leeren Bilder, was für eine bedenkliche Bedeutung haben sie dann nicht! Dazu kommt nun das eigene Herz, dieses trotzige und verzagte Ding. Wie viel Schlingen, Abwege zur Rechten und zur Linken, zu hoch oder zu tief! Bleibt's nicht dabei: Nun Herr, was soll mich trösten, ich hoffe auch dich?

Sie reisen auf eine seltsame Weise. Einmal sind ihrer nur eine geringe Anzahl. Wenige sind, die den Weg finden, der zum Leben führt. Der große Haufen wandelt, wie Christus sagt, auf dem Wege der zur Verdammnis führt, und verlachet und plagt noch oft jenes Häuflein Ausländer und bestreitet es auf mancherlei, und zugleich auf eine solche Weise, daß es etwas bedenklich ist, zu wohnen unter einem Volke unreiner Lippen, weil sich so leicht etwas mit ansetzt. sodann, wie besonders müssen sie reisen! Auf ihre Vorsichtigkeit können sie gar nicht bauen, und indem sie es thäten, würden sie eine große Unvorsichtigkeit beweisen. Auf ihre Kraft dürfen sie nicht trauen, und wie manches Unglück ist nicht schon daraus entstanden! wollen sie glücklich reisen, so müssen sie's auf eine ähnliche Weise einrichten, wie Abraham that, so werden sie, wenn auch, wie Israel, ohne Kenntnis des Weges, ohne Brot und Wasser und Kleider, mit ihrem Christo allein, der Weg und alles ist, glücklich durchkommen.

Man kann's sich auch sehr erleichtern und bequem machen. Ich will dir einen Weg zeigen, sagt Salomo, daß dir dein Gang nicht sauer werde. Verschaffe dir nur recht viel Glauben und Zutrauen zu dem Herrn Jesu, also daß du nicht zweifelst, was er verheißet, das wird er auch thun. Habe ihn brünstiglich lieb, der dich geliebet und sich selbst für dich dahin gegeben hat. Deine Geduld bleibe, wie Jakobus ermahnt, fest bis ans Ende! Übe unverdrossen ein gelassenes Harren! Sei fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, halte an am Gebet, so wirst du dir deine Pilgerreise ungemein erleichtern. Endlich erwäge das herrliche Ziel deiner, wenn auch mühseligen doch kurzen Pilgrimschaft! Welch' ein Kleinod ist am Ziele der Laufbahn aufgesteckt, und wie sehr verdient dasselbe Kampf, Anstrengung und Mühe! Was wird es sein, wenn Jerusalems Thore sich dir öffnen, wo Streit und alle Müh verschwinden. Der erste Ton der himmlischen Harfen, der deine Seele durchbebt, wird jede Falte von deiner Stirn und jeden Schweißtropfen wegwischen und dich mit Himmelsfreuden füllen Unsere Trübsal, welche zeitlich und leicht ist, schaffet eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit. Und dann, unter welchen Auspizien reisen wir! Jesus ist der Herzog und Heerführer, der Anfänger und Vollender des Glaubens. Umgeben uns feindselige Kräfte wie die Bienen, so umlagern uns die heiligen Engel, und derer, die mit uns sind, sind mehr als die wider uns sind. Bei unserer Reise und zur glücklichen Fortsetzung und Beendigung derselben, kommt es erwünschter Weise weder auf unsre eigene Würdigkeit, noch auf unsre Weisheit und Kraft an. Jesus ist uns zu dem allem gemacht, und in ihm haben wir alles. Wenn wir schwach sind, so sind wir stark in ihm. Darum sind wir guten Muts. Zeuch uns, zeuch uns nur, so laufen wir!

Der andere Charakter, welchen wir an uns tragen sollen, ist in dem Worte „Bürger“ angedeutet. Wie jenes etwas Bewegliches, so zeigt dieses etwas Festes und Bestimmtes an. Hat der Christ auch hier keine bleibende Stätte, so wartet er doch auf eine Stadt, die einen Grund hat. Er besitzt im Glauben ein unbewegliches Reich, und sein bürgerliches Heimwesen ist im Himmel. Dies Feste und Beständige ist sowohl in den Gläubigen als außer ihnen. Es ist in den Christen, und deshalb sagt Paulus Eph. 2,19 zu ihnen. Ihr seid nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Hausgenossen Gottes. Dem Ansehen nach ist nicht viel Festes in den meisten, wenigstens giebt es Zeiten, wo sie klagen müssen:

Ich wird' geworfen hin und wieder
Und bleib doch eben ungewiß.

Aber dennoch ist etwas in ihnen, das die Pforten der Hölle nicht überwältigen. Sie sind gesetzt, daß sie hingehen und Frucht bringen, und ihre Frucht bleibe. Liegen sie auch etwa danieder, so hat doch ihre Feindin nicht Ursache sich darüber zu freuen, denn sie werden wieder aufkommen, und so sie im Finstern sitzen, ist doch der Herr ihr Licht. Sodann ist es, und das ist die Hauptsache, ein Salzbund. Es sind gewisse Gnaden Davids. Wenn auch berge weichen und Hügel hinfallen, soll meine Gnade nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens nicht hinfallen, spricht der Herr, ein Erbarmer. Unser Bürgerrecht ruht im Blute Christi und seiner ewiggültigen Versöhnung. Sind wir Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes da wir noch Feinde waren, wie vielmehr werden wir selig werden durch sein Leben, so wir nun versöhnet sind. Haben wir in ihm die Gerechtigkeit, welche vor Gott gilt, wie sollten wir nicht alle Gerechtsame an die Stadt Gottes haben, die für arme Sünder daraus herfließen? Gilt hier doch nicht eigene, sondern Christi Kraft, nicht eigene, sondern Christi Gerechtigkeit. Welchen festen Grund geben die Verheißungen Gottes, welche ja in Christo Jesu Ja und Amen sind; und getreu ist, der's verheißen hat, der wird's thun. Und selbst wenn wir nicht glauben, bleibt er doch treu, er kann sich selbst nicht leugnen. Das Erbe selbst ist wie unbefleckt, so auch unvergänglich und wird behalten im Himmel, und auch ihr werdet aus Gottes Macht durch den Glauben bewahret zur Seligkeit. Was kann fester sein! So los in einer, so fest in der andern Beziehung, und beides zugleich, das ist's was gilt.

Es bedarf nun weiter keiner vielen Worte, zu zeigen, wie ehrwürdig, wie selig dieser doppelte Charakter in seiner Vereinigung in dem Gemüte eines jeden sei. Worte sind's auch nicht, um welche es sich handelt, es ist der Sinn selbst. Wir sind Kinder der Zeit und veränderlich wie sie. Unsre Tage eilen unaufhaltsam dahin und versieden wie Wasser. Werden wir denn Bürger in der unsichtbaren aber allein wirklichen Welt! Suchen wir daselbst Wurzel zu fassen, suchen wir da unsern festen Punkt und seien wir hier Fremdlinge! Haben wir dort unsern Schatz und unsern Ehrenstand und unsere Güter? Dann rausche der Strom der Zeit unaufhaltsam vorwärts, seine Fluten tragen uns in die ewige Herrlichkeit! Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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