Hofacker, Ludwig - Predigt am fünften Sonntage nach dem Feste der Erscheinung

Hofacker, Ludwig - Predigt am fünften Sonntage nach dem Feste der Erscheinung

Text: Kol. 3,12 - 17.

So ziehet nun an, als die Auserwählten Gottes, Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld; und vertrage Einer den Andern, und vergebet euch unter einander, so Jemand Klage hat wider den Andern; gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr. Ueber Alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Gottes regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen seyd in Einem Leibe, und seyd dankbar. Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen, in aller Weisheit; lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen, und geistlichen lieblichen Liedern, und singet dem Herrn in eurem Herzen. Und Alles, was ihr thut mit Worten oder mit Werken, das thut Alles in dem Namen des HErrn JEsu, und danket Gott und dem Vater durch Ihn.

Es ist eine häufige Erfahrung, daß Menschen, welche niemals zum Leben, das aus Gott ist, gekommen, und ihr Leben lang im eiteln Wandeln nach väterlicher Weise dahingegangen sind, doch mit einer großen, dem Auge des Christen schauerlichen Ruhe und Sorglosigkeit in die Ewigkeit hinübergehen, als hätten sie Alles gethan, was der HErr von einem Auserwählten und von einem Erben Seines unbeweglichen Reiches erwartet, als hätte es mit ihrem Schuldbuche und dessen Tilgung seine volle Richtigkeit, und es könnte sie auf ihrem Wege durch's Todesthal nicht das Geringste anfechten. Das sind solche Seelen, denen es überhaupt an aller Erkenntniß des wahren Gottes fehlt, und die Sein Wort niemals in seiner Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit kennen und achten gelernt, großentheils sich auch nie die geringste Mühe darum gegeben haben. Da bildeten sie sich denn einen Gott nach ihrer Eigenliebe, nach ihrem verzogenen, weltlichen Gefühl, nach ihrer Gemächlichkeit und Unwissenheit, und fahren auf den Namen dieses selbstgemachten Götzen dahin. Ach, was werden sie empfangen, diese sorglosen Seelen, denen man so oft mit dem Worte Gottes nicht zu nahe kommen durfte, ohne ihren Widerwillen und Widerspruchsgeist aufzureizen; die es nicht hören und nicht wissen wollten, jenes unwiderrufliche Wort des HErrn JEsu, daß ohne ein hochzeitliches Kleid Keiner zum Hochzeitmahl des großen Gottes kommen, und Niemand ohne Wiedergeburt in das Himmelreich eingehen dürfe! Lasset uns anziehen, meine Lieben! den Schmuck, der den Auserwählten Gottes gebührt, das hochzeitliche Kleid des wahren Glaubens und der ungefärbten Liebe; lasset uns nicht gleichen den Thoren, die nicht wissen, was sie Böses thun, und die sich rein dünken, da sie doch nicht gewaschen sind von ihrem Unflath. Denn eben der Mangel an rechtschaffenen Früchten, besonders aber der Mangel an Liebe ist es, woraus man erkennt, daß die wenigsten Menschen der göttlichen Natur theilhaftig sind. Das will ich heute weiter auseinandersetzen, und nun

  • den Beweis führen, daß die meisten Christen keine Liebe haben; sodann
  • zeigen, warum es also sey, und woher es komme.

I. Der Beweis, dass die meisten Christen keine Liebe haben.

Ich habe also den Beweis zu führen: daß die Meisten, welche sich Christen nennen, ohne Liebe sind. - So wenig schwer es mir werden sollte, ganz klar und deutlich auseinanderzusetzen, daß die Welt im Argen liegt, daß die meisten Menschen und Christen unter Botmäßigkeit des Teufels stehen, und ihm als ihrem Herrn dienen, bis er sie in ihrer Verblendung in sein Elend und in sein ewiges Feuer hinabziehen kann; - so leicht es mir werden sollte, das hier Gesagte deutlich und klar zu beweisen: so will ich es doch nicht thun, sondern nur nach unserer Epistel einige Merkmale euch zu Gemüthe führen, an welchen man erkennen kann, wie diejenigen Menschen beschaffen sind, die nicht im Argen liegen, wonach dann Jeder unter uns nach seinem Gewissen sich selbst richten, und seinen eigenen Stand gegen Gott beurtheilen und sehen möge, ob er ein guter Baum sey, der gute Früchte bringt, oder ein fauler Baum, der arge Früchte oder gar keine trägt; ein Baum, dem die Axt zum Abhauen schon an die Wurzel gelegt ist; ob er ein Baum sey, der zum Verbrennen reif, oder ein Baum, der da hochgesegnet, auserwählt und geliebet ist von Gott; ob er, nach dem heutigen Evangelium, zu dem Unkraut gehöret, das in den Acker Gottes hineingesäet ist und Platz versperrt, oder zu dem guten, schönen, vollen Waizen, der da würdig ist, in die Scheunen des himmlischen Vaters gesammelt zu werden. Oder gibt es etwas, das wichtiger, das anziehender, das des Aufmerkens und der Sorge eines Menschen würdiger wäre als die ernste, große Frage: Wie stehe ich gegen Gott? für was siehet Gott mich an? was denkt Er von mir? was wird mein Schicksal seyn, wenn ich nach meiner von Gott mir bestimmten Zeit in die Ewigkeit hinübertrete? „An den Früchten sollt ihr sie erkennen“, hat der Heiland gesagt; und obgleich Er mit diesem Ausspruch nur Seine Jünger gewarnt hat, wie sie auf die Früchte der falschen Propheten hinschauen sollten: so kann doch auch jeder einzelne Christ aus den Früchten, die er selbst hervorbringt, seine eigene Natur erkennen, und erfahren, von welcher Art und Natur er ein Baum sey. Ja, diese Untersuchung sollte eines Menschen heilige, unablässige Sorge seyn.

Der Apostel führt in unserem Texte mehrere Früchte des Glaubens, der neuen Geburt aus Gott, der Kindschaft Gottes an, welche wir nun miteinander durchgehen, und unserem Gewissen vorhalten wollen.

Die erste Frucht ist die Liebe. „Ueber Alles“ - sagte er - „ziehet an die Liebe, welche ist das Band der Vollkommenheit“; d.h. die Liebe, ohne welche alle andern Tuenden und guten Eigenschaften nichts sind; die Liebe, welche ihnen erst ihren wahren Werth ertheilt; die Liebe, welche durch Alles, was gut und göttlich ist in einem Menschen, als ein lebendiges Licht hingeht, dasselbe verbindet und zu einem schönen Ganzen vereiniget; die Liebe, ohne welche aller Glaube, alle Erkenntniß und Wissenschaft, und alle guten Werke Schaum sind; die Liebe, welche bey einem Christen Alles erst recht weihen und heiligen muß. Worin die Liebe bestehe, haben wir schon letzthin gesehen; der Apostel aber führt in der heutigen Abend-Lection mehrere Eigenschaften und Merkmal der Liebe an.

Da ist erstens herzliches Erbarmen. O welch' eine schöne, erquickliche, köstliche und erfreuliche Pflanze ist dieses herzliche Erbarmen, wenn es in einem von Natur so kalten und finstern Sünderherzen wurzeln und gedeihen kann; welch' ein seltener Fund ist es, wenn man es auf dieser erkalteten und verfinsterten Welt antrifft; wie wohl thut's, ein Herz zu finden, in welchem aller Zorn, Neid, Haß, Afterreden, alles Bittere in das herzliche Erbarmen verschmolzen ist! - So war es Erbarmen, reines Erbarmen, was das Herz Gottes bewegte, als Er dich und mich in unserem Blute, in unserer Feindschaft gegen Ihn, in unserer Sklaverey der Sünde und des Satans, in unserem selbstgemachten Elende liegen sah, und uns Sein ewiges Heil in Christi Wunden zur Erlösung und Befreiung darbot, und uns zum Leben rief, das in Ihm ist. So war es Erbarmen, was das Herz des Königs bewegte, da er mit seinem Knechte rechnen wollte, und der verschuldete Knecht vor ihm niederfiel, und er dem Elenden die ganze Schuld auf Einmal nachließ. So war es herzliches Erbarmen, was das Herz des Heilandes bewegte, als Er das Volk ansah, wie sie zerstreut waren und keinen Hirten hatten, und zu Seinen Jüngern sprach: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige; darum bittet den HErrn der Ernte, daß Er Arbeiter in Seine Ernte sende.“ So war es herzliches Erbarmen, was Ihn auf Seinem letzten Ganze zum Kreuze den Weibern Jerusalems zuzurufen bewog: „Weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder.“ So war es herzliches Erbarmen, was den Apostel antrieb, über dieses sein armes, verblendetes Volk, das ihn verfolgte, das ihn von einer Stadt in die andere trieb, das ihn schlug und spottete, und sich gegen sein Leben verschwor, zu seufzen und zu bekennen: „Ich habe große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen, und habe gewünscht, verbannt zu seyn von Christo für meine Brüder“ (Röm. 9,2.3.). Herzliches Erbarmen ist es noch bis auf die heutige Stunde, was der HErr JEsus noch über dich, du armer Mensch, der du Ihn täglich mit deinen Sünden kreuzigest, in Seinem Herzen trägt, wenn Er deiner schonet, für dich bittet, damit du noch nicht abgehauen werdest; wenn Er dir nachgeht, und durch Freude wie durch Leid dich locket, Seine Ruhe nicht zu versäumen, und deine Seele zu retten dieweil es noch Zeit ist. - Das heißt herzliches Erbarmen. Findest du das in dir, lieber Mensch? Hast du die Neigung in dir, keinen Menschen, er sey, wer er wolle, auch den größten Sünder, auch deine Feinde nicht zu verachten, und alles Widrige, alle Beleidigungen, allen Grimm, alle Erbitterung, in das Erbarmen, in die Fürbitte, in die gänzliche Vergebung hineinzuführen, gleichwie Christus auch dir vergeben hat, oder vergeben will? Prüfe dich; denn wer nicht barmherzig ist, der ist kein Christ, und wird auch keine Barmherzigkeit erlangen.

Ein zweites Merkmal der Liebe ist nach unserem Texte die Freundlichkeit; - nicht eine verstellte, gemachte, nicht eine Freundlichkeit, die nur aus einer natürlichen Gutmüthigkeit fließt; sondern eine Freundlichkeit und Milde, die aus inniger Liebe, die aus dem Frieden Gottes, die aus der Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes an uns selbst, die aus dem Bewußtseyn kommt, daß Gott alle Menschen liebt, und will, daß Allen geholfen werde; aus dem Bewußtseyn, daß Christus für Alle Sein Leben gelassen hat, daß sie Alle theuer erkauft sind; - eine Freundlichkeit, die keinen Unterschied macht zwischen Hohen und Niedrigen, Armen und Reichen, Bekannten und Unbekannten, Bösen und Guten, Freunden und Feinden; eine Freundlichkeit, aus welcher das Bild des liebevollen, barmherzigen, milden Heilandes hervorleuchtete; - wohnt diese Freundlichkeit in dir, oder strebst du darnach? oder kannst du, wenn dir Etwas wider deine Pläne und Ansichten geht, - besonders gegen deine Untergebenen, mürrisch, unfreundlich, bitter, gehässig seyn? - Ach, siehe, das wäre nicht nach der Aehnlichkeit Christi; das ist ja die Natur Kains, das ist ja die Art des Feindes Gottes und der Menschen, der nur sein Eigenes sucht, aber niemals das Gute, das des Andern ist.

Ein drittes ist die Demuth. - Alle Liebe hat nur in der Demuth ihren Grund; und wer nicht demüthig ist, der hat noch nicht die wahre, ächte Liebe. Oder woher kommt so viel Zank und Streit; woher kommt die Mißlaune, - obgleich man diese meistenteils einer äußeren, oft auch körperlichen Ursache zuschreibt; - woher kommt es, daß du so bald gereizt, so bald verwundet, so übelnehmend und empfindlich bist: woher kommt es, daß du deinem Nächsten so schwer verzeihest, daß so wenig Erbarmen gegen deine fehlenden Mitbrüder in dir wohnt? Kommt es nicht daher, weil du nicht demüthig bist, weil du deine Sünde, deine Schwäche, deine Fehlerhaftigkeit, deine Erbärmlichkeit, dein Elend nicht erkennst? O würdest du demüthig, ließest du dich vom Geiste Gottes in die Wahrheit leiten, so würdest du ja gerne Liebe üben, gerne dich deines Mitbruders erbarmen, gerne dich unter alle deine Brüder hinunterstellen, und froh seyn, wenn du nicht gar verstoßen würdest, was du ja wohl verdient hättest. Glaubest du das? Siehe, alles zänkische, neidische, bittere, launische Wesen fließt allein aus dem Hochmuth. Wie findest du dich in diesem Spiegel?- Und der HErr begehrt wahre Demuth, lautere, aus lebendiger Buße und Selbsterkenntniß, aus Erfahrung Seiner Barmherzigkeit fließende Demuth, - hast du diese? -

Ein viertes Merkmal ist die Sanftmuth. - „Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Das sind seltene Leute, die des Heilandes sanftmüthigen Lammessinn angezogen haben, die, gleichwie Er nicht schalt, nicht schelten, wenn sie gescholten werden, nicht drohen, wenn sie leiden, sondern Alles Dem anheimstellen, der da recht richtet. Da geht es nicht: Auge um Auge, Zahn um Zahn; nicht nach der Härte des Rechts, sondern nach der duldenden, schweigenden Liebe. - Das ist keine alttestamentliche, das ist, wie auch die ganze, in unserer heutigen Abend-Lection vorgeschriebene Liebe, eine wahrhaft neutestamentliche Tugend. Hast du nun diese sanftmüthige Art an dir, lieber Mensch? Hast du den stillen Lammessinn, der bereit ist, Alles zu tragen, zu dulden, zu vergeben? Oder geht es bey dir, wie es in der Welt geht, wovon das Sprüchwort sagt: „wie man in den Wald hineinschreiet, so hallt es wieder heraus“; oder: „wer mich hasset, den hasse ich auch“; oder: „wie man mir thut, so will ich wieder thun?“ - Siehe, das ist die kainische, die teuflische Art; das wäre ein Beweis, daß du noch in den Ketten des Mörders von Anfang liegest, so gut du im Uebrigen seyn mögest: das wäre ein Beweis, daß du Christum noch nie gesehen, noch nie erkannt hättest; das wäre ein Beweis, daß du keinen Theil hättest an dem Blute der Versöhnung, das für alle Sünder, auch für die Feinde, um Barmherzigkeit schreiet, und besser redet denn Abels Blut. -

Ein fünftes Merkmal ist die Geduld. - „Die Liebe“ - sagt der Apostel - „träget Alles, sie duldet Alles, sie lässet sich nicht erbittern, noch ermüden“; sie harret aus; sie läßt sich nicht so bald umstoßen oder aufbringen; sie hat von dem himmlischen Vater, dem Gott aller Geduld und Langmuth, gelernt, geduldig zu seyn auch bey den Fehlern, auch bey den Schwachheiten, auch bey den Sünden und Bosheiten der Andern, und auf Den zu hoffen, der auch das verhärtetste Herz erweichen, auch das unbeugsamste Gemüth noch beugen kann. Unter allem Demjenigen, was wir von dem himmlischen Vater durch Christum haben, unter Allem, was für einen Menschen, der sich in der Schule und Zucht des Heiligen Geistes befindet, und sich der Kindschaft Gottes zu erfreuen hat, wichtig und groß und anbetungswürdig ist bis hinein vor den Thron Gottes, ist eine der größten, göttlichsten Eigenschaften, eine der heiligsten Erweisungen Seines versöhnten Vater-Herzens, Seine Geduld und Seine unermüdliche Langmuth. Darum spricht auch der Apostel: „Die Geduld des HErrn achtet für eure Seligkeit.“ - Ich will nicht von der Welt reden, noch von denen, die Christum täglich durch ihr ganzes Leben hin mit Sünden kreuzigen. Ach, diese Geduld Gottes erweiset sich ja groß und herrlich an ihnen, daß Er sie so lange hingehen lässet, sie nicht wegrafft, und ihnen ihre Gnadenzeit verlängert. Wenn aber ein Christ sich betrachtet in seiner Untreue, in seinem oft so kalten, schläfrigen Sinne, - wenn wir bedenken, wie der gute Hirte so lange uns nachgegangen ist, so lange uns gesucht hat, wie Er so oft an unsern Herzen angeklopft und begehrt hat, darin einzukehren, und erwägen, was wir dagegen waren, wie viel Treue, Pflege und Mühe an uns gewendet worden, und wie wir so ungeschickt waren, so ungehorsam, so unfolgsam, so verhärtet gegen Ihn, so feindselig gegen Ihn, der nur unser Bestes, unser wahres, ewiges Heil suchte; - wenn ein Christ sich also betrachtet, und bedenkt, was der liebevolle Vater noch täglich an ihn wendet! ach, dann wird ihm die Geduld des großes Gottes groß und heilig und anbetungswürdig: dann möchte man niedersinken und es anbetend bekennen: „Ja, HErr, Du bist ein gnädiger Gott, von großer Geduld und Treue; also hast Du Dich auch an mir bewiesen!“ - Aber üben wir nun auch diese Geduld an denen, mit welchen wir Geduld haben sollen nach dem Willen Gottes? Macht die Geduld, welche Gott mir uns hat, den heilsamen Eindruck auf uns, daß wir auch unsern Nächsten mit Langmuth behandeln? Oder sind wir etwa so geartet, daß wir einst vor dem Angesichte des Richters den Ausspruch hören müssen: „Du Schalksknecht, so viele Geduld habe ich mit dir gehabt, - und du hast dich nicht auch deines Mitknechts erbarmt?“

„Einer vertrage den andern“ - ist ein weiteres Merkmal der Liebe! - Einer trage des Andern Last. - Ja, sprichst du, wenn mein Nächster, den ich vertragen soll, nur nicht gerade so wäre, wenn er nur auch andere Fehler hätte, und nur nicht eben diese, die er hat, wie gerne wollte ich ihn vertragen; aber so ist es unmöglich; wenn ich ihn nur ansehe, wenn ich nur bemerke, wie er Dieß und Jenes thut, so ist es mir unerträglich; es geht mir ein Stich durch das Herz - und was dergleichen mehr ist. - Lieber Mensch, der du also sprichst, weißest du auch, daß du ein hochmüthiges, ein eigenliebiges, ein gegen Gott ungehorsames Geschöpf bist, daß du nicht einmal erkennst, was wahre Nächstenliebe heißt? Siehe, hier in der Schrift steht es mit deutlichen, nackten Worten: „Vertrage Einer den Andern!“

Wer also den Nächsten nicht trüget, oder nicht tragen will, wer sich gegen das von Gott ihm auferlegte Kreutz, das für uns oft in einem Andern, oft in den nächsten Umgebungen liegen kann, wehrt und sträubt, der schließt sich eben damit von dem Reiche Gottes aus, das ein Reich der Geduld, ein Reich der Langmuth, ein Reich der Liebe ist. Darum prüfe dich vor Gott, ob du deinen Nächsten, er heiße wie er wolle, mit Geduld tragest?

„Vergebet euch unter einander, wie Christus euch vergeben hat“; - dieses Wortes Erfüllung ist ein weiteres Merkmal der Liebe. - Ach, man bittet täglich: „vergib uns unsere Schulden, wie wir unfern Schuldigern vergeben“; und wenn es darauf ankommt, ist man nicht im Stande, - ich will nicht sagen, einen Schlag, eine grobe Beleidigung, deren der Heiland unzählige erduldet, mit göttlicher Sanftmuth auf sich genommen und vergeben hat, - sondern auch nur ein Wörtlein zu vergessen, ein Wörtlein zu überhören. O was gräbt und tobt oft ein einziges Wörtlein in einem Herzen, wenn dadurch die Eigenliebe und der Eigennutz auch nur auf das Entfernteste angegriffen ist! Soll aber das bey einem Christen seyn, der so viel, so unaussprechlich viel Vergebung empfangen hat, und täglich bedarf? Auch darnach prüfe dich, 0 Mensch; darfst du einst über jenem Gebete, welches du Gott täglich vorgesagt hast, freudig, oder beschämt und zitternd vor ihm erscheinen? Ist dir's ein Anliegen, ein erbarmungsreiches. Alles gerne zum Besten kehrendes Herz zu bekommen, und auch dann zu segnen, zu lieben, zu vergeben, wenn du beleidigest bist?

Liebe Zuhörer! Ich werde es euch nicht fernerhin zu beweisen brauchen, es wird euch von selbst einleuchtend sey, daß die meisten Christen keine Liebe haben. Es fragt sich nun: Woher kommt diese traurige Erfahrung? woher kommt es, daß diese Erfahrung namentlich in unserer Zeit so häufig gemacht wird, daß die Liebe namentlich in unserer Zeit so häufig erkaltet ist, daß namentlich in unsern Tagen statt der wahren Liebe bey vielen Tausenden nur der Eigennutz, die Eigenliebe, der empörendste Hochmuth herrschet, und daß man sogar dieses Alles noch mit dem Gewände der Tugend und Moral, des edeln Selbstgefühls und der löblichen Klugheit zu überdecken im Stande ist, daß man im Vertrauen auf diese falsche Lehre, und in der Lüge so häufig aus der Zeit in die Ewigkeit hinübergeht, ruhig und getrost, und glaubt seine Pflichten erfüllt zu haben, wenn man es dabey ließ, daß man Niemand todtschlug, Niemand öffentlich bestahl, und Niemand um das Seine unrechter Weise übervortheilte. Da hat man freilich einen leichten, dem Fleisch bequemen Weg in den Himmel gemacht, wobey man keine Verläugnung, kein anhaltendes Gebet, keine Wachsamkeit, keine Kraft aus der Fülle Jesu bedarf. - Der Weg ist lustig und breit, und „Viele sind ihrer, die darauf wandeln.“

II. Aber woher kommt dieß Alles?

Der erste Grund liegt wohl hauptsächlich darin, daß keine Furcht Gottes, und eben darum keine Kenntniß und keine Achtung Seiner heiligen Gesetze und Forderungen an uns in den meisten Menschen dieser Zeit herrschet. Wenn man die heutige Abend-Lection betrachtet, so fühlt man es ihr an, wie sehr der Apostel von der Ehrfurcht gegen Gott und Seine heiligen Gesetze durchdrungen ist, wie sehr es ihm anliegt, daß die Kolosser, an welche er schrieb, die Forderungen Gottes an sie recht erkennen, und diesem gemäß auch leben, und Alles zur Ehre des Heilandes thun möchten. „Alles, was ihr thut“ - schreibt er ihnen - „das thut in dem Namen des HErrn Jesu, und danket Gott und dem Vater durch Ihn.“ Aber dieses sanfte Joch Jesu haben gar Viele abgeschüttelt; sie gehen dahin in ihren eigenen Wegen, nach ihres Herzens Gedanken; sie haben sich ein Christenthum zusammengemacht nach ihrem Belieben; einen Gottesdienst sich erdacht nach ihren verkehrten Meinungen, und wie es dem Fleische wohlthut; es ist ihrem Freiheitssinne nicht angemessen, das heilige Gesetz Dessen, der über uns waltet, anzuerkennen, und darum wollen sie auch den hochgelobten Namen Jesu nicht mehr über sich dulden, nickt wissen, daß sie dem HErrn Jesu leben, Sein Evangelium als Richtschnur ihres Denkens, Wollens und Handelns ehren sollen; das ist ihnen zuwider, das rechnen ja Viele, Viele in die Zahl der alten, abgeschmackten Fabeln, das halten ja Viele in ihrem ungeheuren Hochmuth, in ihrer Losgerissenheit von Gott, in ihrer schrecklichen Finsterniß für erniedrigend, und ihrem Stande, ihren Einsichten, ihrem aufgeklärten Geiste ganz unangemessen. Da ist's denn freilich kein Wunder, wenn, ich will nickt sagen - die Liebe, sondern das Streben nach Liebe von so vielen Menschen dieser Zeit gewichen ist, und sie in ihrer entsetzlichen Selbstverfinsterung, die sie Licht nennen, gar nicht einmal mehr wissen, was Liebe, was Sanftmuth, was Demuth und Geduld heißet, sondern in Allem ungestört dem finstern Grund ihres bösen Herzens folgen, und sich doch dabey auf ihre Tugend, ihren Edelsinn etwas zu Gute thun. Ach, wenn der Mensch die lebendige Quelle aller Wahrheit verläßt, so ist's ja kein Wunder, daß er in die größte Thorheit, Selbsttäuschung und Lüge hineingerät, und endlich das Licht für Finsterniß, die Finsterniß für Licht achtet! -

Aus diesem Streben, sich von dem lebendigen Gott loszureißen, ist dann auch die Verachtung des Wortes Gottes hervorgegangen. - „Lasset das Wort Christi reichlich unter einander wohnen, in aller Weisheit (schreibt der Apostel); lehret und ermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen, und geistlichen lieblichen Liedern, und singet dem HErrn in eurem Herzen.“ - O, wo das Wort des HErrn so betrieben wird, wie viel mag da dem Satan der Ungeduld, des Hasses, der Bitterkeit, des Neides, des Geitzes, der Eigenliebe und der Selbstsucht schon Gewalt genommen worden seyn! Wie köstlich ist es, wenn das Wort Gottes so fein und lieblich betrachtet, und in den Herzen bewahrt wird!- Aber, saget es selbst, wenn der Apostel Paulus diese Ermahnung an manche Gesellschaft von Leuten, die sich Christen nennen, wenn er sie an manche Familie, die sich christlich nennt, ergehen ließe, was würde darauf folgen? was anders, als vieler Orten ein vornehmes Achselzucken, ein spöttisches Nasenrümpfen, oder gar ein elender, schlechter Spott? Denn es ist ja so weit gekommen, daß nicht allein aus mancher Gesellschaft, sondern sogar aus mancher Familie das Wort Gottes wie verbannt ist, und wenn eine solche Saite berührt wird, die nur von ferne auf das innere Leben mit Gott und Christo hindeuten könnte, sogleich Alles in Verlegenheit oder Widrigkeit geräth. Ist Solches recht unter Christen? Können wir es auch verantworten vor Dem, der über uns wohnet, der uns Sein Wort zur Seligkeit gegeben hat, daß wir es also gering halten, übersehen, weglegen, wegstoßen? Welch' eine Rechenschaft mag das nicht geben am großen Tage des Zorns! - Und warum ist denn der Friede, die Eintracht, die Liebe aus so manchen Familien ganz gewichen? Ist's nicht darum, weil kein Wort Gottes mehr unter ihnen getrieben wird? Ach, würden manche Aeltern, anstatt diesen und jenen elenden Gesellschaften, anstatt dieser und jener hohlen Lustbarkeit nachzuziehen, und ihre armen Kinder auch damit von Jugend auf in die Ketten des Weltgeistes zu liefern, eifrig mit einander die heilige Schrift nehmen, und im Hause das Wort des HErrn kund werden lassen, und sich nicht schämen, ihre Hausgenossen damit zu erbauen; würden sie fleißig mit einander auf die Kniee niederfallen, und den Heiland um Kraft und Liebe anrufen, und ihre Kinder in solchem Geiste aufziehen in der Zucht und Ermahnung zum HErrn: wie würde da der Segen Gottes einkehren, wie würden da die Teufel der Laune, des Unfriedens, der Lieblosigkeit weichen müssen, und der Friede, und mit dem Frieden und der Liebe auch Jesus Christus sich zu solchen Menschen wenden, und Segen, Heil und Leben daraus aufgrünen für Zeit und Ewigkeit!

Aber freilich, der Hauptgrund der Lieblosigkeit liegt noch tiefer. Man ist darum nicht barmherzig, weil man die Erbarmung Gottes nicht kennt, noch an seinem Herzen erfahren bat. So will auch der Apostel nur darum, daß die Kolosser Liebe üben sollten, er muthet das ihnen nur deßwegen zu, weil sie Gottes Auserwählte, Heilige und Geliebte seyen. - Ach, nur, wer die Barmherzigkeit Gottes an seinem eigenen Herzen erfahren hat; nur, wer mit Beugung erkennt, daß er aus keinem andern Grunde, als um der Erbarmung willen, die alles Denken übersteigt, angenommen ist von Gott, und daß die freie Gnade noch täglich über ihm unaussprechlich waltet; nur, wer als ein armer Sünder die Größe des Verdienstes Christi erkennt, und den Reichthum der Liebe Gottes, ihre Länge, Breite, Tiefe und Höhe einigermaßen eingesehen hat; mit Einem Worte: nur, wer gewiß ist, daß er zu den Auserwählten Gottes gehört: nur der ist auch im Stande, Liebe zu üben, und den köstlichen Schmuck der Auserwählten Gottes anzuziehen, der da ist Liebe, Demuth, Sanftmuth, Mitleid und Geduld. Aber freilich, so lange das nicht ist bey dir, so lange du Gott nicht liebest, wie kannst du da deinen Nächsten lieben! Darum, liebe Seele, wenn du bey dir findest, daß du das Gesetz der Liebe so vielfach übertreten habest: so suche doch den Grund davon ja in nichts Anderem als darin, daß du die Liebe Gottes noch nicht kennest: suche den Grund darin, daß du noch nicht zu den Auserwählten Gottes gehörst; daß du deinen Heiland noch nie recht erkannt und gesehen hast. Ach, darauf dringe los; das wollen wir unser Bestreben seyn lassen, daß wir unseren Beruf und unsere Erwählung fest machen, und in den Wunden Christi unsere Gnadenwahl finden, damit wir aus aller Ungewißheit heraus, und zu einem ganzen, völligen Herzen in Christo Jesu, und zu der wahren Liebe gelangen, ohne welche ja doch Niemand den HErrn sehen wird.

Weil aber in der heutigen Epistel geboten ist, herzliches Erbarmen anzuziehen, so will ich nun aus herzlichem Erbarmen auch heute zu der ewigen Liebe Gottes einladen Alle, die dieselbe noch nicht kennen. Meine armen Mitbrüder und Mitschwestern, die ihr in der Eigenliebe, im verkehrten Sinn euch noch gefallet, die ihr bis jetzt noch das sanfte Joch des Heilandes nicht auf euch genommen habt, und darum noch in argen Gedanken wandeln müsset als arme, mühselige Geister, - ihr Armen, deren Herz den Frieden und die Liebe Christi noch nicht kennt, und darum noch voll Grimms, Bitterkeit und Bosheit ist; ach, lasset euch erbitten durch die Erbarmungen Gottes, daß ihr euch dem Lamme hingebet, das auch für eure Sünden geschlachtet ist, und alle eure Bitterkeit, allen euern Grimm gebüßet hat! Kommet zu Ihm, so wird Er das böse Herz euch wegnehmen, und euch ein neues schaffen, darin Sein Friede und Seine Liebe wohnen, und eure Seele wird Ruhe finden. Amen!

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