Hofacker, Ludwig - Predigt am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis

Hofacker, Ludwig - Predigt am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis

Die natürliche Undankbarkeit des menschlichen Herzens gegen den Heiland.

Text: Luc. 17,11-19.

Und es begab sich, da JEsus reisete gen Jerusalem, zog Er mitten durch Samaria und Galiläa. Und als Er in einen Markt kam, begegneten Ihm zehn aussätzige Männer, die stunden von ferne, und erhuben ihre Stimme, und sprachen: „JEsu, lieber Meister, erbarme Dich unser!“ Und da Er sie sahe, sprach Er zu ihnen: „gehet hin, und zeiget euch den Priestern.“ Und es geschah, da sie hingiengen, wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, da er sahe, daß er gesund worden war, kehrete um, und preisete Gott mit lauter Stimme, und fiel auf sein Angesicht zu Seinen Füßen, und dankete Ihm. Und das war ein Samariter. JEsus aber antwortete und sprach: „sind ihrer nicht Zehn rein geworden? Wo sind aber die Neune? Hat sich sonst Keiner gefunden, der wieder umkehrete, und gebe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling?“ Und Er sprach zu ihm: „stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen.“

Unser Evangelium läßt uns einen tiefen, aber traurigen Blick in das menschliche Herz thun. Unser Heiland, auf Seiner letzten Reise nach Jerusalem, kam in einen Marktflecken. Hier begegneten Ihm zehn aussätzige Männer, die stunden von ferne. Der Aussatz, die eckelhafteste Krankheit, war ansteckend. Ein Aussätziger mußte sich deßwegen von der menschlichen Gesellschaft entfernen; er durfte keinem Gesunden nahe kommen: denn sein Athem war schon vergiftend. Darum blieben die zahn Männer von ferne stehen, und erhuben ihre Stimme, d.h. sie schrieen, weil der Aussatz heiser macht, so gut sie’s konnten, aus der Ferne mit heiserer Stimme: „JEsu, lieber Meister, erbarme Dich unser!“ Dieses heisere Geschrey drang zu den Ohren des Heilandes durch, - denn Er höret auch das leise Flehen der Elenden, - Er sahe sie an und sprach: „gehet hin, zeiget euch den Priestern.“ Ein Aussätziger, der rein geworden war, mußte sich vor den Priestern stellen, und ehe diese ihn für rein erklärt hatten, durfte er nicht in die menschliche Gesellschaft zurückkehren. Die Männer glaubten dem Worte des Heilandes, und giengen hin; sie vernünftelten nicht; sie dachten nicht: wir sind ja noch nicht rein, wie können wir uns vor den Priestern zeigen? – sondern sie giengen hin, einfältig dem Worte JEsu folgend. „Und es geschahe, da sie hingiengen, wurden sie rein.“ Ein großes Wunder der Gnade und Allmacht JEsu!

Aber von den Zehn erkannte nur Einer, ein Samariter, die Güte des Heilandes so weit, daß es ihn getrieben hatte, umzukehren und zu danken. Ein Einziger – heißt es in der evangelischen Erzählung – da er sahe, daß er gesund worden war, kehrete um, und preisete Gott mit lauter Stimme (vorher hatte er nur leise reden können), und fiel auf sein Angesicht zu den Füßen JEsu, und dankete Ihm. Die übrigen Neun giengen dahin, und dachten nicht daran, zu danken; sie eilten, um so geschwind als möglich zum Priester, und durch dessen Vermittlung zu den Ihrigen zu kommen, und so hatten sie keine Zeit, Gott und dem HErrn JEsu zu danken. Diese schändliche Undankbarkeit gieng dem Heilande sehr zu Herzen. Als Er nun einen Einzigen umkehren sah, da sprach Er die einschneidenden, schmerzlichen Worte: „Sind ihrer nicht Zehn rein geworden? Wo sind aber die Neune? Hat sich sonst Keiner gefunden, der wieder umkehrete, und gäbe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling?“

Liebe Zuhörer! Wir haben nicht viel Ursache, uns über diese neun Juden hinaufzudenken; im Gegentheil, das Verhalten dieser Leute ist ein treues Abbild unsers Herzens, so wie es von Natur ist. Dieß will ich weiter ausführen, und durch Gottes Gnade euch vorhalten:

Die natürliche Undankbarkeit des menschlichen Herzens gegen den Heiland.

Ich will

  • I. diese natürliche Undankbarkeit des menschlichen Herzens gegen JEsus nachzuweisen suchen;
  • II. zeigen, wie wir von dieser schändlichen Undankbarkeit los werden, und ein kindlich-dankbares Herz gegen den Heiland erlangen können.

Barmherziger Erlöser! Wir sind so blind von Natur, daß wir zu Zeiten wohl gar meinen, unser Herz sey dankbar gegen Dich, ob wir gleich schändlich undankbar sind. Hilf uns aus dieser Blindheit; entdecke uns den bösen Grund unseres Herzens, damit wir nicht erst in der Ewigkeit zu unserem Schrecken erfahren, wer wir sind. Amen!

I.

Unter all’ den bösen, satanischen Wurzeln, die unser Herz durchziehen, ist die Neigung zur Undankbarkeit nicht die geringste. Wir stehen in dieser Hinsicht häufig unter den Thieren. Besonders äußert sich diese Undankbarkeit in unserem Verhalten gegen den Heiland. Was wir sind und haben, das sind und haben wir nur durch Ihn; kein Freund, keine Mutter kann uns so lieben und segnen, wie Er uns liebt und segnet: aber dieß Alles macht keinen Eindruck auf uns, wie wir von Natur sind; wir sind eben Seine Feinde und bleiben sie, wenn wir uns nicht durch Seinen Geist und Seine Gnade zu Seinen Freunden umschaffen lassen. Unser Herz ist gegen Ihn von Natur kalt wie Eis, stumpf und unempfindlich wie Schmeer (Psalm 119,70.).

Liebe Zuhörer! Diese traurige Wahrheit will ich erweisen. Wie soll ich’s angreifen? Werden auch einige Seelen gegenwärtig seyn, die mich verstehen, die diese Wahrheit fühlen, und schon an sich mit Schmerzen erfahren haben? Ach! die Blindheit, die Vergeßlichkeit des menschlichen Herzens, die Verkehrtheit seiner Gedanken ist so groß, daß ich in der That daran zweifle, ob auch Mehrere da seyen, in welchen schon der Gedanke geboren worden ist: du bist schändlich undankbar gegen den Heiland.

Man sollte freilich meinen, es sey nicht so schwer, auf diesen Glauben zu kommen. Ich will nur eine einzige Frage an euer Gewissen stellen, aus dieser geringen Prüfung könnten wir erkennen, wer wir sind. Wir sind heute Alle wenigstens so gesund aufgestanden von unserem Lager, daß wir zur Kirche kommen, uns hier versammeln konnten. Aber wie Viele sind wohl unter uns, die heute schon dem Heilande für diese unaussprechliche Wohlthat von Herzen gedankt hätten? Gewiß hat es nicht von Zehn, wie in unserem Evangelium, sondern von Hundert kaum Eines gethan. Ist es nicht so? Ach! was sind wir für Leute! –

Der Heiland ist unser größter Wohlthäter. Wem haben wir unser Leben, unser Daseyn zu danken? Wem anders als Ihm, unserm Schöpfer? Wir könnten auch nicht seyn, so gut als wir sind; es ist eine freie That Seiner Liebe, daß Er gewollt hat, wir sollen seyn, noch mehr, wir sollen Menschen seyn. Ich will euch eine Geschichte erzählen. Auf der Kirchen-Versammlung in Konstanz vor 400 Jahren sahen einmal zwey Bischöfe, die zusammen ausgeritten waren, in der Ferne einen Hirten, der heftig weinte. Weil sie menschenfreundliche Männer waren, so ritten sie auf ihn zu, und erkundigten sich nach der Ursache seiner Betrübniß. Der Hirte wies mit seiner Hand auf eine Kröte, die im Grase kroch, und sprach: „ich sah diese Kröte, da fiel mir ein, daß mich Gott zu einem Menschen und nicht zu einem solchen Thier geschaffenen habe, und ich habe Ihm mein Leben lang noch nicht dafür gedankt. Das schmerzt mich, daß ich so undankbar bin.“ Wie viel könnten wir von diesem Hirten lernen, wenn wir wollten! Gott hat uns Allen Odem und Daseyn gegeben; Er hat uns Augen, Ohren, Sinne, Gliedmaßen gegeben; Er hat uns, was noch das Größte ist, zu vernünftigen Wesen werden lassen, die den Reichthum Seiner Güte empfinden können, und zu einer ewigen Seligkeit bestimmt sind; aber wer dankt Ihm dafür? wem ist es leid, daß er so undankbar ist? Vor 400 Jahren ist es Einem von Herzen leid darüber gewesen, und dieß hat man so merkwürdig gefunden, daß man es, als eine unter der Menschheit unerhörte Sache, aufgeschrieben hat. Damit, daß man solche Geschichten als merkwürdig erzählt, gesteht man ein, daß die Dankbarkeit gegen den Heiland unter den Menschen zur Ausnahme von der Regel gehöre.

Doch ich muß noch niederer anfangen. Ich will von den Thieren reden, - sie sind dankbarer als wir. Betrachtet einmal einen Hund! Ein Hund ist dankbar gegen den, der ihm sein Futter gibt; er hängt sich an ihn; er liebt ihn; er erkennt ihn für seinen Herrn; er gehorcht ihm; er wehrt sich für ihn und seine Sachen; er hilft ihm, wenn er in Gefahr ist; er läßt sein Leben für seinen Herrn. Dieß thut ein Hund nur nach seinem Naturtrieb gegen seinen Wohlthäter, der ihm vielleicht seit einigen Wochen oder Monaten das Futter reicht, und sonst nichts als das Futter; denn alles Uebrige empfängt der Hund aus der Hand Gottes. Können wir, die wir doch vernünftige Geschöpfe sind, auch uns in Absicht auf die Dankbarkeit einem solchen unvernünftigen Geschöpfe gleichsetzen? ich glaube nicht. Seit zehn, fünfzehn, zwanzig, dreißig bis vielleicht siebenzig Jahren empfangen wir aus der Hand Gottes, unseres Heilandes, nicht nur Speise und Trank, sondern Alles, was zu unseres Leibes Nothdurft gehöret, Luft, Kleider, Haus, Obdach, Bette u.s.w. Ich frage: sind wir um dieser Wohlthaten willen so gesinnt gegen den Heiland, wie ein Hund gegen seinen Herrn gesinnt ist? Erkennen wir Ihn für unsern HErrn? Gehorchen wir Ihm! Lieben wir Ihn? Danken wir Ihm? Suchen wir Ihm zu Gefallen zu leben, wie doch ein Hund seinem Herrn zu Gefallen zu leben sucht? Ist Seine Sache unsere Sache? Wehren wir uns für Ihn und Seine Sache? Können wir auch etwas für Ihn leiden, ich will nicht sagen: sterben, was doch ein Hund für seinen Herrn kann? Wahrlich! wir müssen uns schämen vor einem Hunde.

„Höret, ihr Himmel, und vernimmt, du Erde, denn der HErr redet: Ich habe Kinder aufgezogen und erhöhet; aber sie sind von mir abgefallen. Ein Ochse kennet seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Eigenthümers: aber Israel kennet es nicht! und Mein Volk vernimmt es nicht.“ So muß der HErr nach Jesai. Kap. 1. über Israel klagen. O höret doch aus diesen Worten, welch’ ein Schmerz in Seinem Herzen ist. Kinder hat Er aufgezogen mit vieler Mühe, Sorgfalt, Pflege, Geduld; Er hat sie in Seinen Armen getragen, wie eine Mutter ihre Kleinen in ihren Armen trägt. Er hatte sie erhöhet und groß gebildet; was ein treues Vaterherz an seinen Kindern thun kann, das hatte Er an ihnen gethan, ja noch weit mehr: aber – sie sind von Mir abgefallen; sie haben Mir den Rücken zugekehrt; sie haben sich zu Meinen Feinden geschlagen. Hat der HErr jetzt weniger Ursache bey uns zu dieser Klage als damals? Auferzogen hat Er uns; mit großer Güte hat Er uns gepfleget von Kindesbeinen an; durch wie viele Wunderwege hat Er uns geführt! Wie hat Er uns bewacht, beschützt, getragen! Aber wo ist der Dank? Liebe Brüder! wo ist der Dank? Das ist der Dank: daß es auch an uns wahr ist: „sie sind von Mir abgefallen, sie halten es mit Meinen Feinden“ – der Sünde und dem Teufel laufen sie nach; sie stehen wenigstens im heimlichen Einverständniß mit Meinen Feinden, und wollen Mich nicht lieben, Mir nicht von Herzen dienen, und ob ich gleich so viele Wunder der Barmherzigkeit an sie gewendet habe, so ist es ihnen doch kein Ernst zu Mir. Ein Ochse kennet seinen Herrn, ihr wisset ja Alle aus eigener Erfahrung, wie ein Ochse seinen Herrn kennt, wie er ihm auf seine Worte achtet, wie er ihm auf seine Winke geht, ja, ich sage, wie er Zutrauen und Neigung zu seinem Herrn hat, wenn der Herr kein boshafter Tyrann gegen das arme Thier ist. Und ein Esel weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, doch wenigstens die Krippe seines Eigner, und merkt sich die Hand, die diese Krippe füllt. Aber wir nicht also; der größte Theil unter uns nicht also. Wir, ich sage es mit Schmerzen, kennen größtentheils unsern HErrn, den Heiland, nicht; wir gehen an unsere Krippe hin, die uns täglich wieder auf’s Neue gefüllt wird, und bedenken es nicht recht, von wem sie gefüllt wird, und beachten die gütige Hand unsers Wohlthäters nicht, und sind froh, wenn unser Gebet vor und nach dem Tische hergesagt ist, welches wir deßwegen thun, damit es doch auch aussehen solle, wie wenn wir Menschen oder gar Christen wären.

Gott hat in jedes Menschenleben hinein besondere Denksteine Seiner erbarmenden Güte gesetzt; es ist wohl Keines unter uns, das nicht auch schon von der errettenden Treue Gottes etwas erfahren hätte; wenn wir die Lebensläufe aller dieser Menschen, die hier sind, ehrlich erzählt hören sollten, so würden wir gewiß in jedem auf solche Marksteine stoßen, wo wir sagen müßten: hier hat der HErr eingegriffen, da ist vom HErrn geschehen, und ist ein Wunder vor unsern Augen. Ist’s nicht so? Wie Viele unter uns sind wohl schon in Krankheitsnoth gesteckt wie die zehn aussätzigen Männer, und haben zum Heiland geschrieen: „JEsu, lieber Meister, erbarme Dich meiner!“ und Er hat Sich ihrer erbarmt. Oder sollte Niemand gegenwärtig seyn, der solche Erfahrungen gemacht hätte? Wir Alle, die wir hier sind, sind, so wie wir dastehen oder sitzen, lebendige Beweise, lebendige Briefe des lebendigen Gottes, Zeugnisse und Documente Seiner helfenden, durchbringenden, errettenden, segnenden Barmherzigkeit; wer einen Menschen siehet, der siehet ein großes, herrliches Meisterwerk der Gnade und Geduld Gottes. Was ließe sich nun von uns erwarten, von uns Leuten, die wir aus der unmündigen Kindheit in das jugendliche Alter, von da zum Theil in das Mannesalter, von da zum Theil in das hohe Greisenalter heraus- und hineingehoben, heraus- und hineingesegnet worden sind durch die Wüste dieser Welt bis hieher, zum Theil bis wir grau wurden, welchen die unergründliche Tiefe vor ihren Füßen weichen mußte, daß sie trockenen Fußes hindurch konnten, welchen oft in der dürren Wüste der Fels mußte Wasser geben, und der bittere Trunk wurde durch die Allmacht Gottes verwandelt in einen süßen Trunk, - was ließe sich von uns erwarten? Sollte denn nicht unser Herz zerfließen vor Dank, vor Anbetung? sollte ein Tropfen Bluts in unsern Adern wallen, der nicht Dank wäre? sollte nicht wenigstens ein Fünkchen Dank aus unserem eiskalten Herzen sich emporarbeiten, daß wir mit Jakob sprächen: „HErr! ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die Du an mir gethan hast?“ Aber wie Viele sind unter uns, die dieses schon bedacht, und Gott dafür die Ehre gegeben haben? Wie groß muß doch das Herz unseres Erbarmers seyn, daß Er uns trotz dem Allem nicht wegwirft, nicht aufgibt, daß Er fortwährend Langmuth übt an solchen stumpfen, boshaftigen Kindern des Verderbens, daß Er dennoch nicht müde wird, und immerfort noch uns Verächter ohne Dank und Lohn mit lauter Liebe zu gewinnen und zur Seligkeit zu bringen sucht! – Doch alle diese Wohlthaten sind noch gering gegen das Wunder der Barmherzigkeit Gottes, das in Christo offenbar geworden ist, daß der Vater den Sohn gegeben hat für das Leben der Welt aus lauter Liebe, daß unser Schöpfer unser Heiland geworden ist, daß Er ein Mensch geworden ist, und hat Sein Leben gelassen zur Versöhnung für unsere Sünden. Wie soll ich es doch angreifen, um euch und mir die große Liebe unsers Heilandes zu uns nur auch einigermaßen deutlich und eindringlich zu machen? Ach, ich bin zu schwach dazu; die Sache ist zu groß, zu wichtig; ich kann nicht so davon reden, wie es die Würde des Gegenstandes erfordert. Wer könnte auch die Liebe des Lammes Gottes ausreden? Sehet Ihn nur recht an in Seinem Versöhnungs-Geschäfte; sehet Ihn an in Seiner Erniedrigung, in Seiner Höllenqual in Gethsemane, wo Er vor dem strengen Richter auf den Knieen liegt, weil meine und aller Welt Sünden auf Ihm lasten; sehet Ihm in Sein erblaßtes Angesicht auf Golgatha! Betrachtet recht und fasset in euer Herz die gekreuzigte, die sterbende Liebe – wer dieß siehet und glaubet, der hat in diesem Anblicke als in einem Brennpunkte den ganzen Rath Gottes zu unserer Seligkeit, die ganze Liebe des Vaters und des Sohnes zu dem verlornen Geschlechte, Alles, was Gnade, was Erbarmung, was Hirtentreue, was Herablassung, was ewige, unendliche Liebe genannt werden kann; das Leiden und Sterben des großen Hohenpriesters am Kreuze ist der Zusammenschluß und Inhalt, das allerschönste, das allereindringendste Gemälde aller Erbarmungen und unverdienten Wohlthaten Gottes gegen die Sünder. Denn dieß hat Er Alles für uns, für mich und euch, gelitten und gethan. Und das läßt Er uns sagen von unserer frühen Jugend an, daß Er uns so geliebet habe; Er läßt es uns bekannt machen, und wartet, ob vielleicht auch ein Herz sich finden möchte, in welchem ein Fünklein von Dank, von Gegenliebe sich regte; Er läßt es uns deßwegen allenthalten predigen, in der Schule, zu Hause, in der Bibel, in so vielen Sprüchen, die wir auswendig gelernt haben, in so viele Liedern, die wir singen, im Katechismus, in der Kirche; so oft ein Kind getauft wird, läßt Er uns daran erinnern; so oft man das heilige Abendmahl feyert, jetzt, heute, in dieser Stunde, ob vielleicht Jemand wäre, der umkehrte von seinem bösen Wege, und gäbe Gott die Ehre.

Wie vergelten wir Ihm dieser Liebe? wenn ich diese Frage in Aller Namen beantworten sollte, so müßte ich für den größten Theil unter uns etwa folgende Antwort geben: Seine Liebe vergelten wir Ihm so, daß wir uns nichts, gar nichts darum bekümmern. Wir danken Ihm nicht dafür; wir thun, als ob nichts geschehen wäre, als ob es keinen Heiland gäbe. Wir fluchen und mißbrauchen Seinen Namen; wir suchen die Befriedigung unserer Lüste; wir fressen und saufen, wo wir beikommen können, und halten die Tage, wo uns solches gelingt, für die besten und glücklichsten; wir machen uns gar nichts aus Neid, Zank und Hoffahrt, Unzucht, unkeuschen Gedanken, aus liederlichen Gesprächen, kurz, aus allen Werken des Fleisches, die in der heutigen Abend-Lection angeführt werden; Er läßt uns ermahnen, anpredigen, anschreyen, aber wir wollen nichts davon; wir gehen darauf aus, so viel in unsern Kräften steht, Ihm in’s Angesicht zu speyen für Seine große Liebe. So danken wir Ihm! – Ein anderer Theil von uns müßte auf die Frage: wie vergeltet ihr Ihm Seine Liebe? wenn er ehrlich antworten sollte, Folgendes sagen: wir achten Ihn hoch; wir fürchten Ihn; wir denken alle drey bis vier Tage einmal ernstlich an Ihn: aber die Welt freilich und was dem Fleisch gefällt, mögen wir um Seinetwillen doch nicht lassen; wir hüten uns vor den groben Ausbrüchen der Sünde: aber Alles zu verkaufen, um diese Perle zu erlangen, wie jener Kaufmann im Evangelium, das kommt uns doch bis jetzt noch unklug vor; wir sind daher sehr froh, daß wir wissen, daß der eifrigste Nachfolger des Heilandes eben immer ein armer Sünder bleibt, und daß der Lauf des Christen durch tägliche Buße geht; so bleiben wir ja freilich arme, elende Sündenknechte, und thun täglich Buße, aber, ehrlich gestanden, es ist uns eigentlich doch nicht recht Ernst damit. – Ein anderer geringer Theil von uns würde auf die Frage: wie vergeltet ihr Ihm Seine Liebe? mit Beugung antworten: Er hat unser Herz dafür; wir lieben Ihn dafür, und suchen Ihm nachzufolgen. Er weiß selber am besten, wie schwach dieß hergeht: aber der Wille dazu ist vorhanden; Er hat es uns so geschenkt.

So gehen wir also, so geht der größte Theil von uns mit unserem allertreusten JEsus, so gehen wir mit der Liebe um, die uns bis in den Tod geliebet hat. Welche Verdammniß und Höllenpein wartet auf alle undankbaren Verächter dieser Liebe! Wollen wir in diesem undankbaren Herzenszustande bleiben? Soll erst die Ewigkeit diese Schuld gegen unsern Erbarmer aufdecken, und in ihrer ganzen Größe und Schrecklichkeit klar machen? Wollen wir Steine bleiben, bis der Hammer des göttlichen Gerichts uns zerschlagen und zermalmen wird? Wollen wir nicht anders werden? Ich hoffe doch.

II.

Aber wie soll ich anders werden? fragst du. Auf diese Frage will ich im zweiten Theile kurz antworten.

Um sie aber richtig zu beantworten, müssen wir vor Allem zurückgehen auf die Ursachen dieser schändlichen Undankbarkeit des natürlichen Menschen gegen den Heiland. Es lassen sich mehrere solcher Ursachen anführen.

Eine Hauptursache ist wohl die natürliche Blindheit und der Unglaube unseres Herzens, mit andern Worten, unsere Entfremdung von Gott. Ueber die größten Wunder Gottes tappen wir in unserer Blindheit hinüber, und sehen sie nicht einmal. Da geht man durch diese Welt hindurch fast wie ein Thier; man wird geboren; man lebt; man ißt und trinkt, arbeitet und ruht, schläft und wacht; was einem in den Weg kommt, das betrachtet man; was Genießbares begegnet, das genießt man; hat man Leiden und Schmerzen, so klagt, murrt, weint man; kurz, der Blick bleibt an dem Sichtbaren, Fühlbaren, Hörbaren, Schmeckbaren hängen, und weiter hinaus denkt man selten; von wem das Alles komme, was man siehet, genießt, worüber man klagt, von wem man in diese Umstände hineingesetzt sey, in welchen man lebt, was Gott für Absichten darunter habe u.s.w., das wird kein Gegenstand des Nachdenkens, und so findet man in seinem täglichen Leben Gott nimmermehr, und kann Ihm natürlich auch nicht danken. Wenn bey einer solchen Gemüthsverfassung auch hin und wieder ein Lichtblick durch die Seele fährt, und das Herz die Hand Gottes in dieser oder jener Sache deutlicher als sonst ahnet, so sind das vorübergehende Gedanken; die Richtung des Geistes auf’s Sichtbare, der irdische Umtrieb, die menge der irdischen Gedankenbilder, die die Seele rastlos durchjagen; - dieß verschlingt wie ein Strudel alles höhere Gefühl sogleich wieder, und verdeckt den Schöpfer, den Geber, den Urheber sogleich wieder vor den Augen des Geistes.

Liebe Zuhörer! Diese Blindheit und Entfremdung von Gott ist uns angeboren, eine traurige Erbschaft von Adam, und in so fern ein natürliches Eigenthum aller Menschen. Wir sind irdisch, fleischlich, thierisch von Natur. Der Geist unserer Zeit aber hat dieses von Gott entfremdete, irdische und thierische Wesen und Treiben zur höchsten Vernunft erhoben, und dasselbige mit dem Namen Weisheit und Aufklärung gestempelt; daher kommt es, daß die Welt gegenwärtig voll ist von losen Verächtern, von Undankbaren, die sich ihrer Undankbarkeit so wenig schämen, daß sie ihr Verhalten noch für die ächte Klugheit ausgeben. Weil man nämlich meint, unsere Zeit sey in manchen Naturkenntnissen weiter gekommen als die Zeit unserer Väter, so hat die fleischliche Aufgeblasenheit der Thoren gar kein Maaß und Ziel mehr. Es geht nun, wie sie meinen, Alles natürlich zu. Natürlich geht es zu, daß, wenn man einen Samen in die Erde legt, derselbige zu einer Pflanze heranreift; es ist wahr, er hat Sonne, Licht, Wärme, Regen gebraucht, um zur Reife zu gelangen: aber dieß Alles ist erfolgt nach den bekannten Naturgesetzen; die Sonne ist auf- und untergegangen nach ihrer bekannten Weise und Gesetzmäßigkeit; der Wind hat von Abend geweht, und so hat es geregnet; daß er sich aber nach Abend gedreht hat, das hat wieder seine anderweitigen Gründe gehabt, und diese Gründe haben wieder ihre Gründe; kurz, die Welt ist eine wohleingerichtete Maschine, so sagen sie. Natürlich geht es zu – meinen die falschen Aufklärer – daß sie da sind, sie sind von ihren Eltern gezeugt worden, natürlich geht es zu, daß sie unter den Umständen aufgewachsen sind, und die Erziehung gehabt haben, die ihnen zu Theil geworden ist; natürlich geht es zu, daß ihnen Speise und Trank auf den Tisch gestellt wird, sie haben es bezahlt, erworben, sich angeschafft, weßwegen auch in manchen Gesellschaften das Tischgebet für etwas sehr Albernes gehalten wird; natürlich geht es zu, daß sie krank werden: natürlich, daß sie gesund werden: die Geschicklichkeit des Arztes, die Vortrefflichkeit der Arzney, die Witterung und andere Umstände sind Schuld daran, oder die Natur hat sich selbst geholfen, - kurz, sie haben eine Natur, aber keinen Gott mehr. Es wäre etwas Leichtes, die Grundlosigkeit und Unvernünftigkeit dieser neuen Weisheit zu zeigen; es ist aber hier der Ort nicht dazu. Nur so viel ist leicht einzusehen, daß, da dieses elende, seichte Geschwätz alle Klassen des Volks durchdrungen und um sich gefressen hat wie der Krebs, unsere Zeit je mehr und mehr in Kälte und Fühllosigkeit gegen Gott erstarren, und der Dank gegen Gott je mehr und mehr erstickt werden muß.

Wir sind eben sehr blind von Natur, und je weniger innerer Ernst zu Gott in einer Seele vorhanden ist, desto näher steht sie auch dieser Weisheit der Welt, die aber nichts als Thorheit ist; daher kommt es, daß auch Kinder Gottes, die ihrem innersten Grunde nach von den Elementen des Weltgeistes geschieden sind, doch auch oft in ein gewisses stumpfes Wesen gegen die Werke und die Wohlthaten des Heilandes ausarten, und Seiner Werke wenigstens auf Zeiten vergessen, wenn sie nämlich in ihrem innern Ernste zu Gott nachlassen. Denn je weniger Ernst und Zug zum Heilande in einer Seele ist, desto festeren Fuß kann der Weltgeist fassen; und je weniger der Geist Christi die Oberhand hat, desto gewisser sinkt man in die natürliche Blindheit, Verkehrtheit und Vergeßlichkeit des Herzens zurück. So mußte der HErr schon über Israel die schwere Klage führen: „der Schnee weicht nicht so bald von den Feldsteinen, das Regenwasser verlauft sich nicht so bald, als Mein Volk Meiner vergißt (Jerem. 18,14.). Und dieß trifft heute noch oft sogar bey Kindern Gottes ein. Ach! wie sind wir so elend! Darum hat der Heiland auch eine besondere Verheißung auf das Behalten und Bewahren Seiner Worte gesetzt (Offenb. 2,16.); es gehört zu den Eigenschaften eines Ueberwinders.

Eine andere Hauptursache unserer Undankbarkeit gegen den Heiland liegt wohl darin, daß man die Wohlthaten Gottes als eine gewisse Schuldigkeit dahin nimmt, ein gewisses Recht dazu, oft sich selber unbewußt, zu haben meint, was freilich wieder aus der Blindheit unserer Herzen herkommt. Es ist merkwürdig in unserem Evangelium, daß der Einzige aus den Zahn, der dankte, ein Samariter war. Der Heiland war ein Jude, und zunächst zu den Juden gesandt; darum konnten die neun undankbaren Juden die Wohlthat, die ihnen widerfahren war, als etwas hinnehmen, das zwar eine Gnade sey, aber eine Gnade, zu der sie als Landsleute des Heilandes wenigstens eben so gut ein Recht hätten als die übrigen Elenden aus den Juden, denen der jüdische Prophet geholfen habe. Es stellte sich die Wohlthat des Heilandes ihrem Geiste wenigstens nicht als ein solcher reiner Ausfluß des Erbarmens dar, wie dieß bey’m Samariter der Fall war. Als Samariter, als ein von den Juden verabscheuter, gehaßter Mensch konnte er in seiner Gesundmachung nichts sehen als lautere unverdiente Gnade und Liebe; dieß bewegte sein herz, dieß trieb ihn vor die Füße des Heilandes auf sein Angesicht hin. Sehet da den tiefen Grund unserer Undankbarkeit. Ein Mensch muß vorher erkannt haben, daß er ein Samariter gegen den Heiland ist, d.h. daß er als ein geborner Feind JEsu, als Sünder durchaus kein Recht habe, sondern daß er nach den Rechten Gottes vor den Angesichte des HErrn verworfen, und in die Hölle zu werden verdiente; er muß erkennen, daß von Seiten Gottes alles Gute, das er genießt, nur lauter Barmherzigkeit und Gnade sey, und dieß muß ein stehender Gedanke, eine bleibende Ueberzeugung, ein Grundgedanke seines Herzens geworden seyn; dann erst ist er fähig, auch für das geringste Gute, das ihm widerfähret, von Herzensgrund zu danken; dann erst wird er aufhören, ein loser, stolzer Verächter der Güte des Heilandes zu seyn, vorher nicht.

Wenn wir nun ein Mittel wüßten, wodurch die natürliche Blindheit und Entfremdung unsers Herzens von Gott gehoben, und wir in eine wahrhaftige Armuth des Geistes, in die stehende Ueberzeugung hineingeboren würden, daß wir arme Sünder keiner Gnade werth seyen, so dürfte man denjenigen, die da fragen: wie muß ich’s machen, daß mein undankbares Herz in ein kindlich dankbares verwandelt wird? – ich sage, diesen, die so fragen, dürfte man nur jenes Mittel sagen: Gott Lob! wir wissen ein solches Mittel. Es ist und heißt nicht anders als: wir müssen JEsum kennen lernen, das geschlachtete Lamm Gottes muß in das Herz. Das ist das Ganze.

Wer JEsum kennt und an Ihm bleibet, der wird von seiner natürlichen Blindheit je mehr und mehr erlöset, denn der Heiland ist das Licht: wer Ihn kennt und an Ihm bleibet, der wird seiner Sinnes- und Handlungs-Weise nach immer mehr geschieden von den Elementen des Weltgeistes. In Seiner Schule und unter der Zucht Seines Geistes lernt man immer tiefer erkennen, daß Alles, was wir sind und haben, nur aus dem Erbarmen JEsu uns zufließt. O! wie wird ein alter Schüler des Heilandes zuletzt so klein, so dankbar für Alles; wie ist ihm Alles, was er empfängt, so wichtig; mit welcher Beugung nimmt er das Geringste aus der Hand seines Erbarmers an, und ist dankbarer dafür als ein Anderer für die größten Wunder der Gnade Gottes! So heilt JEsus von unserer Undankbarkeit, und diese Kur darf ein jedes Kind Gottes, das Ihn lauterlich sucht und liebt, von Seiner Allmacht und Liebe erwarten und hoffen.

Zu Ihm also, liebe Seelen! zu Ihm! – denn Seine Kur verbessert nur die so verdorbene Natur. Dieß ist der ganze Zweck der Offenbarungen Gottes; dieß ist die Ursache, warum uns Gott in die tiefen Abgründe unserer Verdorbenheit blicken lässet, daß wir zum Heilande kommen möchten; dieser ganze Vortrag über die Undankbarkeit unserer Herzen hat keinen andern Zweck, als daß uns JEsus, Seine Versöhnung, Seine Gnade, die Arbeit Seines Geistes an unsern Herzen, - mit Einem Worte, daß uns der Heiland in Seiner Unentbehrlichkeit möchte offenbar, und wir also zu Ihm möchten getrieben werden. JEsus ist gemeint mit allen diesen Worten, und sonst Niemand.

Und da, meine ich, hätten wir nun die allerbeste Gelegenheit, den allerschärfsten Antrieb, Ihn heute, heute zu suchen, oder, wenn wir Ihn schon haben, noch näher in die lebendige Gemeinschaft Seines Todes und Seiner Auferstehung hineinzubringen. Es werden doch Seelen gegenwärtig seyn, welchen in dieser Stunde etwas von ihrem großen Verderben in ihrem Innern klar geworden ist. Mir ist Vieles klar geworden. Liebe Seelen! wir, denen Gott etwas von ihrem großen Verderben in ihrer schändlichen Undankbarkeit gegen Ihn gezeigt hat, wir wollen diese Zeit ja nicht versäumen, sondern so bald wir ungestört mit unserm Seelenfreunde reden können, unser armes schnödes Herz vor Seinen Gnadenthron bringen, und Ihn um Vergebung flehen. Vielleicht wird das bey mancher Seele der erste Faden, an den sich ihre Bekanntschaft mit dem Heilande anknüpft, der Grundstein zu ihrer künftigen Bekehrung und Vollendung, der Anfang ihrer Seligkeit, die hienieden im Glauben anfängt, und dort in der Ewigkeit ohne Stückwerk genossen wird. Das gebe der Heiland nach Seiner Erbarmung! – Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/h/hofacker/hofacker-predigt_am_vierzehnten_sonntage_nach_trinitatis.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain