Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XIX. Der Ueberfall.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XIX. Der Ueberfall.

„Führe uns nicht in Versuchung!“ lehrt uns der Herr Matth. 6, 13 beten. Es hat schon Mancher stutzend vor dieser Bitte gestanden, weil er sie nicht sogleich mit dem Worte des Apostels Jakobus in Einklang zu bringen wußte, daß Gott, wie er selber unversuchbar sei, auch Niemanden zum Bösen versuchen könne. Und allerdings ist die Sache damit nicht abgethan, daß man die Bitte willkürlich in ein „Laß uns der Versuchung nicht erliegen, sondern errette uns aus derselben,“ hinüberdeutet. Die folgende Bitte enthält diesen Gedanken, möge nun unter dem „Bösen“ das Uebel, oder der Urheber desselben, der Teufel, verstanden werden. Gewiß war es nicht die Absicht des Herrn, uns zum Hinwegbitten aller und jeder Prüfung anzuleiten. Die Anfechtung ist zu unserm Wachsthum am innern Leben unentbehrlich. Im Tiegel der Trübsal werden „die Kinder Levi geläutert wie das Silber.“ Was uns den Sinn der fraglichen Bitte verdunkelt, ist das Wörtlein „führe“, welche allerdings theils auf Gott den Schein wirft, als könne er uns auf glatte Steige leiten, damit wir strauchelten, theils zu der Frage reizt, ob denn dem himmlischen Vater eins der wesentlichsten Erziehungsmittel für uns aus der Hand genommen werden solle. Doch wisset, wenn unsere Übersetzung das grundtextliche Wort statt mit „führe“, buchstäblicher und richtiger mit „gib“ oder „schleudre nicht hinein“ verdolmetscht hätte, so wäre allen Scrupeln von vornherein vorgebeugt gewesen. Gott, dem Heiligen und Gerechten, steht es vollkommen zu, uns Sünder in einem richterlichen Akte allen Anfechtungen und Ueberfällen der höllischen Mächte Hülflos zu überlassen. Nun lehrt aber der Herr uns den Vater darum anflehn, daß er von diesem seinem Rechte abstehn, und mit solchem Gerichte uns gnädig verschonen wolle. Nimmermehr aber würde er uns zu solcher Bitte angeleitet haben, gölte es, Gott damit einen Akt reiner Willkür zuzumuthen. Das Gesuch, zu dem er uns ermuthigt, hat zu seiner Voraussetzung und zu seinem Grunde die große und geheimnißvolle Thatsache, daß er, Christus, sich selbst an unsrer Stelle von der richterlichen Gerechtigkeit Gottes allen Versuchungsflammen beistandslos überweisen ließ. - Kommt, Geliebte, und seien wir aufs neue Zeugen, wie der Herr Jesus die tiefe und unwandelbare Grundveste legt, auf welcher fußend wir jetzt unser: „Gib uns nicht hinein in die Versuchung!“ sprechen dürfen. Werden wir aber zugleich zu unserer Warnung an dem Exempel des verlorenen Jüngers uns bewußt, daß trotz der geleisteten Genugthuung Christi die Möglichkeit, von Gott richterlich in die Versuchung hingegeben zu werden, nach wie vor fortbestehe!

Matthäus, 26, 47. Marcus 14, 43. Joh. 18, 2-9.

Und alsbald, da er noch redete, siehe, da kam Judas, der Zwölfen einer, (da er zu sich genommen hatte die Schaar, und der Hohenpriester und Pharisäer Diener) und mit ihm eine große Schaar mit Schwertern und mit Stangen, mit Fackeln, und Lampen und mit Waffen, von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten und Aeltesten des Volks. Und Judas ging vor ihnen her. Als nun Jesus wußte Alles, was ihm begegnen sollte, ging er hinaus und sprach zu ihnen: Wen suchet ihr? Sie antworteten ihm: Jesum von Nazareth. Jesus spricht zu ihnen: Ich bin's! Judas aber, der ihn verrieth, stand auch bei ihnen. Als nun Jesus zu ihnen sprach: Ich bin's, wichen sie zurück, und fielen zu Boden. Da fragte er sie abermals: Wen suchet ihr? Sie aber sprachen: Jesum von Nazareth. Jesus antwortete: Ich habe es euch gesagt, daß ich es sei; suchet ihr denn mich, so lasset diese gehn, auf daß das Wort erfüllet wurde, welches er sagte: Ich habe derer keinen verloren, die du mir gegeben hast.

Aus seinem Seelenkampfe siegreich hervorgegangen, gürtet sich der göttliche Dulder, den Dornenpfad seiner leiblichen Trübsal anzutreten. Von vornherein haben wir nun festzuhalten, daß unter dem äußeren Leiden nicht nur das innere fortgeht, sondern jenes überhaupt nur als ein in die Erscheinung tretender Reflex ungleich wesentlicherer verborgener Zustände und Lagen aufzufassen ist. Seine Gefangennehmung, seine Abführung vor die Schranken des Gerichts, seine Verurtheilung durch den hohen Rath, sein Gang zum Blutgerüste u. s. w.; es sind nur symbolische Abschattungen unendlich erheblicherer Vorgänge, die hinter den Schleiern in dem Verhältnisse des Mittlers zu Gott, dem Richter der Lebendigen und der Todten sich ereignen. Wer aus diesem Gesichtspunkte die einzelnen Passionsscenen nicht anzuschauen versteht, durchdringt dieselben nicht, und wird sich in dem Irrgewinde der Leidensgeschichte nimmer zurecht zu finden wissen.

Wir treffen den Herrn heute seinen Verräthern und Häschern gegenüber, und sehen uns Anlaß geboten, zuerst die Opferbereitschaft des Sünderbürgen, dann die Majestät des Sohnes Gottes, und endlich die Treue des guten Hirten in Ihm anzubeten.

Neige der Geist der Wahrheit sich zu uns nieder, und deute er uns die Geheimschrift unseres Textes!

1.

Noch umgraut uns jene verhängnißvolle Nacht, von der für tausende der unseren noch heute gilt, was damals der Herr mit warnendem Ernste zu seinen Jüngern sagte: „In dieser Nacht werdet ihr euch alle an mir ärgern!“ Eben erst hat der Heiland sich vom Staube aufgerichtet, als schon wieder eine neue Schreckensscene sich vorbereitet. Ehe man sich's versieht, leuchten im düstern Buschwert des Thalgrundes Laternen und Fackeln auf, und, hinschleichend am Ufer des Kidrons, nähert sich, einer tückischen Riesenschlange gleich, eine mit Schwertern, Stangen und Knütteln bewaffnete Meutererbande. Was dieselbe im Schilde führt, wißt ihr. Die gewaltige Rüstung, in die sie sich geworfen, ist theils Maske nur, durch welche die Sache den Schein gewinnen soll, als fahnde man auf einen gefährlichen Empörer und Rebellen; theils verräth sich in ihr eine die Widersacher wirklich begleitende geheimnißvolle Furcht und Sorge, sie möchten am Ende doch, sie wissen selbst nicht, auf was für eine, unvorhergesehene Gegenwehr stoßen. Die beim Vollmondscheine so überflüssigen Fackeln und Laternen beleuchten ebenfalls nur die Gewissensschauer, von denen ihr Inneres erfüllt ist. Zugleich aber mochten die Feinde damit, wider ihre bessere Ueberzeugung, die erheuchelte Kundgebung bezwecken, es werde der zu Verhaftende als ein nunmehr wohl selbst an seiner Sache Verzagender, nur in Schlupfwinkeln und Verstecken aufzusuchen sein. Kaum je ging irgendwo mit so viel teuflischer Bosheit, Gemeinheit und Tücke so viel innere Geschlagenheit, Feigheit und Ohnmacht verpaart, als sie in dieser Mörder-Horde uns begegnet. Eine rechte Höllenbande ist's, mit der wir's hier zu thun haben; die Leibwacht des Satans! -

Lassen wir es uns nicht verdrießen, dieselbe etwas näher zu mustern. Zuerst erblicken wir hier die Priester, die Pfleger des Heiligthums. Was haben sie wider Jesum? Dies, daß er ihnen ihre stolzen Herrschersitze untergräbt, die angemaßte falsche Glorie ihnen abstreift, das Tyrannenzepter über die Gewissen des armen Volkes ihnen aus den Händen windet, ihre weichen Pfühle umstürzt, die Renten und Zehnten ihnen schmälert, und ihnen die Zumuthung macht, sich mit erlösungsbedürftigen Zöllnern und Sündern in gleiche Reihe zu stellen. Dieses Alles däuchte den hochmüthigen und herrschsüchtigen Mammonsdienern unerträglich, und eben daher ihre Erbitterung gegen den Herrn der Herrlichkeit; und daher auch der Haß unzähliger unserer Zeitgenossen gegen Jesum. Alle Christusfeindschaft ist bei Licht besehn nichts, als das sich Bäumen des Leviathans der stolzen, eigengerechten, dem Dienste der Welt ergebenen Menschennatur gegen ein Wort, welches Selbstverleugnung und Kreuzigung des Fleisches sammt Lüsten und Begierden an die Spitze seiner Forderungen stellt. - Neben den Priestern gewahren wir die Pharisäer, diese blinden Leiter der Blinden, die Repräsentanten der wahnwitzigen Einbildung auf eigenes Verdienst, und daher auch des Widerwillens gegen eine Lehre, die, wie sie jeden Menschen zum Delinquenten stempelt, nur eine Seligkeit aus Gnaden in Aussicht stellt, und auch dem Frömmsten als Gegenstand seines Rühmens vor Gott lediglich eine freigeschenkte, fremde Gerechtigkeit übrig läßt. Wie begreiflich, daß sich diese Menschen an einem Meister ärgerten, der die „Wiedergeburt“ zur Lebensbedingung für Alle erhob, und der, wie er in seine Fahne die Losung schrieb: „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er ihm dienen lasse, sondern daß er diene;“ so den Seinen eröffnete, er „heilige sich selbst für sie,“ und laut in die Welt hinaus rief: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!“ Doch gehn wir in uns selbst, und fragen uns, ob es, so lange der Geist unsere Finsterniß nicht erhellte, auch uns behage, daß wir Nichts sein sollen, die Gnade aber Alles? Ob es uns besser, als jenen Söhnen Gamaliels munde, unsere Rechtfertigung vor Gott ausschließlich auf das Blut des Lammes gegründet zu sehn, und wir uns darum von Natur an dem Friedensfürsten minder ärgern, als jene? - Ich zweifle, daß diese Frage sich zu unsern Gunsten entscheiden werde. Von Haus aus wohnt in uns Allen der Pharisäer. - In den Schriftgelehrten, welche in dritter Stelle die Rotte bilden, prägt sich neben der geistlichen Herrschsucht der Weisheitsdünkel aus. Was Wunder, daß sich auch diese unter den Verschworenen wider Jesum betreffen lassen? Ihnen, den eigentlichen Gelehrten des Volkes, wurde zugemuthet, sich wieder mit dem Volke auf die Schülerbank, und zwar zu den Füßen dieses Rabbi von Nazareth herabzulassen! Sie sollten dies, die Meister Israels, die angestaunt und bewundert zu des Volkes Häupten saßen! Wie hätte solch Ansinnen die eingebildeten Herren anders, als aufs äußerste entrüsten und empören können? Blieb aber nicht bis heute des Herrn Spruch in Kraft: „Den Klugen ist's verborgen;“ und nicht minder des Apostels: „Nicht viele Weise nach dem Fleische sind erwählt?“ Bei den Schriftgelehrten kam zu der allgemeinen Abneigung gegen Jesum, wie sie jedem von dem angestammten Dünkel noch nicht genesenen Menschenherzen eigen ist, noch der verhaltene Verdruß über die zahlreichen Niederlagen und Beschämungen hinzu, die sie, so oft sie mit Jesu anzubinden gewagt, Angesichts des Volks erlitten hatten. Wie siegreich hatte Er sie jedesmal aus dem Felde geschlagen! Wie die Verschmitzten in ihrer Klugheit erhascht! Wie mit denselben Schlingen, die sie Ihm gelegt, sie gefangen zu nehmen, sie dann öffentlich zur Schau zu stellen und im Triumphe aufzuführen gewußt! Dies aber war es eben, was sie Ihm nicht mehr vergeben konnten. Und nachdem ihnen die Waffen ihrer Sophistereien aus den Händen geschlagen waren, waren sie nicht zu geistig noch zu vornehm mehr, um nun auch diejenigen des gemeinsten Verraths und der rohsten Gewaltthat für angemessen und brauchbar zu erachten. O, spreche man uns doch nicht von einem „Geistesadel“ des natürlichen Menschen. Es gibt einen Preis, um den er, welcher Stufe verseinerter Sitte und Bildung er auch immer einzunehmen sich rühmt, auch diesen Ruhm unbedenklich losschlägt.-

Unter dem Befehle der genannten Rädelsführer gehn, minder schuldig zwar, jedoch nichts weniger als entschuldigt, die Rathsdiener, diese blinden Werkzeuge ihrer Oberen, und dann die aufgebotenen Söldlinge der römischen Tempelwache. Leuten dieser Klasse geziemt es zwar, dem Commandoworte ihrer Vorgesetzten unbedingt zu gehorchen; doch sind auch sie nicht unzurechnungsfähige Maschinen, sondern ebensowol, wie alle Andern, Gott, dem höchsten Richter, für ihr sittliches Verhalten verantwortliche Menschen, deren Gehorsam in dem bekannten: „Man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen,“ seine Begrenzung findet, und denen es darum in dem vorliegenden Falle obgelegen hätte, den Tod unter dem Henkerbeile dem zweideutigen Ruhme vorzuziehn, im ruchlosesten aller Mentale ihre Schuldigkeit gethan zu haben. Doch wissen sie zum größten Theile nicht, was sie thun. Verwerflicher, als sie, erscheint der verächtliche Troß derjenigen, die um Geld und Gunst freiwillig sich der Bande angeschlossen haben. Diese feigen Schmeichler und Menschenknechte, denen es ein Geringes ist, um einen Blick der Huld von hohem Gönnerauge zehnmal ihrem Gewissen in's Angesicht zu schlagen, erinnern uns an euch, ihr feilen Nachbeterschaaren in unsrer Mitte, die ihr, weil Dieser oder Jener, zu denen ihr in Abhängigkeitsverhältnissen steht, so oder so denkt, urtheilt und redet, auch nicht anders zu denken und zu reden euch untersteht, und die Niederträchtigkeit bis zu dem Punkte treibt, euer selbstständiges Urtheil selbst im Bereiche der höchsten Lebensinteressen um die schlechtesten Preise von der Welt zu veräußern. Wehe über euch, ihr unwürdiges Gesindel! Wäre nur eure Zahl auch unter uns nicht Legion! Die Meisten, die nicht glauben, treten mit ihrem Unglauben knechtisch nur fremden Meinungen nach, und haben in schmählicher Unterthänigkeit unter Fleisch und Blut, und um irgend eines erbärmlichen zeitlichen Vortheils willen, des herrlichen Vorrechts sich begeben, wenigstens da, wo es die ewigen Angelegenheiten gilt, mit eigenen Augen zu sehn, und frei nach Gottes Rath allein ihren Weg zu wählen. -

Doch einen Blick noch auf die Häscherrotte. Wer wandelt düstern Angesichtes und wirren Blicks an ihrer Spitze? Der Mann tief in den Mantel verhüllt, und mit dem Gepräge mehr einer erzwungenen als natürlichen Entschlossenheit in seiner Haltung, wer ist er? - Ach, wir erkennen ihn. Vor dieser Erscheinung erschauert uns das Herz, und will uns das Blut in den Adern gefrieren. Das „verlorene Kind“ ist's, von dem schon ein Jahrtausend zuvor geschrieben ward: „Der mein Brod isset, der tritt mich mit Füßen.“ Es ist der Mensch des Unheils, der seine Jesusjüngerschaft nur trägt, wie die giftige Natter ihre schillernde Haut. Der Heuchler, der in seinem Apostelamte steckt, wie ein mörderischer Dolch in vergoldeter Scheide. Die Sünde ist jetzt in ihm vollendet und das Verderben zu seiner Reife gediehen. Verbittert, verdüstert und verlogen bis auf seinen innersten Wesensgrund, haßt er Jesum jetzt, wie die Finsterniß das Licht haßt. Ueber den Zeitpunkt, da er noch gelassenern Sinnes mit Jesu hätte brechen, und dann, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, seine Straße ziehen können, ist er hinaus. Er hat jetzt einer dämonischen Empörung gegen Ihn als gegen sein anderes Gewissen in sich Raum gegeben. Er ist wider Ihn als gegen einen schonungslosen Richter entbrannt, durch dessen bloße Heiligkeit, Lauterkeit und Liebe Er sich schon in seiner eigenen Tücke, Heuchelei und Liebesleere verdammt fühlt. Peinlich beengt fand er sich länger schon in Jesu Nähe. Wie konnte es anders sein? Das Geflügel der Nacht erträgt das Licht der Sonne nicht. Bei dem bekannten Auftritte in Bethanien trat seine innere Verstimmung gegen Jesum in eine neue Entwicklungsstufe ein. Hier wurde ihm, wie ihr wißt, der letzte Zweifel benommen, daß er von dem Herrn durchschaut, und in seinen geheimen Frevlergängen erhascht sei. Statt aber diesen verhängnißvollen Moment zu seinem Heile auszubeuten, und seinen verderbten alten Menschen schonungslos dem Feuer eines aufrichtigen Selbstgerichtes zu übergeben, damit aus seiner Asche ein neuer aus Gott geborener Mensch erstehen könne, lieh er satanischen Einflüsterungen sein Ohr, und hoffte in unsäglichem Wahnwitz dadurch sich und seine Ehre retten zu können, daß er, statt dem heil. Geiste, dem Geiste des Grimmes und der Erbitterung sich überließ, und dem Manne tödtliche Rache schwur, der ihm doch Anderes nichts zu Leide gethan, als daß er ihm in's Herz gesehen hatte. Nein, mit der Begierde nach den dreißig Silberscherben mißt sich der Quell des Judasverraths nicht aus. Derselbe ist dämonischerer Natur, und will viel tiefer gesucht sein. Der unglückselige Jünger trank schon von dem Grimme, der die Verdammten in der Hölle stachelt, unablässig wider Den, der sie richtete, und welchem sie das Zeugniß geben müssen, daß alle seine Gerichte gerecht seien, Fluch und Lästerung zu schäumen. Ach, ein Funke von diesem Grimm findet sich überall in der menschlichen Natur als solcher. So oft der Herr Miene macht, mit der Fackel seiner Wahrheit in die Tiefe ihrer Finsterniß hinabzuleuchten, regt sich die verborgene Natter. Das natürliche Herz erträgt den Störer seines faulen Friedens nicht; und so muß denn der einige Seligmacher der Sünder von Denen selbst, die er zu retten kam, mit Grüßen sich bewillkommt hören, wie jener rebellischen Bürger Gruß: „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche,“ und wie der Gruß der Gergesener: „Gehe hin, und weiche von unsern Grenzen!“

Seht, so schaut aus der wider den Herrn der Herrlichkeit verschworenen Schaar ein Spiegelbild der Menschheit uns an, wie sie in ihrem innersten Kerne von Natur beschaffen ist. Wer in dem einen der Parteigänger jener Horde sich nicht wiederfindet, wird Züge seines Bildes in irgend einem andern entdecken. Ein so verderbtes Geschlecht aber hat die Seligkeit verwirkt und ist des Todes schuldig, oder das göttliche Gesetz müßte eine Lüge, und Gerechtigkeit und Gericht nicht die „Besten des Stuhles Gottes“ sein. Nichts ist aber in der Welt gewisser, als daß der Fluch auf unserm Scheitel ruht, und wir der Hölle verfallen sind, wenn uns nicht, auf Grund einer vorab geleisteten Genugthuung, Barmherzigkeit wiederfährt, und Gnade vor Recht zu Theil wird. Doch zur Stelle ist Er, der diese Genugthuung zu Stand und Wesen bringen wird. Kommt, und schauen wir Ihn an, und fallen anbetend und jubelnd in seine Arme! -

2.

„Stehet auf, lasset uns von hinnen gehn; siehe, der mich verräth, ist nahe!“ - Hört diesen nur Mich und Entschlossenheit athmenden Aufruf! Von wannen tönt er? Von denselben Lippen, von welchen eben erst das Noth- und Dranggebet: „Ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber,“ zum Himmel aufstieg. Dort schreitet er her, der herrliche Ueberwinder. Wie an Leib und Seele gestählt, geht er aus dem Feuer des Oelbergkampfes hervor. Aus seiner ganzen Haltung spricht nichts, als Klarheit, Ermannung und erhabene Ruhe. Sobald er inne geworden, wer den Gethsemaneskelch ihm reichte, hat er ihn mit unbedingter Willigkeit geleert, und weiß hinfort, daß, was Ihm noch an Schauern und Schrecken aufbehalten sei, ebensowol, wie der Gethsemanesbecher, den unerläßlichen Bedingungen hergehöre, an welche die Vollendung des großen Retterwerks geknüpft sei. Dieses Bewußtsein macht seinen Tritt auf der blutigen Marterstraße gewiß. Was irgend Arges ihm noch bevorsteht, erkennt er mit klarem Blicke als einen Ausfluß des väterlichen Rathschlusses. Er spricht das „Stehet auf und lasset uns von hinnen gehn,“ zunächst als ein beherztes „Wohlan!“ darin er den Jüngern die veränderte Gemüthslage zur Anschauung bringen will, in der er sich gegenwärtig befinde. Sodann aber richtet Er's an sie als einen Sammelruf; denn es liegt Ihm daran, daß sie bei seiner Verhaftung sämmtlich zugegen seien, damit sie nachmals der Welt als Augenzeugen verkünden könnten, wie ihr Meister nicht als ein Ueberwundener, sondern frei den Händen seiner Feinde sich überliefert habe.

Schaut, was sich begibt. Bevor noch die Häscherrotte ihn erreicht, wandelt er derselben mehrere Schritte fest entgegen, und anders, als unser Stammvater im Paradiese nach dem Fall, der auf das „Adam, wo bist du?“ Verstecke suchte, tritt er wie mit offnem Visir vor die Schaarwächter hin, und lichtet an sie die einfache, aber für die Meuterer tief beschämende, weil das Lügnerische ihres ganzen Verfahrens und namentlich ihres kriegerischen Aufwandes gegen Ihn enthüllende Frage: „Wen suchet ihr?“ Dieses „Wen,“ wie schlug es die Häscher! Es hätte heilwirkend für sie werden können, wenn sie demselben nur einen Augenblick besonnenen Nachdenkens hätten schenken wollen. Aber sie waren schon zu sehr darin geübt, Haken und Angeln dieser Gattung mit leichter Mühe zu verwinden; und schickte sich auch ihr Gewissen etwa an, Bescheid zu thun auf solche Frage, so verstanden sie's, dasselbe mit den Trommelwirbeln der lecksten Lug- und Trugsophismen zu betäuben. Doch die Welt sollte erfahren, daß der Herr nicht etwa nur aus Versehn, sondern absichtlich, weil er der Gerechte und Heilige in Israel war, zur Schlachtbank geführt worden sei; und auch aus diesem Grunde fragte der Heiland: „Wen suchet ihr?“ Die Antwort der Bande lautete bestimmt und klar: „Jesum von Nazareth!“ Hiemit war die Blutschuld der Schaar, ja der Menschheit, die durch jene vertreten ward, konstatirt. Freilich bezeichneten die Verräther den Herrn listig genug mit einem Titel, der ihnen, wäre er der einzige gewesen, unter welchem sie Jesum kannten, wenigstens einen Schein von Berechtigung dazu geliehen hätten, Ihn für einen falschen Propheten zu halten, und als einen solchen ihn zu ergreifen; indem ja Nazareth allerdings der Ort nicht war, von wannen die Prophezeihung den Messias kommen ließ. Aber gar wohl kannten sie Ihn auch als den Sprößling des Stammes Davids von Bethlehem, auf welchen Micha, und als den Friedenstönig, auf welchen Sacharja hingedeutet hatte. Dadurch aber, daß sie über dieses ihr besseres Bewußtsein vorsätzlich den Schleier der Selbstbelügung warfen, steigerten, ja vollendeten sie ihr Verbrechen. Es machen's die heutigen Christusfeinde nicht viel anders, als ihre jüdischen Vorgänger. Auch sie schlagen sich mit Absicht alles das aus dem Sinne, was ihre Opposition gegen den Herrn der Herrlichkeit etwa lähmen könnte. Sie schließen vor der prophetischen Signatur, die auch sie auf Jesu Stirne nicht verkennen können, so wie vor der glorreichen Siegsgeschichte seines Reichs geflissentlich die Augen, und gebehrden sich, als träte Er eben erst aus Nazareth hervor, und hätte zum Erweise seiner Gottmenschheit kein weiteres Zeugniß, als nur sein eigenes, oder seiner Jünger Wort. - Trotz dieses ihres großartig leichtfertigen und lügnerischen Verfahrens aber fehlt's ihnen doch an einem windigen Trosse nicht, der ihnen treugehorsamst nachtritt und in unzähligen Fällen nicht ahnt, daß der dem Geiste nach wieder auferstandene Judas an ihrer Spitze geht, und sie commandirt und leitet. Nachdem die Häscher mit ihrem „Jesum von Nazareth“ ihre Absicht zu Tage gegeben, spricht der Herr mit der erhabenen Ruhe des göttlichen Mittlers, der nicht allein, wie die Geschichte meldet, „Alles wußte, was ihm begegnen sollte,“ sondern auch des Grundes, des Ausgangs, und des letzten Ergebnisses von diesem Allen sich klar bewußt war: „Ich bin es!“ -

Großes, bedeutungsvolles Wort! So oft es ertönte, ging es mit der gewaltigsten Wirkung verpaart. „Ich bin's!“ rief er, auf den Meereswögen wandelnd, seinen bestürzten Jüngern zu, und wie auf diesen Laut der tobende Seesturm augenblicklich verstummte, so ergoß sich alsobald ein Strom des Friedens und der Freude in die Herzen der selig Ueberraschten. „Ich bin's!“ sprach Er zu der Samariterin beim Jacobsbrunnen, und sofort ließ das Weib ihren Wassereimer stehn, und eilte als die erste Evangelistin in der Samariter Grenzen zurück nach Sichem. „Ich bin's!“ bezeugte Er, wie wir später vernehmen werden, vor den Schranken des hohen Rathes, und das Bewußtsein, daß Er es wirklich sei, schlug im Innern seiner Richter so mächtig durch, daß sich der Hohepriester nur vermittelst des Bühnenstreichs seiner Kleiderzerfetzung aus der peinvollsten Verlegenheit zu retten wußte. Und was begibt sich auf sein: „Ich bin's!“ an unserm Orte? Die Schergenrotte, wie sie's vernimmt, stutzt, wankt, taumelt zurück, und sinkt wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen, ja wie von einem Allmachtshauche umgeblasen, sofort zu Boden. Was so gewaltig sie ergriff, war unleugbar schon der tiefe Eindruck der Heiligkeit und Unschuld Jesu, von dem sie in diesem Momente überwältigt wurden. Das eben so majestätische, als schlichte „Ich bin's!“ rief das gewaltsam niedergehaltene Bewußtsein von Seiner übermenschlichen Herrlichkeit mit voller Stärke wieder in ihnen hervor. Doch hätte diese geistige Erschütterung allein wol nicht vermocht, die Rotte Mann für Mann wie durch einen Zauberschlag auch leiblich in den Staub zu strecken, wenn nicht mit dem „Ich bin's!“ zugleich ein Akt göttlicher Allmacht verpaart gegangen wäre. Der Herr schlug die Horde nieder, theils um damit in eindringlichster Weise ihr karges „Jesum von Nazareth“ zur Lüge zu stempeln, und dem absichtlich zurückgedrängten hohem Wissen von Ihm in ihrem Jüngern wieder Raum zu schaffen; theils, um der Welt auch ein tatsächliches Zeugniß zu hinterlassen, daß er nicht aus Nöthigung und Ohnmacht, sondern in Folge freiester Entschließung ein Opfer für sie geworden sei. Da liegen sie zu seinen Füßen, die vermessenen Meuterer, von einem Klange seiner Lippen hingeschmettert. Und was hätte Ihn jetzt gehindert, triumphirend über ihre Hälse einherzuschreiten, und, nachdem er sie bleibend an den Boden festgebannt, unversehrt und ungefährdet davon zu gehn? Aber Er bezweckt nichts, als eine Kundgebung seiner Majestät und seiner Unabhängigkeit von aller Kreatur; und nachdem er diese Absicht glänzend erreicht, vergönnt er den Niedergeworfenen, sich wieder zu erheben. Wie sie aber dort im Staube liegen, bezeichnen sie euch Kindern des Unglaubens die Lage, in der man einst euch alle erblicken wird. Die Huldigung, die ihr hienieden dem Herrn versagtet, wird Er sich zu seiner Zeit schon zu erzwingen wissen. Das Knie, das ihr mit freier Liebe Ihm nicht beugen wolltet, wird einst die Schauer der Verzweiflung zum Staube nöthigen. Dreimal wehe euch, wird der Herr auch dann noch als die Widerstrebenden euch finden, wann nicht mehr Palmzweig und Hirtenstab, sondern Richtschwert und Wage die Embleme Seiner Erscheinung bilden werden. Von dem Zittern und Zagen, welches euch dann beim Klange seines „Ich bin's!“ ergreifen wird, gibt es kein Wiederaufkommen und kein Erholen mehr. Glaubt Ihm darum, daß Er es ist, so lange sein „Ich bin's“ mit der Betonung der lockenden Liebe euch noch antönt. Wollt ihr's Ihm auf sein bloßes Wort nicht glauben, glaubt's um des gewaltigen Insiegels willen, das Er diesen! Worte selber aufgedrückt. O, reichtet ihr Ihm nur einmal, daß ich menschlich rede, auf Probe eure Hand, wie bald erklänge als Wiederhall seines „Ich bin's!“ ein seliges „Fürwahr! du bist es!“ durch euer Inneres. Bestürzung würfe dann wol auch euch zu Boden, aber Bestürzung darüber nur, daß ihr erst jetzt, daß ihr so spät, daß ihr nicht schon von euerm ersten Athemzuge an euch Ihm ergäbet.

„Wen suchet ihr?“ „Ich bin's!“ - Brüder, es ist uns gestattet, das eine wie das andere dieser beiden Jesusworte in dem umfassendsten Sinne auszudeuten. Wen oder was euer verborgenstes Herzensbedürfniß immer suchen mag: Er ist's. Ergreifet Ihn, und ihr seid am Ziele. Sucht ihr einen Mittler, der euch vor Gott vertrete, einen Friedensfürsten, der den Sturm bedräue in eurer Brust, einen Freund, dessen Gemeinschaft jede andre euch entbehrlich mache, oder einen verlässigen Steuermann am Ruder eurer Lebensbarke: „Ich bin's!“ ruft du Mann von Nazareth, und ist bereit, seine Versicherung mit der That zu besiegeln. Und Er ist mehr noch, als jenes Alles. Wird gefragt, wer jeder Noth die Bitterkeit, der Sünde die Macht, der Hölle den Sieg, dem Tode den Stachel raube: „Ich bin es!“ spricht Er, und durch achtzehn Jahrhunderte hindurch antwortet das Zeugniß Millionen Heiliger: „Du bist's, und ist außer dir kein Heiland!“ In diesem Chore fehle auch unsre Stimme nicht. Winden wir uns aus der heillosen Umgarnung eines ungläubigen Zeitgeistes heraus! Bedarf es doch kaum etwas mehr, als eines unbefangenen Blicks auf den Davidssohn, wie Er im Evangelium seine Herrlichkeit entfaltet, und man wird, wenn das Herz nur an einer Stelle noch für göttliche Größe empfänglich ist, sich unwiderstehlich gedrungen fühlen, mit einem anbetenden „Du bist es“ zu seinen Füßen hinzusinken.

3.

Nachdem sich die Schaar mit Jesu Genehmigung wieder erhoben hat, richtet Er aufs neue an sie die Frage: „Wen suchet ihr?“ Diesmal begleitete dieselbe eine zermalmende Ironie. Wie wenn Einer, den man etwa für einen Landstreicher gehalten, und als Solchen verhaftet hätte, vor seinen Häschern plötzlich den königlichen Stern auf seiner Brust enthüllte, und gelassen zu diesen spräche: „Auf wen fahndet ihr?“ ähnlich hat sich's mit dem „Wen suchet ihr?“ des Herrn. Hier ist nur mehr, als ein menschlicher König. Die Meuterer sind's eben zu seinen Füßen gewahr geworden. So verwandelt sich das wiederholte „Wen suchet ihr?“ jetzt in gallenbittern Spott für sie; denn welche Thorheit, daß ein Strohhalm an einem Feuer, ein Funke an einer Meeresbrandung sich zu vergreifen wagt! - Ich sehe, wie sie den Stachel der erneuerten Frage in ihrem Gewissen fühlen. Sie stehen beschämt. Der Richter ihres Herzens verurtheilt sie als Ruchlose und zugleich als Narren. Nichtsdestoweniger bringen sie's fertig, den Eindruck der Wahrheit abermals in sich zu überwinden, und geben, diesmal mechanisch nur, wie eine ausgetheilte Parole, dieselbe Antwort: „Jesum von Nazareth.“ Das erste Mal trat dieses „Jesum von Nazareth“ noch mit dem Accente einer gewissen kriegerischen Barschheit und Keckheit auf; jetzt kommt es kleinlaut und betonungslos heraus, und zeugt von einer innern Geschlagenheit, die erst wieder einem gewissen Trotze Raum gibt, nachdem der Herr sich frei ihren Händen überantwortet hat. „Ich habe es euch gesagt,“ fährt Jesus fort, „daß ich es sei; suchet ihr denn mich, so lasset diese gehn.“ Hört diese süßen und verheißungsvollen Laute. O, wie der Heiland in allen seinen Ständen, auch den schreckensvollsten, die vollkommenste Klarheit sich zu bewahren, und mit der Sorge um die Vollendung des ihm übertragenen Erlösungswerkes im Großen und Ganzen, überall auch diejenige für das Ihm anvertraute Einzelne und Geringe zu vereinen wußte! Während er zu seinem verhängnißvollen Opfergange sich gürtet, vergißt er in seiner anbetungswürdigen Hirtentreue nicht, vorab seine Jünger vor den bevorstehenden Anfechtungsstürmen zu bergen. „Suchet ihr mich,“ spricht er, „so lasset diese gehn;“ legt aber in dieses Wort zugleich, wie dies seine Gewohnheit ist, einen über dessen nächste Bedeutung weit hinausreichenden großen Allgemeinsinn. In Demjenigen, was er zu Gunsten seiner Elfe hier beansprucht, spiegelt sich der Segen für eine Welt. Nichtsdestoweniger verfährt unser Evangelist ganz richtig, wenn er jenen Ausspruch in erster Reihe den Aposteln zueignet, und ihn mit dem Zusatz begleitet: „Auf daß das Wort erfüllet würde, welches er sagte: Ich habe derer keinen verloren, die du mir gegeben hast.“ In seinem hohepriesterlichen Gebete Joh. 17, 12 sprach der Herr dieses Wort; nur fügte er dort mit tiefem Weh hinzu: „Ohne das verlorne Kind, auf daß die Schrift erfüllet würde“; ein Wort, das der Evangelist, wir begreifen, aus welchen Gründen, an unserm Orte übergeht. Nicht Mitleid nur hält ihn ab, das Verdammungsurtheil über den Armen, den er uns hier persönlich vorführt, zu wiederholen, sondern zugleich eine zarte, in tiefer Wehmuth wurzelnde Sorge, es möchte den Schein gewinnen, als wolle er, der Berichterstatter, über den beklagenswerthen Mitapostel selbstgefällig sich erheben, während er sich doch mit aufrichtiger Zerknirschung tief und klar bewußt ist, wie sein Herz nicht minder, als Judä Herz, von Natur zu allem Bösen geneigt sei, und er es lediglich der bewahrenden Gnade zu danken habe, daß er nicht selber zum Verräther wurde.

„Suchet ihr mich, so lasset diese gehn.“ Treffend und wahr bemerkt bei diesen Worten ein Schriftausleger, es habe einen Grund seiner Schicklichkeit gehabt, daß Jesus nicht gesprochen: „Meine Anhänger“, oder „meine Jünger“, sondern nur so unbestimmt, jedoch hindeutend auf dieselben: „Diese“. Denn wo er sie mit den erstern Namen bezeichnet hätte, so würde dies für Leute, wie diejenigen, aus welchen die Schaar bestand, soviel geheißen haben, als „meine Parteigenossen“, und zwar in einem Sinne, dem er Vorschub zu thun sich hüten mußte. In der Bedeutung, in der die Welt es zu verstehen pflegt, war der Herr kein Parteihaupt, und wollte auch den leisesten Schein vermeiden, als ob er ein solches wäre. Uebrigens bedurfte es zur Bergung seiner Jünger nur jenes einfachen, aber mit Nachdruck ausgesprochenen „Lasset diese gehn!“ Nicht Bitte war dieses Wort, sondern königlicher Befehl; zugleich aber Wink für die Jünger selbst, was jetzt zu thun sei. Es war Signal zu einem einstweiligen Rückzug für sie von seinen Marterstätten. Wäre nur Simon Petrus auch diesem treuen Hirtenworte gefolgt! Die Armen waren ja dem Anfechtungssturme, der jetzt hereinbrach, noch nicht gewachsen. Mehr oder minder würden sie sicher alle, ob auch vorübergehend nur, am Glauben Schiffbruch gelitten haben, wenn sie dem Meister auf seinen fernem Erniedrigungsgängen hätten folgen wollen; der Gefahren, die außerdem ihre Freiheit, ja ihr Leben bedroht haben würden, nicht zu gedenken. Angebetet sei darum die fürsorgliche Umsicht und bewundrungswürdige Besonnenheit und Ruhe, mit der wir den Herrn in einem Momente, in welchem der trefflichste der Menschen nicht mehr Raum gefunden haben würde, an etwas Anderes, als an sich selbst zu denken, die Wohlfahrt und das Heil der Seinen auf dem Herzen tragen, und so mütterlich vor dem nahenden Orkane sie sicher stellen sehen. Uebersehn wir aber auch nicht den reichen Trostesinhalt, der in jenem Zuge für die Gläubigen aller Zeiten insgemein beschlossen ruht. Das „Suchet ihr mich, so lasset diese gehn“ bat der Herr für uns auch noch zu andern Rotten, als zu denen dort gesprochen. Er sprach's nach dem tieferen Allgemeinsinn seiner Rede auch zu Hölle, Tod und Teufel; und Ihn haben sie wirklich gesucht, erfaßt, darnieder gestreckt. Aber denen zu Gut, die des Glaubens an Ihn sind, haben sie an Ihm ihre Macht für immer erschöpft, und ihren Stachel in Ihm zurückgelassen. Und sofern uns die feindlichen Gewalten heute irgend etwas mehr noch wollen, als uns sichten, prüfen, oder läutern, zieht ihnen das „Lasset diese gehn“ eine unübersteigliche Schranke. Verderben können sie uns, die wir in Christo sind, nun ewig nicht mehr. An jenem von einer vollgültigen Genugthuung getragenen: „Lasset diese gehen“ haben wir einen Freibrief, der uns bis in das himmlische Jerusalem hinüber ein sicheres Geleite verbürgt. Halten wir darum dieses Dokument in Ehren; denn das Siegel Gottes strahlt uns daraus entgegen.

Wohl uns denn bei dem Bräutigam unserer Seelen! Wir haben nicht blos Alles an ihm, was wir bedürfen, sondern überschwänglich mehr noch, als die Nothdurft erfordert. Selig die kühn und herzhaft Glaubenden! Sobald wir unter Jesu Flügeln geborgen ruhn, liegt das Reich der Sorgen hinter uns, und nichts kann uns die Berechtigung mehr streitig machen, in den alten Sang tief innerer Befriedigung einzustimmen:

Hab ich Dich in meinem Herzen,
Brunnen aller Gütigkeit,
So empfind ich keine Schmerzen
Selbst im letzten Kampf und Streit!
Ich verberge mich in Dich:
Kein Feind kann verletzen mich.
Wer sich birgt in Deine Wunden,
Der hat glücklich überwunden. Amen. -

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