Krummacher, Gottfried Daniel - Der Herr Nissi

Krummacher, Gottfried Daniel - Der Herr Nissi

Predigt beim Jahresschluß (gehalten am letzten Sonntage des Jahres 1823)

Zeigt sich nicht auch die Thorheit und der Unverstand der Menschen in der Art und Weise, wie sie ein altes Jahr zu beschließen pflegen? Sie thun das mit allerhand Freudenbezeugungen, von denen man noch glauben muß, daß sie mit ihrem eigentlichen Sinne in großem Widerspruch stehen und ihnen also unmöglich bedacht sein können, bei welchen keine Überlegung zum Grunde liegt, welches überhaupt weniger Leute Sache ist, aber doch aller Sache sein woll und aller Verständigen Sache ist. Jedoch die Art der Freudenbezeugung beweist schon, daß sie blos im Fleisch ihre Wurzel habe. Unter denselben möchte noch das gewöhnliche Schießen das Sinnvollste sein. Ein Dampf schlägt auf, und ist alle Herrlichkeit dieser Erde, im Grunde betrachtet, etwas anders? Ein schnell vorübergehender nichts bedeutender Knall läßt sich hören; und ist nicht alles Geräusch der Erde, in seinen mannigfaltigen Bestrebungen am Ende ein schnell verhallender Knall, womit es so schnell wie mit ihm gethan sein kann?

Was macht euch so lustige? Seid ihr der Erde so überdrüssig, daß ihr euch freut, ganze 365 Tage weniger darin zubringen zu dürfen? Nein. Ist euch der Tod, die Ewigkeit so lieb, daß es euch Freude macht, beiden um ein ganzes Jahr näher zu sein? Nein. Begründet ein glücklich zurückgelegtes Jahr den Schluß, ihr werdet das neue eben so glücklich zurücklegen? Nein. Wisset ihr nicht, daß dieser Jahreswechsel für einen jeden einmal zum letzten Mal eintritt? Ja. Aber wozu dieses katechisieren? Vielleicht soll man ein Jahr mit Seufzen und Kopfhängenlassen beschließen? Nein, das ist die Meinung gar nicht. Wohl jedem, der ein Jahr mit Freuden beschließen kann und es mit Freuden beschließt! Das kann nicht ein jeder. Es kann nur derjenige, der seine eigentlichen Güter, Freuden und Annehmlichkeiten nicht in dieser wandelbaren Welt, sondern in der unwandelbaren Ewigkeit hat; nur derjenige, welcher sich versichert halten kann, daß sein Glück beim Austritt aus dieser und beim Eintritt in jene Welt bedeutend gewinnt, nur derjenige, welcher von aller Anhänglichkeit an dieser Erde los und mit dem Willen Gottes inniglich vereinigt ist, nur derjenige, welcher sich nicht zu entfärben braucht, wenn es heißt: Darnach das Gericht. Ein solcher kann sich allewege freuen, kann sich mit Grund beim Schluß des Jahres freuen. Könnt ihr's auf diese Weise auch? Wie? Die Welt ist ja euer Himmel, ihre Güter euer Ziel, ihre Vergnügungen eure Lust, wie könnt ihr euch denn so fröhlich stellen, wenn ihr ein ganzes Jahr weniger in dieser euch so lieben Welt zu leben habt und nicht wisset, wie viel Jahre oder auch Monate oder selbst Tage ihr noch zu leben ihr noch zu hoffen habt? Man sollte sagen, diese Betrachtung müßte euch sehr von eurer bemitleidenswerten Thorheit und Unbesonnenheit überzeugen. Aber ja, dann muß noch ganz was anders dazu kommen, und wir mit Moses beten: Herr, lehre du uns unsere Tage zählen! Selbst nicht alle wahren Christen können das so mit Freuden, wie viel weniger ihr, denen an nichts weniger gelegen ist, als am wahren Christentum, woran euch doch das meiste gelegen sein sollte!

Die Zeit stürmt freilich über unsern Häuptern dahin, und wir eilen mit ihr fort, und ist kein Aufhalten. O wohl uns, wenn der Herr unser Panier ist, das vor uns herzieht!

Laßt uns im Geist am Schlusse des Jahres einen Altar errichten, um Opfer zu bringen, wozu der Herr seinen Segen über uns wolle walten lassen!

2. Mose 17,15

Und Mose baute einen Altar und hieß ihn: „Der Herr Nissi.“

Die Wahl dieses Textes bedarf wohl einer Entschuldigung, und ich darf es denen nicht übel nehmen, welche einen Text für schicklicher halten, der statt eines Gedenkspruches diente. Aber ich denke, dazu kann auch dieser dienen, sobald wir das Wort „Nissi“ ins Deutsche übersetzen, welches Luther, ich weiß nicht warum, unübersetzt gelassen. Das Wort Nissi heißt aber: Mein Panier. Das Volk hatte nämlich einen großen Sieg über Amalek errungen, und das auf eine Weise, die es ganz klar machte, daß sie denselben nicht durch Wehr und Waffen, sondern allein durch den Herrn erlangt hatten. Israel siegte nämlich nur alsdann, wenn Moses seine Hände emporhielt; wenn er sie aber niederließ, siegte Amalek. Und Moses Hände waren schwer, so daß er sie oft niederlassen mußte, wo der Sieg dann immer wieder aus Israels Händen gerissen wurde, bis sich Moses endlich auf einen Stein setzte, und Aaron und Hur ihm die Hände empor hielten, da wurde Amalek ganz geschlagen. Diese wunderbare Begebenheit mußte Moses auf Befehl Gottes zum Gedächtnis in ein Buch schreiben. Zugleich baute er einen Altar, und nannte ihn: Der Herr ist mein Panier, durch welches ich siege. Luther hat das Wort Nissi, mein Panier, nicht übersetzt, warum nicht, weiß ich nicht, da er sehr gut wußte, was Nissi heißt. Vielleicht würden wir uns überhaupt über die Schrift verwundern, wenn sie ganz ins Deutsche übersetzt wäre, nämlich auch die darin vorkommenden Name, welche alle ihre Bedeutung haben, welche die, der hebräischen Sprache kundigen bald begriffen, wie wir etwa die Namen: Friedrich, Gottfried und andre. So heißt z.B. Amalek: Blutsauger; Mose: Aus dem Wasser gezogen; Aaron: Ein Erhabener; Hur: Ein Edler; Nisse: Mein Panier.

Heute ist der letzte Sonntag in diesem Jahr. Laßt denn auch uns bei diesem bedeutenden Schritt, den wir der Ewigkeit näher gethan haben, einen Altar errichten und zu dem Herrn sagen: Nissi mein Panier!

Ein Altar wird errichtet, um darauf zu opfern, und wenn wir von Altar und Opfer reden, so meinen wir das natürlich im uneigentlichen Sinne. Unsre Kirche duldet nichts in ihren Gotteshäusern, was nur einem Altar ähnlich sähe, denn wir haben unsern Altar im Himmel; sie will von keinem Opfer wissen als dem einigen unsers Herrn Jesu Christi. Aber die Schrift bedient sich auch des Wortes opfern in einem uneigentlichen Sinn, wenn sie z.B. sagt: Opfere Gott Dank! Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstetes und zerschlagenes Herz, wirst du, Gott, nicht verachten. Begebet eure Leiber zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger, wörtlicher: logischer Gottesdienst! Bringt Opfer, die Gott angenehm sind, durch Jesum Christum, sagt Petrus, und Paulus: Laßt uns durch Christum allezeit Gott das Lobopfer opfern, das ist, die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen, und setzt hinzu: Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht, denn solche Opfer gefallen Gott wohl! Wahre Christen sind Priester, und als solche sollen sie opfern, und namentlich, sich ihm zu einem lebendigen Dankopfer darstellen.

Es giebt aber Sünd-, Dank-, Brand- und Sühnopfer. Laßt uns denn sehen, wie der heutige letzte Sonntag im Jahr dieses vierfache Opfer von uns verlange und uns dazu veranlasse und auffordere.

Zuvörderst bringen wir bei dem Jahresschluß billig ein Sündopfer und sammeln uns um unsern unsichtbaren Altar Jesum Christum mit bußfertigen Thränen. Billig ahmen wir den vorsichtigen Kaufleuten nach, welche nicht jahraus, jahrein darauf loshandeln, sondern bei jedem Jahresschluß ihre Bücher sorgfältig nachsehen, um ihren Vermögensstand, ihre Schulden und Guthaben genau zu wissen, damit sie nicht zu ihrem und andrer Nachteil unrichtige Begriffe von ihrem Vermögensstand haben mögen. Ist dies im Zeitlichen, so ist es noch vielmehr im Geistlichen ratsam, ja notwendig, damit wir keinen Posten unberichtigt lassen und uns mit den gehörigen Quittungen versehen. Wir haben nun alle ein Jahr mehr im Buche Gottes stehen. Es verdient unsere ernstliche Prüfung, ob wir dasselbe so zugebracht haben, wie wir sollten, oder wenn das nicht ist: Ob und wie dies berichtigt werden möge? Ich sollte nicht denken, daß zwei oder auch nur ein einziger in dieser Versammlung verwegen genug wäre, von sich zu behaupten, er habe dies Jahr wirklich so zugebracht, wie er es hätte zubringen sollen. Wir hoffen auch, daß niemand so grobsinnig sein wird, zu meinen, man dürfe diesen Ruhm von sich behaupten, wenn man nur kein grobes Verbrechen begangen, sondern sich als ein ehrlicher, fleißiger, braver Mann aufgeführt habe. Denn wir müssen nicht die Polizei-, sondern die Gesetze Gottes zu dem Maßstab nehmen, woran wir uns messen. Sollte aber wirklich jemand so grobsinnig sein, so wünschen wir ihm, daß er sich wenigstens einige Generalgebote Gottes vergegenwärtige, wonach er sein Verhalten einzurichten hat. Und diese sind einmal die Liebe Gottes über alles und sodann die Liebe des Nächsten, welcher unsrer Selbstliebe gleich kommen muß. Ebenfalls ist es ein Generalgebot, am ersten nach dem reiche Gottes und dessen Gerechtigkeit zu trachten, nicht zu suchen, was auch Erden, sondern das da droben ist. Wer nun auch im Angesicht dieser Generalgebote dennoch in seiner Meinung beharrt, sich das Jahr hindurch recht benommen zu haben, den können wir nur wegen seiner Blindheit und Erstarrung beklagen. Was würden diese Leute sagen, wollte man ihnen zu Gemüte führen, daß derjenige schon des ganzen Gesetzes schuldig sei, der an einem sündiget; daß, wer nicht alles hält, was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, verflucht sei. Davon würden sie freilich nichts wissen wollen und gleich sein den Kaufleuten, die das Register der Forderung anderer an sie nicht einsehen mögen und deswegen gar keine oder eine unrichtige Bilanz machen. Aber wie geht's ihnen auch?

Eben so verkehrt ist's aber auch, wenn wir beim Rückblick auf dies beinahe vergangene Jahr, und bei der Frage, ob wir dasselbe so zugebracht haben, wie wir sollten, alsbald zugeben, daß dies freilich der Fall nicht sei, auch wohl nicht sein könne. Ob sie das mit dem nicht sein können wirklich glauben, wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber das eilfertige, oberflächliche Bekenntnis: Wir sind alle Sünder, wir fehlen alle mannigfaltig, das man so häufig hört, bedeutet so viel als nichts. Gehe ins einzelne! Berücksichtige die einzelnen Gebote und lasse es nicht bei dem allgemeinen flüchtigen Sündenbekenntnis. Es würde weit nützlicher für deine Seele sein, wenn du gründlich erkennest, daß du an einem gesündigt hast, als wenn du dies so im ganzen zugiebst und hernach doch an keinem gesündigt haben willst. Und dann, wo sind deine Bußthränen? Wo ist dein Herzenskummer über deine Sünden? Wo die Trauer nach Gott? Und daran darf's noch nicht fehlen. Wer aber kann merken, wie oft er fehle, und welches mag die Menge der uns verborgenen Fehler sein? Wer würde es übersehen, wer auch den Anblick zu ertragen imstande sein, wenn der ganze Nebel aller unsrer im Laufe dieses Jahres uns zur Last fallenden Versäumnisse und Unterlassungen des Guten und Begehungen des Bösen mit Gedanken, Worten und Werken, sich vor unsern Augen ausbreitete? Die Schrift vergleicht die Zahl unsrer Übertretungen, der des Haupthaares, des Sandes, und urteilen wir anders davon, so urteilen wir unrichtig und haben Ursache, Gott zu bitten, da er uns ein richtiges Urteil lehre.

Ja, dürfen wir sagen und uns das Zeugnis geben, daß wir bei allen Fehlern, Übereilungen, Sünden und Unarten, die wir uns zu unserm Leidwesen und Beschämung auch in dem verflossenen Jahr haben zu schulden kommen lassen, und die wir beklagen, daß wir doch herzlich uns haben angelegen sein lassen, das Böse nach aller Möglichkeit zu meiden und das Gute zu üben, daß wir zu dem Ende täglich unsre Zuflucht zu Christo, seinem Verdienst und Gnade genommen? Müssen wir nicht für unsre eigne Person ausrufen: Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht! Und haben wir uns nicht auch vor dem Angesicht des Herrn über die Sünden zu demütigen, welche von der Korporation begangen worden sind, zu welcher wir in bürgerlicher oder kirchlicher Beziehung gehören, die wir also mit als die unsrigen anzusehen haben!

Was für heimliche Sünden und Schanden, die als Werke der Finsternis das Licht scheuen, mögen nicht unter uns begangen sein, ja werden nicht noch immer öffentliche jene schändlichen Häuser geduldet, die das Verderben der Menschen und für einen christlichen Staat eine sehr schlechte Ehre sind? Wie schlecht werden die Sonntage gefeiert oder vielmehr entweiht, indem der eine Teil mit Fortsetzung der Arbeit zugebracht, der andere in eiteln Lustbarkeiten getötet, das Seelenheil gar nicht berücksichtigt wird! Mögen auch dennoch unsre Kirchen mehrenteils ziemlich angefüllt sein, sollten sie nicht im Verhältnis zu der Gemeine viel zu klein sein? Das Kirchengehen ist's freilich nicht. Allein, muß nicht das Herz eines Menschen, der weder zu Hause das Wort Gottes liest, noch es in der Kirche hört, gänzlich einem unbebauten Acker gleich werden, worauf nur Unkraut wächst, da er außer allem Zusammenhang mit den Wahrheiten steht, die ihn lehren, daß ein Gott über ihm, eine Ewigkeit vor ihm und ein Grab unter seinen Füßen ist? Und giebt nicht der Besuch des öffentlichen Gottesdienstes einen ziemlich richtigen Maßstab der öffentlichen Moralität ab? Giebt es für dieselbe ein günstiges oder ungünstiges Zeugnis, ein Zeugnis von Fort- oder Rückgang gegen die Vorzeit, wenn wir das Gedeihen des Schauspiels und der ihren bestimmten Kreis machenden Lustbarkeiten sehen, die hier ehemals nicht gedeihen wollten? Freilich nimmt der großstädtische Ton unter uns zu, aber auch großstädtische Unsittlichkeit. Eure Vorfahren mochten gegen euch dumme, ungebildete Leute ohne Welt sein, ob ihr sie an Ehrlichkeit und Biederkeit, wie auch an Glück und Segen, wie an vielseitiger Bildung übertrefft, will ich eurem Urteil zur Entscheidung überlassen, da ja 10jährige Burschen mit der Zeit Dinge entscheiden, wovor ehemals der 30jährige Mann zurückbebte. Doch, Geliebte, wozu alle die Umstände und Ceremonien? Gewiß haben wir im ganzen wie im Einzelnen sehr große Ursache, ein Sündopfer zu bringen und uns beim Schlusse dieses Jahres mit zerknirschtem herzen vor dem Angesichte Gottes unsrer Sünden wegen anzuklagen, zu demütigen und sie zu bereuen. Gott fordert dies. Erkennt eure Missethat, zerreisset eure Herzen, traget Leide, sind seine eignen Gebote. Wohl dem, der sich darin fügt, stillsteht und umkehrt, statt in seinem Sündendienst fortzufahren! Die Weltfreuden werden euch reuen, die göttliche Traurigkeit aber nie.

Wir haben aber auch Dankopfer zu bringen. Leider ist der natürliche Mensch so gieriger, habsüchtiger, unersättlicher Art, er ist so eigenwillig und stolz und selbstsüchtig, daß die Dankbarkeit für die Wohlthaten, welche er genießt, etwas Seltenes, Klagen und Beschwerdeführung aller Art aber etwas Gewöhnliches sind. Undank ist der Welt Lohn, nicht nur des einen Menschen gegen den andern, sondern auch selbst gegen Gott, und es ist nicht anders von denen zu erwarten, welche noch nicht am Sündopferaltar geweint und getrauert haben. Ist Gott uns vielleicht etwas schuldig? Aber wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß er es vergelte? Ist er etwa verpflichtet, sich nach unsern Wünschen zu richten? Aber er macht's wie er will, beides mit den Kräften im Himmel und mit denen, so auf Erden wohnen, und niemand kann seiner Hand wehren, noch zu ihm sagen: Was machst du? Haben wir ein Recht zu fordern? O ja. Seid ihr durch wahren Glauben mit Christo, wie Glieder mit dem Haupte vereinigt, so habt ihr ein ausnehmend weit reichendes Recht. Von Gnade und Recht könnt ihr singen. Es heißt auch zu euch: Fordere von mir, und ich will dir geben die Enden der Welt zum Eigentum. Seid ihr das aber, so werdet ihr auch nicht nur erkannt haben, sondern auch fortwährend erkennen, daß ihr gar nicht nur erkannt haben, sondern auch fortwährend erkennen, daß ihr gar kein Recht für eure Person, nicht den geringsten Anspruch an die kleinste göttliche Wohlthat habt, daß ihr Sünder seid, daß der Herr euch nicht zur Rechenschaft ziehen darf, weil ihr auf tausend nicht eins antworten könnt. Dennoch wie übermütig ist der Mensch, der Sünder, dem der Acker nur Dornen und Disteln tragen sollte! Ist Sonnenschein und Regen, ist die Fruchtbarkeit und der Handel, ist sein Gewinnst, und sind die Preise nicht seinem Gutfinden angemessen, so ist er voll Unzufriedenheit und Klag, und genießt er Wohlthaten, so werden sie teils nicht erkannt, teils mißbraucht. Wie mancher genießt das kostbare Geschenk der Gesundheit, nur um sein Sündenregister zu vergrößern, wie mancher ein gutes Vermögen, nur um sich desto entfernter von ihm, seinem Wort und Gebot zu sein, nur um sein Vermögen desto gieriger zu vermehren und gegen fremde Not desto unempfindlicher zu sein und sich selbst in der dünkelhaften Aufgeblasenheit seines gottlosen Herzens, ein anderer Nebukadnezar, für den Schöpfer seiner Vorzüge anzusehen und dafür gehalten werden zu wollen, ohne sich gegen Gott zum Danke verpflichtet zu glauben. Nein, Gott darf um der Ungezogenheit der Menschen willen nicht allzu freigiebig sein, sie würden anders gar zu sehr hintenausschlagen. Dennoch ist er auch über die Undankbaren gütig und läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wie groß ist die Summe der Wohlthaten, welche wir täglich genießen, wie unzählbar vollends die, welche wir in dem Laufe eines ganzes Jahres genossen haben! Etlichemal hat der gnädige Gott eine Feuersgefahr entstehen lassen, um uns zu zeigen, wie schnell er unsern Ort in einen Aschenhaufen verwandeln könne, aber wie bald hat er euch diese Gefahr wieder abgewandt! Und ist dies gleich nicht durch ein Wunder, sondern durch Menschenhände geschehen, so mögen wir uns wohl hüten, es den letztern nicht allein beizumessen, weil sonst sehr schmerzliche Erfahrungen uns aufs nachdrücklichste überzeugen könnten, daß, wo der Herr die Stadt nicht bewacht, die Wächter vergeblich wachen. Was würden wir bei der großen Kälte des vorigen und des Anfangs dieses Jahres gethan haben, die dem Wasser seine flüssige Natur nahm und es in Stein umwandelte?

Hat nicht der Herr nach seiner Güte den Wohlstand dieser Stadt blühend erhalten, und Handel und Gewerbe sehr gedeihen lassen? Wir haben im Frieden gelebt, fern vom Getöse der Waffen, welches uns um so teurer sein muß, da ein ausbrechender Krieg so viel fürchterlicher sein würde, da fast keine Familie wäre, welche nicht eins ihrer teuren, ja unentbehrlichen Glieder dazu hingeben müßte, sodaß der Friede uns so viel teurer sein muß, je verheerender das Gegenteil in unsere innigsten Verhältnisse eingreifen würde. Wir haben in Ruhe leben können, möchten wir auch in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit gelebt haben! Übrigens hat der Herr uns die Gnadenmittel erhalten. Er läßt sein Evangelium reichlich und lauterlich unter uns fortwährend verkündigen und uns den eigentlichen, wahren Weg zum Heil unablässig ansagen. Er hat auch bisher noch den Sinn unter uns erhalten, daß doch noch immer aus allen Klassen sich mehrere finden, welche dem öffentlichen Gottesdienste beiwohnen. Es herrscht noch unter uns eine Ehrfurcht vor dem Worte Gottes und Achtung für das Amt, das es verkündigt. Es findet sich unter uns noch viel buchstäbliche, auch noch viel lebendige Erkenntnis, und mancher geringe Handwerker übertrifft an Erkenntnis des Evangeliums manchen, der sich einen Gelehrten nennen läßt. Die Predigt des göttlichen Worts ist auch nicht ohne Segen erschollen, sondern manches Herz ist dadurch erquickt, erbaut, erfreut, manches auch erweckt worden, der Sünde und Eitelkeit zu entsagen und sich Christo zu ergeben. Auch der Sinn für Wohlthätigkeit ist noch nicht unter uns erloschen. Kirchen, Schulen, Armenwesen, Bibel- und Missions-Anstalten haben sich noch immer milder Geber zu erfreuen, und auch auswärtige Bedürftige sich des mit zu erfreuen gehabt, und die Wohlthäter werden ihrem Sinne die Krone aufsetzen, wenn sie's gerne zugeben, daß man denselben nicht auf ihre Rechnung setzt, sondern Gott davon die Ehre giebt, da wir von Natur zum Geben viel zu geizig sind. Doch wer kann die Menge göttlicher Wohlthaten ermessen!

Billig errichten wir denn beim Schlusse dieses Jahres einen Dankaltar, und preisen den Herrn für seine Wohlthaten, deren keiner einzigen wir wert sind. O, er gebe uns das dazu erforderliche Feuer vom Himmel, und zünde so sich selbst ein ihm wohlgefälliges Dankopfer an!

Aber auch einen Brandopferaltar sollen wir errichten, um Brandopfer darauf zu bringen, welche von der Flamme des heiligen Altars, den wir haben, gänzlich verzehrt werden. Auf diesem Altar sollen wir alles der gänzlichen Verzehrung hingeben, was irgend dem Wort und Willen Gottes zuwider ist, als da ist: Den irdischen Sinn, der dem Zeitlichen irgend einen ihm nicht gebührenden Wert beilegt, allen eigenen Willen, sowie alle eigene Weisheit, Gerechtigkeit und Kraft, und unsere Busensünden, welche uns unser Temperament vorzüglich nahe bringt. Kurz, alles das, was uns im Lichte des Heiligen Geistes als Sünde aufgedeckt wird.

Endlich sollen wir uns insbesondere zum Sühnaltar wenden, daß wir durch das Opfer Christi aller unsrer Sünden entschlagen, durch sein Blut völlig beruhigt, und los vom bösen Gewissen keine alte Schuld mit ins neue Jahr hinübernehmen, sondern den Schluß machen: „Es ist bezahlt, dein Jesus Rechnung thut. Sei drum getrost, hab einen kecken Mut.“

O, wie christlich, wie geziemend werden wir dann dies Jahr beschließen, wenn wir so auf der letzten Stufe desselben ein Sünd-, Dank-, Brand- und Sühnopfer bringen.

Dann werden wir auch mit dem Losungswort dem neuen Jahr entgegen, und so der Herr will, in dasselbe hinübergehen: Der Herr Nissi, mein Panier.

Ein Panier ist ein Feldzeichen, eine Fahne oder Standarte, welche auf einem erhöhten Ort aufgepflanzt wird. Sie dient zum Sammelplatz. Sie fordert zum Krieg auf. Sie dient dem Heer zur Ehre und zeigt ihm den Weg. Nun sagt Mose: Der Herr Nissi, und gibt ihm damit die Ehre von dem über die Blutsauger errungenen Siege.

Die Gläubigen nennen den Herrn auch Nissi, mein Panier. Sie werden zum Streit aufgefordert und heißen Streiter Jesu Christi. Seine Feinde sind die ihrigen, die ihrigen die seinigen. Vielleicht ist unter ihren Feinden die Welt der am leichtesten zu überwindende. Ihre Lehre leuchtet bald als eine solche ein, deren Quelle nur Blindheit und Unglaube ist, ihre Güter als solche, die den Keim der Vergänglichkeit in sich selbst tragen und den unsterblichen Geist nicht sättigen, der eines andern Reichtums, einer anderen Ehre bedarf, als die Welt verleiht. Ihre Vergnügungen können dem nicht viel gelten, der's inne geworden ist, daß sie ein um seine Sünde bekümmertes Herz nicht erfreuen können, der's einsieht, daß sie im Grunde nur versteckte Netze sind, die den Menschen zur Verdammnis führen, und der geschmeckt hat, daß der Herr freundlich ist, und seine Tröstungen allein die Seele erquicken. Ihr Haß, ihre Verachtung kann ihn nicht sonderlich kümmern, da sie seinen Herrn auch schmähte und verachtete. Einen schlimmern Feind entdeckt er in seinem eigenen Busen. Da findet er ein Fleisch, das wider den Geist gelüstet, da eine Lust, von welcher er gereizt und gelocket wird, da einen Leib der Sünde und ein Gesetz in den Gliedern. Wer dies besiegt, der ist ein größerer Held, als der Städte gewinnt. Hier heißt's: Kämpfe den guten Kampf des Glaubens!

Aber der Herr ist nicht blos ein Panier, das zum Krieg auffordert, sondern auch der Sammelplatz der Streiter, denn es heißt zu ihnen: Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein. Kommt zu mir, spricht Christus. So diente einst die eherne Schlange zum Sammelplatz und Mittelpunkt aller Blicke im israelitischen Lager, die sich auf sie hinrichteten, Genesung zu empfangen. So sagte auch einst Josaphat zu dem Herrn: Nissi, als er von einem unermeßlichen Heer angegriffen wurde, und sagte: Herr, wirst du es nicht thun? In uns ist nicht Kraft gegen diesen großen Haufen, der wider uns kommt. Wir wissen nicht, was wir thun sollen, aber unsre Augen sehen auf dich. Stellt ihn nicht Paulus auch also vor, wenn er sagt: Laßt uns aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens? Er macht die Blinden sehend, die Lahmen gehend, die Tauben hörend. Wer also deren einer ist, der sage auch: Der Herr Nissi, der sammle sich zu ihm, damit er auch seine heilende Wunderkraft erfahre. An ihn sind wir mit allen unsern Bedürfnissen verwiesen, und er kann überschwänglich thun über alles, das wir bitten oder verstehen. Ist er unser Panier, so treten wir getrost aus einem Jahr ins andere, und endlich aus der Zeit in die Ewigkeit. Sind wir gleich arm: Er ist reich; sind wir schwach: Er ist stark.

Die Fahne ist die Ehre einer Armee. Was ist uns aber Christus? Er ist unser alles. Jene Fahnen setzen Starke, Mutige, Gesunde voraus, und wer's nicht ist, den können sie nicht dazu machen, sondern müssen ihn lassen, wie er ist, oder weisen ihn zurück. Aber hier verhält's sich umgekehrt. Wer albern ist, heißt es, der mache sich hieher! Den verzagten Herzen wird zugerufen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Sehet, euer Gott kommt zur Rache, Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen. Den Müden giebt er Stärke, den Unvermögenden Kraft genug. Sind unsre geistlichen Bedürfnisse unzählbar, erweiset sich der Spruch des heiligen Cyprian noch immer als Wahrheit, wenn er sagt: „Es ist nicht hinreichend für mich, wenn der Herr mir nur einmal geben wollte, sondern er muß stets am Geben bleiben,“ so kann, so will er das auch.

Fahnen weisen den Weg, und der Herr Nissi wisset einen Weg durch eiserne Thore, eherne Riegel, dergestalt, daß durch ihn kein Ding uns unmöglich ist. Er weiset einen Weg, auf welchem auch die wandeln, ja laufen und fliegen können, die übrigens lahm sind, einen Weg, bei welchem es auf unser Können oder Nichtkönnen gar nicht ankommt, ja auch welchem sich das eigene Können je länger je mehr verliert, wo man aber stark wird in dem Herrn. Sehen wir kein Durchkommen, wie denn auch wirklich für uns allein keins ist, so macht er Bahn in der Wüste und Wege in der Einöde.

So laßt uns denn, geliebte Christen, in dem alten Jahre unsern Blick auf den Herrn erneuern, und so getrost das alte beschließen und das neue beginnen!

Der Herr sei unser Panier! Amen.

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