Hofacker, Ludwig - Predigt am Sonntage Quinquagesimä oder Estomihi

Hofacker, Ludwig - Predigt am Sonntage Quinquagesimä oder Estomihi

Das Wort vom Kreuz.

Text: Luc. 18,31 - 43.

JEsus nahm aber zu Sich die Zwölfe, und sprach zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn Er wird überantwortet werden den Heiden; und Er wird verspottet und geschmähet und verspeiet werden. Und sie werden ihn geißeln und tödten, und am dritten Tage wird Er wieder auferstehen. Sie aber vernahmen der keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das gesagt war. Es geschah aber, da Er nahe zu Jericho kam, saß ein Blinder am Wege, und bettelte. Da er aber hörete das Volk, das durchhin gieng, forschte er, was das wäre. Da verkündigten sie ihm, JEsus von Nazareth gienge vorüber. Und er rief und sprach: JEsus, Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner! Die aber vorne an giengen, bedroheten ihn, er sollte schweigen. Er aber schrie vielmehr: Du Sohn Davids erbarme Dich meiner! JEsus aber stand stille, und hieß ihn zu Sich führen. Da sie ihn aber nahe bey Ihn brachten, fragte Er ihn und sprach: Was willst du, daß ich dir thun soll? Er sprach: HErr, daß ich sehen möge. Und JEsus sprach zu ihm: Sey sehend; dein Glaube hat dir geholfen. Und alsobald ward er sehend, und folgete Ihm nach, und preisete Gott. Und alles Volk, das solches sahe, lobete Gott.

Als der Heiland auf Seiner letzten Reise nach Jerusalem begriffen war, nahm Er nach unserem Evangelium die zwölf Jünger besonders, und eröffnete ihnen, was Er auch schon früher gethan hatte, daß Ihm der schmählichste und schmerzhafteste Missethäters-Tod in Jerusalem bevorstehe; doch werde Er am dritten Tage wieder auferstehen. Die Absicht, die der HErr JEsus mit dieser Leidens-Verkündigung hatte, ist leicht zu errathen. Er wollte die Jünger auf diese Schreckenszeit vorbereiten, sie mit dem Gedanken daran vertraut machen, und verhüten, daß sie nicht unversehens von dem bösen Stündlein überfallen würden. Aber das ist auffallend, was von den Jüngern geschrieben steht: „sie aber vernahmen der keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das gesagt war.“ Wie kam dieses? waren die Worte nicht einfach genug? Nein, einfacher kann man sich wohl nicht ausdrücken, als Sich der Heiland in dieser Leidens-Verkündigung ausgedrückt hat. Die Ursache, warum sie das Wort ihres Meisters nicht vernahmen, lag in ihnen selber, in ihren vorgefaßten Meinungen, Hoffnungen und Vorstellungen vom Messiasreich, zu welchen der Gedanke an das Leiden und den Kreuzestod des HErrn nicht taugte. So hielten sie die klaren Worte des Heilandes für eine dunkle Rede; dachten: vielleicht spricht Er bildlich und gleichnißweise; mochten Ihn auch nicht um fernere Auskunft bitten, weil ihnen die Sache verdrießlich und widrig war, und ließen die Rede des HErrn vorüberstreichen, ohne sie zu verstehen oder verstehen zu wollen.

So gehet es noch jetzt dem Worte vom Kreuz. Viele sind offenbare Feinde desselbigen; Viele vernehmen es nicht; Wenige fassen es. Dieß wollen wir weiter in Betrachtung ziehen, und ich will euch mit Gottes Hülfe vorstellen

das Wort vom Kreuz.

Ich will reden

  • von den Leuten, die es nicht fassen;
  • von den Leuten, die es fassen.

Erbarmungsreicher Heiland! erbarme Dich über uns. Wir haben von Natur Fleisches- und Welt-Augen. Darum hast Du in Deiner tiefen Erniedrigung für uns, wie wir von Natur sind, keine Gestalt, noch Schöne. Wir ärgern uns an Deinem Kreuz; unsere Natur stutzt und flucht darüber. O, thue die Decke von unserem Gesichte weg, und zeige uns Deine Kreuzesherrlichkeit. Denn die Herrlichkeit Deines Kreuzes sehen, das stillt den Durst des Herzens, das ist Leben und Seligkeit. Amen!

I.

Unter dem Worte vom Kreuz versteht man die Geschichte von der tiefen Erniedrigung des Sohnes Gottes, da Er in Gethsemane, auf Gabbatha und auf Golgatha die tiefsten, die schmählichsten, die schmerzlichsten Leiden an Seinem heiligen Leibe und in Seiner Seele erdulden mußte, bis Er endlich vor den Augen einer großen Volksmenge am Kreuze angenagelt starb, wodurch Er die Schuld und Strafe der sündigen Menschheit wesentlich gebüßt, und allen Denen, die an Ihn glauben, Vergebung der Sünden und ewiges Leben erworben hat. Unser Katechismus drückt das Wort vom Kreuz auf folgende Weise aus: „ich glaube, daß JEsus Christus, wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch, sey mein HErr, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Silber oder Gold, sondern mit Seinem heiligen theuern Blut und mit Seinem unschuldigen Leiden und Sterben, auf daß ich Sein eigen sey, und in Seinem Reich unter Ihm lebe, und Ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit.“ Es hat also vor 1800 Jahren ein Mann in Palästina gelebt, welcher zugleich der eingeborne Sohn Gottes, der Schöpfer aller Dinge war. Dieser Mann hat sich in Seinem drey und dreyßigsten Jahre, obwohl mit großem Widerstreben Seiner menschlichen Natur, doch williglich den Händen Seiner Todfeinde überliefert, Er hat Sich von ihnen binden, als einen Uebelthäter verklagen, vor das heidnische Gericht schleppen, verspotten, verspeien lassen; Er hat es gedulde, daß man Ihn in's Angesicht schlug; Er hat es geduldet, daß man Ihn an den Geißelpfahl band, und Seinen heiligen Rücken mit Geißelhieben zerfleischte; es ist an Ihm erfüllet worden die Weissagung, die da spricht: „Ich hielte meinen Rücken dar Denen, die mich schlugen, und meine Wangen Denen, die mich rauften; Mein Angesicht verbarg Ich nicht vor Schmach und Speichel, Ich habe Mein Angesicht dargeboten als einen Kieselstein“ (Jesaj. 50,6.7.). Sodann hat Er Sich hinausführen lassen, wie man einen gemeinen Mörder oder Räuber hinausführt auf den Richtplatz; Er hat Sich da an Händen und Füßen annageln lassen an ein Holz, und ist so zwischen Himmel und Erde sechs Stunden lang, in der alleräußersten Verachtung, nackend, im peinlichsten Durst, unter unnennbaren Qualen, in innerer und äußerer Finsterniß dagehangen, bis Er rufen konnte: „es ist vollbracht!“ und Seinen Geist aufgab. Dieß Alles aber hat Er deßwegen erduldet, damit Er uns erlösete. „Fürwahr! Er trug unsere Krankheit, und lud auf sich unsere Schmerzen; um unserer Missethat willen ist Er verwundet, und um unserer Sünde willen ist Er zerschlagen. Die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch Seine Wunden sind wir geheilet.“ - „Denn Gott hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“ (Jesaj. 53. 2. Kor. 5.).

Dieß ist das Wort vom Kreuz. Was ist einfacher als diese Geschichte und Lehre? Ich achte, ein jedes Kind könne sie fassen. Was ist merkwürdiger als diese Geschichte? Gibt es etwas Denkwürdigeres, als wenn uns erzählt wird, daß unser Schöpfer und Gott wie ein Missethäter am Kreuz gestorben sey? Sollte nicht jedes Menschen Aufmerksamkeit durch eine solche Erzählung auf das Höchste gespannt werden? Sollte ein Mensch, der diese Geschichte hört, auch noch ruhig schlafen können, bis er derselben auf den Grund gekommen und gewiß worden ist, ob sie wahr ist oder eine Fabel? Sollte nicht Jeder, dem die hohe Absicht, die in dem Leidens- und Todes-Wege Seines Schöpfers verborgen lag, verkündet wird, auf das Innigste gerührt werden und mir beyden Händen zugreifen? So sollte man es freilich meinen. Und es würde auch so seyn, wenn die Erlösung, die der Heiland erfunden hat, eine irdische wäre. Wenn heute ein Edikt von unserem irdischen Könige käme, wornach euch eure Steuern sammt den alten Steuerresten nachgelassen wären: was für eine Bewegung würde das unter uns anrichten? Wie würde man zusammenlaufen, was für ein Fragen und Gegenfragen würde dieß veranlassen, wie würde man der Sache auf den Grund zu kommen suchen, um sich ja nicht zu täuschen! Nun ist schon lange ein Edikt vom König aller Könige ausgegangen, das die Erlassung aller Sündenschuld verheißt, und dieses Edikt ist mit dem Blute des Sohnes Gottes unterschrieben, und mit einem Eide versiegelt (Hebr. 6,16.17.); aber siehe! die Meisten hören die Verkündigung dieses Willens Gottes ganz gleichgültig an, wenige achten darauf, und unter diesen Wenigen der größte Theil mit heimlichem oder offenbarem Widerwillen, Aerger und Feindschaft.

Woher kommt das? Ich will es euch kurz sagen. Das Wort vom Kreuz ist das Wort, der Grund, der Same, der Kern, die Wurzel der Wiedergeburt, Christus der Gekreuzigte, ist der Mittelpunkt des neuen Lebens, des Lebens aus Gott. Von diesem Mittelpunkte gehen alle Bewegungen und Regungen des geistlichen Lebens aus, auf diesen Mittelpunkt führt Alles zurück; Er ist der eigentliche Gegenstand des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung, die ewige Quelle, aus welcher der Glaube, die Liebe und die Hoffnung schöpft. Wer darum das Kreuz Christi predigt, der offenbart eben damit das Höchste und Tiefste, das Heimlichste, das eigentliche Wesen des Reiches Gottes. Wie könnte nun ein Mensch, der fleischlich gesinnet ist, hieran seine Freude haben! Nein, jeder unwiedergeborne Mensch hat in der Tiefe seines Herzens eine Widrigkeit dagegen, er mag's glauben oder nicht; denn „das Fleisch gelüstet wider den Geist.“

Sehet die Apostel an in unserem heutigen Evangelium! Ob ihnen gleich der Heiland nur Sein Leiden und Seinen Tod, nicht aber den Zweck Seiner Leiden eröffnete, wovon sie vollends gar nichts gefaßt hätten, so vernahmen sie es doch nicht. Warum? weil ein leidender und sterbender Messias ihnen undenkbar war. Sie liebten den Heiland; sie glaubten an Ihn als an den Sohn Gottes; sie folgten Ihm nach: aber der Grundzug an dem Bilde, das sie vom Heilande hatten, war Herrschaft und Herrlichkeit, und weil sie sich diese Herrschaft und Herrlichkeit auf fleischliche Weise dachten, so schickte sich Schmach und Verspottung und Geißelung und Kreuzigung nicht dazu. Ihre Vorstellungen waren noch grob, fleischlich, irdisch; sie waren zwar fromme, aber, noch unbekehrte Leute; erst das Leiden und Sterben ihres Meisters mußte ihnen zur Wiedergeburt helfen. „Wer aber nicht von Neuem geboren ist, der kann das Reich Gottes nicht sehen“ - sagt unser HErr; darum konnten sie die höchste Herrlichkeit des Reiches Gottes, welche in der tiefsten Erniedrigung des Sohnes Gottes sich offenbarte, nicht sehen; vernahmen nichts davon; stießen und ärgerten sich daran.

Zwar gibt es in unsern Tagen viele Lehrer, welche fast von nichts zu reden wissen als von jüdischen Vorurtheilen, die alle Schuld des Nichtverstehens bey den Jüngern auf diese jüdischen Vorurtheile schieben, wie wenn in unsern, wie sie es nenne, aufgeklärteren und vorurtheilsfreieren Tagen das Wort vom Kreuz einen viel offeneren Weg in die Herzen hätte als damals. Allein diese irren sehr. „Der natürliche Mensch“ - sagt Paulus - „vernimmt nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Thorheit, er kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich gerichtet seyn“, und dieser natürliche, dieser unwiedergeborne Mensch ist in unsern Zeiten der nämliche wie damals. Ein leidender, ein sterbender Gott und Heiland ist der natürlichen Vernunft etwas Fremdes, etwas Widriges, etwas Abenteuerliches; es ist eine geheime Feindschaft im menschlichen Herzen gegen diese Lehre, und davor kann nichts schützen, nicht Klugheit, nicht Aufklärung, nicht Wissenschaft, nicht Gutmüthigkeit, auch nicht natürliche Frömmigkeit; das Wort vom Kreuz bleibt ein Stein des Anstoßes jedem natürlichen Menschen; es hat wie der Apostel selbst zugibt (1. Kor. 1,21.), etwas Thörichtes für die natürliche Vernunft; es findet keinen Raum im fleischlichen Menschen. Ja! wenn Jemand sich Mühe geben, und diese Lehre in seinen Kopf und sein Herz hineinzwingen wollte, so wird ihm dieß nicht gelingen, wie ein gewisses Lied sagt:

Dieß ist das wundervolle Ding,
Erst scheint's für Kinder zu gering,
Zuletzt zerglaubt ein Mann sich d'ran,
Und stirbt wohl, eh' er's glauben kann.

So ist es schon in den ersten Zeiten gewesen. „Wir predigen“ - sagt Paulus - „Christum, den Gekreuzigten, den Juden ein Aergerniß, den Griechen eine Thorheit.“ Es sollte mir ein Leichtes seyn, liebe Zuhörer, euch an der ganzen Geschichte der Kirche Christi zu zeigen, wie der ungebrochene Sinn der Menschen sich von jeher hauptsächlich an dieser Lehre gestoßen, hauptsächlich diese Lehre zu verdrehen, zu vernichten gesucht hat; wie der menschliche Witz von jeher darauf ausgegangen ist, das scheinbar Thörichte von dieser Lehre zu entfernen; und wie dieß immer nur auf Kosten der Wahrheit geschehen konnte. Es ist aber nicht nöthig, daß wir so weit hinaufsteigen in der Geschichte, um diesen Widerwillen der Menschen gegen das Wort vom Kreuz zu entdecken; er ist ja in unserer Zeit offenbar genug geworden. Denn auf was haben es die großen Aufklärer und Vernunftgeister, die als die rechten Lichtbringer sich in dieser Zeit aufgestellt, und von nichts als von Licht und von Ausrottung des alten Aberglaubens geredet haben und noch reden, auf was haben es diese Widerchristen besonders angetragen? Antwort: auf Untergrabung, auf Ausrottung des Worts vom Kreuz. Daß ein Gott sey, daß Er denen, die Ihn suchen, ein Vergelter sey, daß ein anderes Leben sey, daß wir verbunden seyen, unserem Gewissen zu folgen, daß die Lehre Christi, Seine Sittenlehre, unvergleichlich schön sey u.s.w., das wollen sie nicht gerade umstoßen; aber daß Er uns durch Sein Leiden und Sterben mit Gott versöhnt habe, das ist ärgerlich! das reizt ihren Grimm, diese - wie sie sich nicht entblöden, das Wort vom Kreuz zu nennen - veraltete, unvernünftige, gotteslästerliche Lehre, diese jüdische Fabel ist unerträglich; eine jüdische Fabel heißen sie die Lehre von der Versöhnung, obgleich offenbar ist, daß die Juden von jeher den größten Anstoß an dieser Lehre genommen haben und noch nehmen. O liebe Zuhörer! In unserer letzten betrübten Zeit ist die Feindschaft gegen das Kreuz Christi besonders herausgebrochen! Was ist das elende Tugendgeschwätz, womit die ganze Welt als mit einem Strome überschwemmt ist, das Rühmen vom Adel, von der Würde und Vortrefflichkeit der menschlichen Natur; welches die stolzen Sünder gegenwärtig auf das Höchste treiben, anders als eine Feindschaft gegen das Kreuz Christi! Was sind die Freiheiten, die man sich in der Religion nimmt, wo Mancher sich aus seinen dürftigen Einfällen seine eigene Religion zusammenstoppelt, und diese Paar dürftigen Einfälle dann mit großer Wichtigkeit seine Ansichten heißt, was ist dieß anders als eine Feindschaft und Empörung der Menschen gegen das Kreuz Christi, die sich nicht unter die im Kreuz des Sohnes Gottes offenbar gewordene Weisheit Gottes demüthigen wollen. O äußere dich nur so unter diesen selbstweisen Menschen, als ob du an die Kraft des Blutes und der Wunden JEsu glaubest: mit welchem stolzen Hohne werden sie deine Worte von sich weisen! wie werden sie dich als einen erbärmlichen Schwachkopf verachten! Doch dieß ist eigentlich nicht zu verwundern. Die Heiden haben von jeher getobt, und die fleischlichen Leute vergeblich geredet gegen den HErrn und Seinen Gesalbten. Je weiter es die Menschen in der Ueppigkeit, in der Ausbildung der Elemente des Weltgeistes, in Augenlust, in Fleischeslust, in hoffärtigem Leben treiben, desto widerlicher muß ihnen das Wort vom Kreuz seyn; denn die Feinde des Kreuzes Christi sind - wie der Apostel sagt - die, welchen ihr Bauch ihr Gott ist, die Irdischgesinnten. Daß Menschen, die ihr Theil dahin nehmen wollen, überhaupt nicht am Heiland, am allerwenigsten aber am Wort vom Kreuz ihre Freude haben, und daß ihre Widrigkeit um so höher steigen muß, je tiefer sie im Weltsinn und Hochmuth versinken, das ist ganz natürlich und von jeher so gewesen. Aber was sollen wir dazu sagen, wenn Menschen, die doch nach dem Reiche Gottes und Seiner Gerechtigkeit ernstlich trachten, wenn Leute, die ihre Seele gern erretten und zur Ausbeute davon tragen möchten, das Wort vom Kreuz in seiner Einfachheit verachten, und dasselbe in guter Meinung oder in allerhand eigenen Klügeleien in eine trostlose Verläugnungs-Lehre verwandeln, wobey aus dem Evangelium von der Vergebung der Sünden ein Gesetz der Heiligen gemacht wird, und sonst nichts! So häufig dieser Abweg in unserer Zeit ist, so deutlich zeugt er von der Widrigkeit und Abneigung des menschlichen Herzens gegen das Wort vom Kreuz.

Wenn ich nun freilich auf euch sehe, liebe Zuhörer, so scheint das, was ich bisher von der Feindschaft des menschlichen Herzens gegen das Wort vom Kreuz gesagt habe, nicht völlig richtig zu seyn. Der größte Theil unter uns ist doch noch unbekehrt, das werdet ihr selbst zugeben; wenigstens ist dieß meine Ueberzeugung. Aber siehe, ob euch gleich das Wort vom Kreuz fleißig gepredigt wird, so regt sich doch bey euch keine besondere Widrigkeit dagegen; ja, Viele haben eine Freude daran. Wie ist dieß zu erklären? Es ist leicht zu erklären. Erstlich fragt es sich, ob es denn wirklich so richtig sey, daß Niemand da ist, dem die Predigt von Christus, dem Gekreuzigten, eine Thorheit oder ein Aergerniß ist. Ich vermuthe das Gegentheil. Wie Mancher unter uns mag schon in seinem Herzen geseufzt oder gemurrt haben über diesem unaufhörlichen Ruf zur Buße und zur Bekehrung durch den Glauben an JEsum, den Gekreuzigten und Auferstandenen! Aber gesetzt auch, dieß wäre nicht so, so fragt es sich weiter, ob Viele unter uns das Wort vom Kreuz auch schon gehört haben. Nun! mit den Ohren habt ihr es wohl gehört; aber ich meine, ob es euch auch in das Herz, oder auch nur in den Verstand hineingefallen, und ein Gegenstand eures Nachdenkens geworden sey. Die Sünde, der irdische Sinn macht den Menschen gar stumpf und hart! da prallen die wichtigsten und schneidendsten Wahrheiten von dem Herzen ab, wie ein Pfeil von einem Felsen; aber sie werden, ungeachtet sie keinen Eindruck machen, doch vielleicht sogar mit Wohlgefallen betrachtet, weil man ihrer von Jugend auf gewohnt ist, und die reine christliche Lehre darin findet; ja, man kann auf diesem Wege sogar eine wahre Freude am Wort vom Kreuz haben, ohne daß des Herzens Grund Etwas davon wüßte, wie der Heiland gesagt: „das Wort Gottes falle hin und wieder auf den Fels, wo es lustig aufgehe, aber keine Wurzel habe.“ O meine lieben Zuhörer! So lange ihr in eurem Christenthum nach väterlicher, angeerbter Weise dahingehet, oder euch mit einer oberflächlichen, sinnlichen Freude am Evangelium begnüget, so lange wird euch freilich die in eurem Herzen liegende Abneigung gegen das Wort vom Kreuz nicht offenbar werden. Aber lasset nur des Herzens Grund aufgerührt werden; lasset einen Lichtsfunken hineinfallen, eine Ahnung davon, daß wenn die Geschichte des Heilandes ihre Richtigkeit hat, ihr verpflichtet seyd, hinfort nicht mehr euch selbst zu leben, sondern Dem, der für euch gestorben und auferstanden ist: da wird sich des Herzens Grund bald empören, und die Widrigkeit, die darin steckt gegen das Wort vom Kreuz, wird an den Tag kommen.

Es kann ja nicht anders seyn. Wir wollen uns einen frommen Menschen denken, der aber nicht bekehrt ist; denn es gibt, wie wir auch am Beispiele der Apostel sehen, viele fromme Menschen, die nicht bekehrt sind. Worin besteht die Religion eines solchen frommen Menschen? Welches sind seine Gedanken, die er hat vom Heilande, von Gott und unserem Verhältnisse zu Ihm? Je frömmer Einer ist, desto größere Gedankenbilder macht er sich vom Heiland, desto mehr sucht er alle menschliche Schwachheit vom Heiland zu entfernen, und Sein Bild den Vollkommenheits-Begriffen, die er in sich hat, anzupassen. Am Sohne Gottes will er göttliche Herrlichkeit, keine menschliche Unvollkommenheit erblicken, und da um so viel mehr, je größere Ehrfurcht er vor Ihm hat. Wie ärgerlich muß nun einem solchen Menschen der Anblick menschlicher Schwachheit seyn, der ihm am Bilde des HErrn JEsu, namentlich in Seiner Leidensgeschichte, begegnet? Wenn er liest, daß JEsus Sein Angesicht straks nach Jerusalem gewendet habe, ob Er gleich wußte, daß der schmähliche Kreuzestodt dort auf Ihn warte: so freut er sich über den Glaubensmuth des Heilandes, aus dem er gar zu gerne einen Helden machen möchte. Wenn er aber hört, daß schon bey Seinem Einzug in Jerusalem die Seele des HErrn sehr betrübt gewesen sey, weil die zwey Gedanken in Ihm kämpften: 1) der Wunsch, Seines Leides überhoben zu seyn, und 2) der Wunsch der Verherrlichung des Vaters (Joh. 12,27.28.), so ist ihm das schon anstößig. Und wenn er endlich sieht, wie der Heiland in Gethsemane anfängt zu zittern und zu zagen, wie Er von dem Grauen des Todes übermannt wird, wie Er sich in den Staub legt vor dem Vater, und so flehentlich um Abwendung des Kelches bittet, so ist ihm dieß ein unerträglicher Anblick; da heißt es dann: „wir sahen Ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte“ (Jes. 53,2.). Und so ist es auch mit den übrigen Religionsbegriffen, die man im unbekehrten Zustande in sich herumträgt - das Wort vom Kreuz widerspricht ihnen. Fromme, aber unbekehrte Leute denken sich den Menschen als ein unvollkommenes, schwaches Geschöpf; sie setzen gerne einen guten Willen bey sich selber voraus; sie sehen ihre Sünden und Fehler als Schwachheiten gegen Gott; sie glauben, wenn sie auch eine sündhafte Verdorbenheit des Menschen annehmen, doch nicht, daß sie durchaus, in der Wurzel, in ihren innersten Trieben und Neigungen vergiftet seyen. Das Wort vom Kreuz aber macht alle Menschen zu gottlosen Sündern, zu Majestätsverbrechern, und schneidet allen Ruhm der Tugend oder des guten Willens geradezu ab. O, was ist das für eine bittere Arzney! Fromme, aber unbekehrte Leute denken über ihr Verhältniß zu Gott ungefähr so: da oben im Himmel ist Gott oder der Heiland; wenn ich Seine Gebote halte; wenn ich recht treu bin; wenn ich mich reinigen lasse von aller Untugend; wenn ich die Welt, und was in der Welt ist, verläugne; wenn ich göttlich denke, göttlich rede, göttlich handle: so macht Er mich selig. Dieß ist die höchste Spitze in der Religion, auf die es die natürliche Vernunft treiben kann; denn es muß ein Mensch schon recht fromm seyn, wenn er solche Religionsgrundsätze haben soll. Aber das Wort vom Kreuz sagt ganz anders, es sagt: „Christus JEsus ist in die Welt gekommen, Sünder selig zu machen;“ Er ist zu dem Ende als ein Fluch am Kreuzholze gestorben. Wenn nun ein gottloser Sünder, dergleichen alle Menschen sind, dieß glaubt: so wird er selig durch solchen Glauben bloß lauterlich um Christi willen. Sehet da eine ganz andere Religion als jene Vernunft-Religion. Hat man die erste, so ist klar, daß man die zweite nicht fassen kann, ja, daß die zweite als thöricht erscheinen muß. Daher hat schon Celsus, ein Feind Christi, der im dritten Jahrhundert lebte, sich über das Evangelium auf folgende Weise herausgelassen: „Bei den alten Götterdiensten“ - sagt er - „hieß es: wer reine Hände und ein unbeflecktes Gewissen hat, der komme herbey; im Christenthum aber heißt es: wer unreine Hände und ein beflecktes Gewissen hat, wer ein Kind und ein Narr ist, der trete herzu, der ist angenehm.“ Das machte er also dem Evangelium zum Verbrechen, daß es die Sünder selig mache. Der hochmüthige Pharisäergeist, der in allen Menschen haust, wie sie von Natur sind, möchte freilich lieber einen Himmel voll von aufgeblasenen Heiligen und Ehrenleuten; daß die Gottlosen gerecht werden sollen durch das Blut des Lammes, das scheint ihm thöricht und niederträchtig. Aber Gott macht sich nichts aus den Urtheilen der stolzen Vernunftsgeister. Da die Welt in ihrer Weisheit Gott in Seiner Weisheit nicht erkannte, da gefiel es Gott wohl, durch thörichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben. Und dabey hat es sein ewiges Verbleiben. Gott hat die hochmüthigen Heiligen nicht zu Rath gezogen, da Er die Erlösung der sündigen Menschheit veranstaltete, nimmt sie auch noch nicht in Seinen Rath, läßt Sich auch nicht von ihnen meistern; der im Himmel wohnet, lachet ihrer, und der HErr spottet ihrer, und macht selig nach Seinem freien Wohlgefallen die Unmündigen und Einfältigen, die Mühseligen und Beladenen, die Sünder und Gottlosen, um Christi willen, wenn die Pharisäer auch bersten vor Grimm.

Das Wort, das an das Kreuz gemalt,
Im Blut-Rubinen-Feuer strahlt.
Das heißt: hier hängt der starke Gott,
Und schmeckt an uns'rer Statt den Tod,
Darüber stutzt und fluchet die Natur,
Und Gott betheuert es mit einem Schwur:

So wahr ich lebe, spricht der Mann,
Der nichts als Amen sagen kann,
Und der unfehlbar Wort und That
Im Augenblick beysammen hat,
Und was Er will, das läßt Er Sich nicht reu'n:
Mein Sohn, mein Sohn soll Hoherpriester seyn.

Und dabei wird es bleiben.

II.

Wer ist denn nun tüchtig, das Wort vom Kreuz zu fassen? Antwort: das Wort vom Kreuz faßt Niemand als diejenigen, welchen ihr eigenes Religionshaus über dem Kopf zusammenbricht. Leute, die an ihrem eigenen Guten, an ihrer eigenen Gerechtigkeit verzagen, welche alle andere Hoffnung, aller andere Trost, aller andere Halt entgeht, die verlassen und bloß dastehen; diese sind fähig, das Wort vom Kreuz zu fassen, zu verstehen, es in ihr Innerstes aufzunehmen; diesen wird es das Wort des ewigen Lebens.

Dieß können wir am besten Beispiele der Jünger sehen. Die nehmlichen Männer, die nach unserem heutigen Evangelium die Worte des Heilandes von Seinem Leiden, Sterben und Auferstehen gar nicht verstanden, gaben ein Vierteljahr nachher am Pfingstfeste gewaltiglich Zeugniß vom Tode und von der Auferstehung JEsu Christi; der gekreuzigte und auferstandene Messias war der Hauptgegenstand ihrer Liebe, ihres Glaubens, ihrer Hoffnung, ihrer Sehnsucht, die Triebfeder ihres Handelns und ihres Redens, in Ihm lebten, webten und waren sie; Er war ihr Alles. Wie ist diese große Veränderung in ihnen bewirkt worden? Ihr sprechet: durch den Heiligen Geist. Ja wohl durch den Heiligen Geist; aber dieser Geist hätte ihre Herzen nicht erfüllen können, wenn ihm nicht Bahn gemacht worden wäre. Wie gieng nun das zu? Ich will es euch kurz sagen: Das, was der Heiland im heutigen Evangelium von Seinem Ausgang, den Er in Jerusalem nehmen sollte, prophezeit hatte, gieng in buchstäbliche Erfüllung. Er wurde den Heiden überantwortet, verspottet, geschmäht, verspeiet, gegeißelt, getödtet, und am dritten Tage stand Er wieder auf. O! eine harte Zeit für die guten Jünger! Da wurde erfüllt, was der Heiland ihnen gesagt hatte: „ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen, ihr aber werdet traurig seyn.“ Ihre schönsten Hoffnungen giengen zu Schanden; alle ihre vorherigen Ansichten vom Messiasreiche fielen zu Boden; ihr ganzer Glaubensgrund wankte; es war eine Zeit der Läuterung für sie, als sie ihren geliebten meister dem Willen Seiner Feinde, ja dem Tode Preis gegeben sahen, eine Zeit der Geburtswehen, wie ihnen ihr Meister verkündigt hatte (Joh. 16,21.). Ein neuer Grund sollte gelegt werden, darum mußte das Alte vergehen. „Wir hofften, Er sollte Israel erlösen“ - sprachen die zwey Jünger, die nach Emmaus giengen - „denn Er war ein Prophet mächtig von Thaten und Worten vor Gott und allem Volk, und nun haben Ihn unsere Hohenpriester und Obersten überantwortet zur Verdammniß des Todes und gekreuzigt. - Auch haben uns erschreckt etliche Weiber der Unsern, die sind frühe bey dem Grabe gewesen, haben Seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben ein Gesicht der Engel gesehen, welche sagen, Er lebe.“ Man hört es ihnen an, wie ihr ehemaliger Hoffnungsgrund zerstört war, ohne daß ein neuer an seine Stelle getreten wäre; sie waren ganz irre, rathlos, tappten in der Finsterniß. So mußte es bey den Jüngern kommen. Liebe Zuhörer! nun waren sie empfänglich für das Wort vom Kreuz, denn als nun der Heiland zu ihnen sagte: „mußte nicht Christus Solches leiden, und zu Seiner Herrlichkeit eingehen?“ als Er anfieng von Mose und allen Propheten, und legte ihnen alle Schriften aus, die von Ihm gesagt waren: wie gieng's da? Vernahmen sie es auch wieder nicht? War die Rede ihnen auch wieder dunkel? Nein! „Brannte nicht unser Herz in uns“ - sagten sie nachher - „als Er mit uns redete auf dem Wege, da Er uns die Schrift öffnete!“ Sehet, welche Aenderung!

Und so ist es noch jetzt. Wenn ein Mensch, der bisher sich in seinem Wohlverhalten gespiegelt hatte, die große Entdeckung an sich macht, daß er ein undankbarer, höllenwürdiger Verächter der Gnade ist; wenn ein Mensch, der sich bisher auf seine Liebe zu seinem Schöpfer etwas zu gut gethan hatte, findet, daß er seinen Schöpfer gar nicht gekannt, und im Grunde nur sich selbst geliebt habe; wenn ein Mensch, der sich bisher auf seine Erkenntniß im Christenthum verlassen hatte, entdeckt, daß er ein nichtswürdiger Heuchler ist, und bei allem Wissen doch nichts Rechtes weiß; mit einem Worte: wenn in einem Menschen die Frage lebendig wird: „was kann der Mensch geben, daß er seine Seele löse?“ und er trifft weder in sich, noch in der ganzen weiten Welt ein Lösegeld an: dann, liebe Zuhörer, dann ist gute Zeit zur Aufnahme des Wortes vom Kreuz. Es muß aber ein Mensch weit heruntergebracht seyn; er muß recht hoffnungslos seyn; er muß recht gottlos seyn in seinen Augen; er muß sonst gar keinen Ausweg mehr wissen, wenn er kein Aergerniß mehr am Wort vom Kreuz nehmen, und sich entschließen soll, sich der blutigen Gnade in die Arme zu werfen. So lange er noch einen kleinen Ausweg nur vermuthen kann, thut er es nimmermehr. Wenn er aber bey seinem großen Schiffbruch gar nichts mehr sieht, auf dem er sich retten könnte; wenn kein Brett und Stückchen Holz mehr in der Nähe ist, das er ergreifen könnte: dann entschließt er sich endlich, das verachtete Kreuzholz zu ergreifen, ist froh, wenn er es noch fassen kann, und schwimmt damit sicher und wohlbewahrt an's Land, in's Vaterland.

Liebe Zuhörer! Diese Gedankenumschmelzung, dieser geistliche Bankerot kann uns nicht erspart werden, wenn wir sollen selig werden. Das Wort vom Kreuz ist ein neuer Wein, diesen kann man nicht in alte Schläuche fassen, wo anders die Schläuche zerreißen, und der Wein wird verschüttet. Mit unsern frommen Wünschen, mit unsern guten Meinungen, die aus dem Fleisch kommen, können wir das Reich Gottes nicht erlangen; so bleiben wir Feinde des Kreuzes Christi. Das Alte muß zusammenstürzen, sonst kann das Neue nicht Platz gewinnen. Unsere Frömmigkeit, unsere Ehrlichkeit, unsere Tugend, unser ganzer Ruhm muß zu Schanden werden; als Gottlose, als Unwissende, als Blinde, als Narren, als Kinder der Verdammniß müssen wir uns erkennen lernen, wie wir es denn auch sind.

Nackt und bloße,
Gnadenlose,
Solche arme, arme Sünder,
Macht dieß Wort zu Gottes-Kinder.

O daß der HErr bald bey uns Allen diese selige Zeit herbeyführte! O daß bald die Götzen wichen, damit JEsus allein Gott wäre! Daß uns unsere tiefen Seelenwunden offenbar würden, damit sie geheilt werden könnten durch die Wunden des Lammes! Eile, HErr! und hilf uns zum Leben! Amen.

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