Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die kleine Gefährtenschaft

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die kleine Gefährtenschaft

Luc. 13, 23. 24.
Es sprach aber Einer zu ihm: Herr, meinest Du, daß Wenige selig werden? Er aber sprach zu ihnen: Ringet, daß ihr durch die enge Pforte eingeht; denn Viele, das sage ich euch, werden trachten, hinein zu kommen, und werden es nicht können.

Nicht wahr, Geliebte, der Nachfolger Jesu, den die Scene, vor der wir steh'n, uns vorführt, kommt uns eben recht? Die Frage, die er an den Herrn richtet, gewährt ihm einen Anspruch auf unsern Dank. Uns nimmt er .sie vom Herzen; denn wo ist der Gottespilger, der nicht schon einmal durch dieselbe Wahrnehmung in Bestürzung versetzt worden wäre, die jenen Jünger so tief erschütterte, ja ihm den kaum gewonnenen Glauben wieder zu rauben drohte. Bemerkenswerth ist es auch, daß nach dem Bericht unsres Evangelisten der Herr nicht ihm, dem Einzelnen, sondern „ihnen“, also einer Mehrheit Antwort ertheilte; und unter letzterer dürfen gewiß auch wir, die späten Doppelgänger jenes Fragestellers, uns mit einbegreifen. - „Aber von welcher Wahrnehmung redest du?“ - Solltet ihr das nicht schon errathen haben? Von ihr denn zuerst ein Wort, und dann von dem, was dieser Wahrnehmung wenigstens die glaubenserschütternde Macht zu benehmen im Stande ist!

Segne der Herr unsere Betrachtung, und lasse Er dieselbe den Sichern unter uns zur Weckung, den bereits vom Todesschlaf Erwachten zur Befreiung von allen unnöthigen Zweifeln gereichen!

I.

Wir treffen den Herrn auf einer Predigtwanderung durch's Land begriffen. Von Stadt zu Stadt, von Markt zu Markt verkündet Er das in Ihm der Sündenwelt erschienene Heil, und Wunder der Barmherzigkeit und Liebe bezeichnen überall wie strahlende Trophäen seine Straße. Das Volk strömt in Schaaren herzu, und staunt seine Worte, wie seine Thaten an. Aber wie viel Enthusiasmus sich auch kund gibt, so ist derselbe doch in den mehrsten Fällen nur ein Flackerfeuer, das bald erlischt, und tiefer gehende Bewegungen, nachhaltigere Eindrücke machen sich selten nur bemerkbar. Das Haustein der wahren Jünger mehrt sich spärlich. Wenn der Herr einen Ort, den Er mit seiner Gegenwart beglückte, wieder verlassen hat, so findet Er sich in der Regel mit seinen Vertrauten wieder allein, oder doch konnte Einer und der Andere, von der Anziehungskraft seiner Huld und Gnade überwältigt, nicht widerstehen, Ihm weiter nachzufolgen, ja, seinen Freunden sich anzuschließen. Solch ein gründlicher angefaßter, und von einem schon tieferen, wenn auch nur erst halb verstandenen, Bedürfniß Ihm zugeführter war ohne Zweifel auch der Mann, den wir heute mit seiner allerdings sehr belangreichen Frage an Ihn herantreten sehen. Auch er will's fortan mit Jesu halten; auch er zur Fahne seines Reiches schwören. Aber wie er sich nun umsieht, ach, wie gering erscheint ihm da die Fahl derjenigen, die zu gleichem Schritte entschlossen sind! Das Volk in seiner überwiegenden Mehrheit mag Ihn als den Retter seiner Seele, als seinen Seligmacher nicht. Diese Wahrnehmung erschreckt den Jünger in nicht geringem Grade, und sein Glaube fängt schon an zu wanken. „Wie“, denkt er, „das ganze Volk, die Hunderttausende alle, sollten ewig verloren sein, und allein ich, und die Handvoll Gläubiger, denen ich mich beigeselle, würden selig? Ist dies denkbar? Gibt's nicht am Ende doch noch andere Wege, die neben dem schmalen, den Er als den einzigen Lebenspfad bezeichnet, zur Seligkeit führen? Hat Er nicht vielleicht doch den Mund zu voll genommen, da Er „die Thor“, „den Weg“ sich nannte, und hätte Er sich nicht richtiger als einen Weg, als eine Thür zum Himmel angekündigt?“ - Er denkt's; und tief beunruhigt, ja nicht mehr völlig gewiß, ob er nicht zu hoch von Jesu gehalten, wendet er sich, - und daran thut er wohl, - an Ihn, den Herrn selbst, und spricht: „Herr meinest du, daß nur Wenige selig werden?“

Schon Manchem erging's, wie dem Menschen in unserem Evangelium. Ja, jeder Christ, der je mit dem Christenthum Ernst gemacht, hat wohl schon gleiche Bedenken in sich aufsteigen gefühlt, und mit ähnlichen Zweifeln den Kampf zu bestehen gehabt. Man rang sich zum Glauben an Christum durch, und ist im Genusse seines Friedens selig. Siehe, da erhält dieser Friede den ersten Stoß, und zwar eben durch dieselbe Wahrnehmung, die jenen angehenden Reichsgenossen so tief erschütterte. Der Gottespilger späht nach Wallfahrtsgefährten. Er schmachtet nach der Gemeinschaft gleichgesinnter Brüder. Aber wo findet er sie? Er ruft den Namen Jesu in den Wald seiner Umgebungen hinein; aber Alles stumm; rings umher nirgend ein zustimmend Echo! Er erzählt dem Einen und dem Andern von dem großen Heil, das ihm widerfahren sei. Aber die Leute sehen ihn bedenklich an, als hätten sie es mit einem Sinnverwirrten zu thun, oder belächeln ihn als einen Träumer und Phantasten, oder schelten ihn einen Frömmler und Pharisäer. Beklommenen Herzens sieht er sich weiter forschend um; aber da ist Niemand, der seine Richtung und Gesinnung theilte. Die bei weitem Mehrsten dienen der Welt, und kennen nur zeitliche Interessen, gemeinere oder edlere; und die Besten unter ihnen verlassen sich auf ihre Tugenden, und nebenher noch zur Noth auf eine „allgemeine, göttliche Barmherzigkeit“, von der sie träumen; nicht aber auf Christi Blut und Gerechtigkeit, und seine priesterliche Vertretung. Ja, je nachdem der arme Mann an diesem oder jenem geistlich verödeten Orte lebt, sieht er sich mit seinem Glauben wohl ganz vereinsamt; oder es gelingt ihm nach langem Suchen endlich doch, irgend wo, und wahrscheinlich in einer entlegenen Hütte, in den Kreisen der Geringen und Verachteten des Volks, ein paar Leutlein zu entdecken, die mit ihm auf demselben Grunde der Hoffnung stehn, und warme Bruderhände ihm entgegenstrecken. Nun soll er aber dafür halten, daß, an dem Orte wenigstens, wo er wohnt, das ganze Gottesreich allein aus ihm, und den drei oder vier unansehnlichen Personen bestehe, die ihm, wie hinter den Zäunen, dort begegnet sind, und daß alle Uebrigen um ihn her, viele Tausende vielleicht, draußen wandeln, und weder Theil noch Anfall an dem Reiche Gottes und seinen Gütern haben! Wie vermag er das? - Allerdings tönt ihm das apostolische Wort ins Ohr: „Sehet an, lieben Brüder, euern Beruf: Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Gewaltige, nicht viele Edle sind berufen; sondern was thöricht ist vor der Welt, und was schwach, und das Unedle vor der Welt, und das Verachtete, ja, das nichts ist, das hat Gott erwählet, auf daß er zu Schanden mache, was weise, stark, und etwas ist.“ - Aber wenn nur die Zahl dieser „Auserwählten“ eine größere wäre! Sie ist aber gar zu winzig, gar zu unbedeutend! So befreit ihn denn auch jener Apostelspruch nicht von dem beunruhigenden Scrupel, ob in der That nur die überaus geringe Minorität, zu welcher er gehöre, selig werde, und die unübersehbare Masse um ihn her, die seinen Weg nicht geht, unter dem Banne liege. Er durchblättert die Heilige Schrift, forschend, ob die Pforte zum Himmel am Ende doch nicht um ein gut Theil weiter sei, als er sie sich vorgestellt. Aber was liest er? „Wer nicht glaubet an den Sohn Gottes, wird verdammet werden;“ - „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, Niemand kommt zum Vater, denn durch mich;“ - „es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen;“ - „wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein;“ - „nur welche der Geist Gottes treibet, die sind Gottes Kinder;“ - „es ist in keinem Andern das Heil, und ist den Menschen kein anderer Name gegeben, darin sie mögen selig werden“, als der Christusname.

Diese, und unzählige andere Sprüche, die dasselbe besagen, begegnen ihm, wohin er im Worte des Lebens die Blicke wendet. Und wie Viele finden sich derer nun in der Welt, die der Geist Gottes treibt, die an den Namen Christi glauben, und gläubig in seiner Gemeinschaft leben? Ach, wie Tropfen im Meer verschwinden sie in der großen Menschenmenge, die ihn umwogt, und von Hunderten scheint oft kaum Einer zu Grabe zu gehen, dem mit Wahrheit nachgerufen werden könnte: „Du hast einen guten Kampf gekämpft und Glauben gehalten, und bist in dem Herrn selig entschlafen!“ - Freilich muß der Pilger auch von sich selbst bekennen: „Nicht, daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei!“ Er demüthigt sich tief, und erhebt sich über Niemanden. Aber Eines ist er sich doch bewußt, nemlich, daß er blind war, und nun sehend sei; todt, und nun ein neues Leben lebe. Erbrach entschieden mit der Sünde, hofft von ganzem Herzen auf Christum und dessen Gnade, und weiß sich wenigstens in der Zahl der Mühseligen und Beladenen, die zu Ihm kommen, und denen Er Erquickung verheißen hat. Ja, sich weiß er unter diesen, und noch ein Häuflein Gleichgesinnter da und dort, und mit ihnen darf er also der Versicherung des Evangeliums gemäß des Himmelserbes sich getrösten, das Christus denen, die ihn lieben, bereitet hat. Und die Uebrigen, die Millionen, unter denen doch so viele Rechtschaffene, Liebenswürdige, Wohlthäter, ja Muster der Berufstreue, diese alle trotz ihrer sittlichen Vortrefflichkeiten verloren? Und warum verloren? Blos darum, weil sie nicht in der Glaubensvereinigung mit Christo erfunden werden? Nach der Schrift muß er also urtheilen; er ist dazu durchaus genöthigt. Und doch vermag er sich in diesen entsetzlichen Gedanken nicht zu finden. Ein Sturm der Anfechtung durchbraust sein Inneres. Schon taucht wie ein finsteres Phantom, das seinem ganzen Christenthum den Umsturz droht, die Frage in ihm auf, ob auch der heiligen Schrift, ja dem Herrn Christus selbst überall und bei allen Aussagen unbedingt auf's Wort zu glauben sei. - Tief beängstigt ist seine Seele, schwer umdunkelt sein Geist, bedenklich erschüttert schon sein Glaube; und so steht er auf demselben Punkte, auf welchem uns der Jünger in unserm Evangelium begegnet, da er an den Meister mit der Frage herantritt: „Herr, meinest du, daß nur Wenige selig werden?“

2.

Aber wie verhält sich's denn? - Ob denn wirklich wohl mit unversehrtem Glauben über die so tief erschütternde Wahrnehmung hinwegzukommen ist, daß so Wenige nur den Weg gehen, den die Schrift als den einzigen zum Himmel bezeichnet, und daß somit schriftgemäß von der überwiegenden Mehrzahl der Menschen sogar innerhalb der Christenheit vermuthet werden muß, daß sie nicht selig werden? - Ich denke, ja! Allerdings wird es nicht zu verhüten sein, daß dieser Umstand manche Wiedersehenshoffnung uns erschüttere, und Vieles von dem Trost und der Freude uns raube, womit wir bisher in die uns umgebende Welt hinausgeschaut. Aber die glaubenserschütternde Macht desselben werden wir schon an dem Ausspruch des Herrn, der uns in unserm Texte vorliegt, und vollends an einigen Betrachtungen scheitern sehen, die wir mit einander anzustellen haben.

Hören wir zuerst den Herrn, den König der Wahrheit! Die Antwort, die er dem fragenden Jünger ertheilt, ist zwar keine directe, aber eine um so weisere, keine den Erwartungen und Wünschen des Fragenden entsprechende, aber eine um so heilsamere für ihn. „Ringet danach“, hebt er an, „daß ihr durch die enge Pforte eingeht!“ Was Er damit sagen will, liegt auf der Hand. „Was haltet ihr euch“, - dies der Sinn seiner Worte, - „in müßiger Empfindsamkeit mit euern Betrachtungen bei den Zuständen und dem zukünftigen Loose Andrer auf? Sehe doch ein Jeder mit ganzem Ernste zu, wie er selber selig werde!“ - Mit Absicht bedient sich der Herr des Ausdrucks: „Ringet, daß ihr durch die enge Pforte eingeht!“ Er will es auf's nachdrücklichste wiederholen und neu bestätigen, daß die Pforte allerdings eine enge, und der Weg der Buße und der Bekehrung zu Ihm in der That der einzige sei, auf dem man in's Himmelreich gelange. Also ganz gewiß ist sich der Herr, daß alle Seligkeit der Sünder durch die Gemeinschaft mit Ihm bedingt ist. Daß aber dies Ihm selbst so außer allem Zweifel steht, und Er es mit stärkster Betonung immer auf's neue betheuert, das muß ja auch auf unsern Glauben an den evangelischen Heilsweg als an den einzigen einen Einfluß üben, der ihn vor jedem Anfechtungssturme sicher stellt. „Aber wußte der Herr auch“, wendet ihr ein, „daß nur so Wenige diesen Weg betreten würden?“ - Wohl war Ihm das bewußt. Hört Ihn! Er spricht: „Es werden Viele, das sage Ich euch, darnach trachten, hinein zu kommen, (nemlich in das Himmelreich,) und werden es nicht können.“ „Das ist ein erschütterndes Wort!“ - Freilich ja; aber es erschüttert nicht den Glauben, sondern nur den Leichtsinn, die falsche Sorglosigkeit und die fleischliche Sicherheit. Allerdings sieht der Herr im vorschauenden Geiste nicht blos Ruchlose, Verstockte, und ganz dem Materialismus Verfallene, sondern auch nicht wenige Solcher das Ziel der ewigen Seligkeit verfehlen, welche sich um die Erwerbung der letzteren ernstlich bemühen werden. Und warum sieht Er auch diese verloren gehen? Es liegt zu Tage: aus keinem andern Grunde, als weil auch sie die Heilsordnung umgingen, die Gott in seinem Worte allen Sterblichen vorgezeichnet hat, und welche eine wesentlich andere ist, als die selbsterwählte Straße eigener Tugendübung und Werkheiligkeit, auf der sie die Krone des Lebens zu erlangen vermeinen. „Aber das ist nichts weniger, als tröstlich!“ - Nein, tröstlich ist es nicht, aber wahr muß es sein, weil Der es bezeugt, der von sich sagen durfte: „Ich bin die Wahrheit.“ Ist Christus eine Autorität, und sein Wort entscheidend, - und ich denke ja, daß es das ist, - dann ist es ausgemacht und über jeden Zweifel erhoben, daß es nur Einen Weg in's Vaterhaus und zum ewigen Leben gibt, gleichviel, ob Viele denselben wandeln, oder nur Wenige. -

„Also wirklich? - Mein Gott! wie Viele bleiben dann von der ewigen Seligkeit ausgeschlossen, da ja notorisch so Wenige nur zu Christo sich halten! - Ist denn denen, die sich über diesen Umstand nicht zur Ruhe geben können, gar nichts Tröstliches zu sagen, nichts, was ihre Bestürzung mildere?“ - O, ja. Geliebte! Vernehmet nur, und beherziget es! . Zuvörderst erinnert euch, daß Gott „keinen Gefallen hat am Tode des Gottlosen“, sondern „will, daß sich der Sünder bekehre und allen Menschen geholfen werde,“ und daß Gott auch dazu thue, indem Er Alle berufe und sich an Keinem unbezeuget lasse. Aber sie wollen seinem Ruf nicht folgen, sondern verschließen der Stimme des Herrn ihr Ohr. Was kann nun Gott dafür, daß sie verloren gehen? Wird es euern Glauben an die Wohlthätigkeit einer Stadt erschüttern können, wenn in dieser Hunderte verhungern, weil sie zu stolz sind, um von dargereichtem Almosen ihr Leben zu fristen, und wenn darum eine Handvoll nur von der Freigebigkeit der städtischen Armenverwaltung Gebrauch macht? - Gewiß nicht! Ihr beginget wenigstens eine große Thorheit, wenn ihr euch dadurch an der Mildigkeit des Ortes irre machen ließet. Aber einer noch viel größeren Thorheit würdet ihr euch schuldig machen, wolltet ihr von dem Unglauben der Welt einen Anlaß nehmen, an Gott und der Wahrhaftigkeit seines Wortes irre zu werden. Und warum wolltet ihr irre werden an Christo? Hat man etwa jetzt wirklich in der Welt die Entdeckung gemacht, daß Er der nicht sei, für den Er bisher gehalten worden: der Herr vom Himmel, der König der Wahrheit, der Heiland der Welt? Mir ist von solcher Entdeckung noch nichts kund geworden. O, horcht euch nur einmal mit Fleiß unter den Ungläubigen da draußen um! Freilich, ihr Herz mögen sie dem Herrn nicht geben, und wollen auch dafür gelten, als hielten sie geringer von Ihm, als wir. Aber sie finden doch keinen Muth, Ihn gradezu zu lästern; sie vermögen sich eines gewissen, eigenthümlichen Respekts vor Ihm nicht zu erwehren; sie kommen wenigstens an seinen hohen Festen, als müsse dies geschehen, auch zu seiner Kirche, ja zu seinem Tische, und pflanzen auf die Gräber ihrer entschlafenen Lieben sein Kreuz als Zeichen der Hoffnung. Und so wenig, wie dem Herrn selbst, sind sie auch im Stande, dessen wahren und ernsten Jüngern wenigstens in ihrem Innersten ihre Achtung zu versagen, und wagen erst dann sie anzugreifen und offen zu verfolgen, nachdem sie zu „Pietisten“, zu „frömmelnden Sectirern“ sie gestempelt, oder welchen Spottnamen sonst ihnen angehängt haben; ganz nach Art unserer früheren Demokraten und Communisten, die gegen den ehrenwerthen Bürgerstand erst dann ihren Schmähungen und Angriffen freien Lauf zu geben wagten, nachdem sie demselben den französischen Namen „bourgoisie“ an die Stirn gemalt, und ihn damit vorgeblich und vermeintlich in eine andere Klasse und Rangordnung versetzt hatten. Christus herrscht auch „mitten unter seinen Feinden“, und hält dieselben, wie immer sie sich' sträuben mögen, mit den Banden einer unvertilgbaren geheimen Ehrfurcht gebunden. Also nochmals sei es Allen, die es bedürfen, zu ihrem Troste gesagt: Es ist ebensowenig Noth, daß der Unglaube der Welt euern Glauben an Christum und seine Heilsordnung erschüttere, als es Noth wäre, daß ihr euch an Christus irre machen ließet durch die Abneigung der Teufel wider Ihn, die doch, wie ihr wißt, bei all' ihrem Hasse des Angstschreies sich nicht zu enthalten vermochten: „Jesu, du Sohn Gottes, laß uns nur nicht in die Tiefe fahren!“ -

Vernehmt ferner, ihr, welchen der Anblick der geringen Zahl wahrer Christusjünger bange macht, und Zweifelmuth einflößt, was euch zur Aufrichtung und Beruhigung gereichen kann! Zuvörderst laßt euren Gesichtskreis sich erweitern. Lernt glauben, daß auch gegenwärtig, in dieser Zeit des „großen Abfalls“, die Zahl der gläubigen Christen eine ungleich größere auf Erden sei, als es in dem engen Winkel, den ihr bewohnt, euch wohl bedünken will. Ihr kennt ja den Propheten, der ebenfalls einst wähnte, als der Einzige in Israel übrig geblieben zu sein, der dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs noch diene; und siehe! noch Siebentausend, die vor Baal ihr Knie nicht gebeugt, harreten mit ihm, in Höhlen und Bergesklüften versteckt, auf bessere Zeiten. Daß auch unter uns ein Gläubiger leicht auf ähnliche Gedanken gerathen könne, wie damals Elias, das stelle ich nicht in Abrede. Freilich leben auch wir noch in einer überaus traurigen Kirchenzeit; und was Wunder dies, nachdem ein halbes Jahrhundert daran gearbeitet hat, das christliche Bewußtsein vermittelst einer einseitigen und seichten Verstandesaufklärung aus den Gemüthern der Christenheit mit der Wurzel auszurotten. Aber nicht zu verkennen ist es, daß seit Kurzem in vielen und zum Theil ausgedehnten Strecken der arg verwüstete Gottesweinberg unter dem Schöpferhauch des Heiligen Geistes auch wieder zu grünen und zu blühen angefangen hat; und thöricht wäre es, die Kinder Gottes auch nur in unserm deutschen Vaterlande nach dem Maaße bemessen zu wollen, das unsre hiesigen noch weniger aus dem langen Todesschlafe aufgerüttelten Gemeinen uns an die Hand geben. Ich kenne Gegenden, in denen man fast von Haus zu Hause wenigstens einem lebendigen Gliede am Leibe Christi begegnet; und welche Schaaren wirklich bekehrter und in allen Liebeswerken thätiger Christen treten in unsern Gesichtskreis, wenn wir unsre Blicke über die Grenzen unsres heimischen Bodens weiter hinaus bis nach Schottland, England, ja bis nach Nordamerika und zu den Missionsgemeinden in den übrigen Welttheilen schweifen lassen! Sind doch zu den - fast kann man sagen: Millionen - wahrer Gläubigen, die wie eine geistliche Goldschicht und zugleich als die Grundfeste des Landes durch die Bevölkerung der „Vereinigten Staaten“ sich hindurchziehn, in der großen Erweckung der neuesten Tage wieder Tausende und aber Tausende hinzugekommen, und wird uns doch in zuverlässigen Kunden von dort gemeldet, daß der Herr noch täglich hinzuthue zu der Gemeine, die da selig werden! Darum nicht verzagt! Sähen wir sie alle an einem Fleck versammelt, die aufrichtigen Herzens zur Fahne des Herrn schwuren: ich glaube, statt kleinmüthig das Haupt zu senken, brächen wir vielmehr in ein lautes Hallelujah aus zu Dem, der von dem Pfluge, mit welchem Er für den Samen seines Reichs die Welt durchfurcht, noch keinen Augenblick die Hand zurückzog, und der die Hoffnung, daß alle Knie sich einst Ihm beugen werden, so bald nicht aufgiebt, wie wir's zu thun pflegen! -

Und besteht nicht in der Welt neben seiner offenbaren Gemeine auch noch eine unsichtbare, eine verschleierte? Haben wir alle Geheimnisse der „Kämmerlein“ belauscht? Vermögen wir jedem Menschen ins innerste Herz zu sehen? Ist nicht ein noch unentwickelter Glaube auch schon Glaube? Wird der Herr den von sich stoßen, der gebeugt vor Ihm erscheint, und ernstlich um Gnade fleht, obwohl ihm über den göttlichen Gnadenrathschluß, wie er in Christo zum Vollzuge kam, das volle Licht noch keinesweges aufgegangen ist? - Und die in dem Herrn Jesu nur erst den „Heiligen Israels“ mit Liebe umfaßten, und aus allen Kräften bemüht sind, seinem Bilde sich zu verähnlichen, werden nicht auch sie schon den Bürgern des Gottesreiches beizuzählen sein, da es ja ohnmöglich fehlen kann, daß auch sie über kurz oder lang dem Herrn Christo auch als ihrem einigen Heiland und Mittler zu Füßen liegen werden? O ganz gewiß, ihr Lieben! Wie wächst aber in Folge dieser Erwägungen die Zahl der Reichsbürger vor unsern Augen!

Und wie Manche mögen noch „um die eilfte Stunde“ dem Rufe des Sünderfreundes folgen, und Ihm als ihrem einigen Retter in die Arme sinken? Wie Manche auf den Flügeln der „Schächersgnade“ noch dem Verderben entrückt, und gen Himmel getragen werden! Und zweifle nur Niemand, daß der Herr auch in der irrenden Kirche noch sein großes Volk habe, welches nicht auf Ablaß und eigene Werke, sondern auf sein Blut und seine Vertretung alles Heil und alle Hoffnung gründet! Bezweifle auch Keiner, daß nicht Wenige, deren Religiosität, weil sie über ihr Inneres sich auszusprechen entweder nicht vermögen, oder nicht Lust und Anregung empfinden, in einer blos äußerlichen Kirchlichkeit und Ehrsamkeit aufzugehen scheint, dennoch ein lebendiges Christenthum als süßes Geheimniß in ihrem Busen tragen! Namentlich aber wehre Jeder dem niederschlagenden, aber gänzlich unberechtigten Gedanken, als werde es um den Glauben immerdar so kläglich in der Welt bestellt sein, wie gegenwärtig! Es kommt die Zeit, da „die Erkenntniß des Herrn die Erde bedecken wird wie Wasser den Meeresgrund,“ und da die Gassen Jerusalems tönen werden von Menschenheerden. Wie ein verheißungsreicher, über alle Maaßen tröstlich leuchtender Stern strahlt uns durch das Gewölk, das uns noch umgraut, das Wort von dem „Einen Hirten“ und der „Einen Heerde“ an. Doch auf die Erfüllung dieses Wortes wirst du, vereinsamter Pilger, nicht erst zu warten brauchen! Sei gewiß, wenn dein Stündlein schlug, und du zu deines Herrn Freude eingehst, empfängt dich dort mit jubelndem Willkommsgruß schon „eine Schaar, die Niemand zählen kann.“ -

Getrost denn, theure Brüder und Wandergenossen! Wie schmerzlich uns auch die Erfahrung berühre, daß wir mit unserm Christusglauben nur eine fast verschwindende Minderzahl unter unsern Zeitgenossen bilden; es ist doch der rechte Weg, den wir gehen, und führt kein anderer nach der Himmelsheimath. Sehen wir nur zu, daß wir ihn wirklich wandeln, diesen Weg, und dann fest und unverrückt ihn inne halten! Hu einer sehr ernsten Selbstprüfung fordern uns die Worte auf: „Viele, das sage Ich euch, werden trachten, hineinzukommen, und werden es nicht können.“ - Scheuen wir diese Prüfung unsrer Herzen nicht! Finden wir uns in Folge derselben durch Gottes Gnade in der rechten Richtung, dann festen Schritts und frohen Muthes vorwärts! Nichts mache uns mehr irre! Ueberall umtöne uns das Wort des Wahrhaftigen: „Ich bin die Thür zu den Schafen!“ Ueberall erhebe uns seine Versicherung: „Wo auch nur zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Oder soll uns sein Wort nicht unbedingt entscheidend sein? Soll er uns nicht über Alles gelten? Freunde, die Ewigkeit wird's besiegeln, daß Er die Wahrheit sprach, da Er feierlich betheuerte: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen!“ - Darum

Kleine Heerde, zage nicht!
Wie unscheinbar du hienieden,
Dir ist, wie der Heiland spricht,
Seines Vaters Reich beschieden!
Geh' im Dunkel oder Licht,
Du bist sein; verzage nicht!

Nicht gezählt, gewogen wird
Droben bei dem höchsten Throne,
Und nur, was der „gute Hirt“
Rettend warb, ererbt die Krone.
Nicht die Welt hält dort Gericht,
Wisse dies, und zage nicht!

Zage nicht! In Körnlein nur
Findet sich das Gold im Sande!
Nur vereinzelt, nicht als Schnur,
Bricht die Perle man vom Strande;
Und erst wenn die Schaale bricht,
Glänzt sie auf! - O, zage nicht! -

Ja, wie einsam und verhüllt
Du erscheinst im Völkermeere,
Sorge nicht; dein Zukunftsbild
Zeigen dir die Sternenheere!
Einst umstrahlt dich lauter Licht.
Kleine Heerde, zage nicht! - Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/krummacher_f.w/dcw/krummacher_dcw_4.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain