Heliand - 27 - Vom Unkraut im Weizen

Heliand - 27 - Vom Unkraut im Weizen

So lehrt' er und wies. Viel Leute standen
Um Gottes Geborenen, hörten ihn in Bildern
Von dieser Welt Ende weisen und sagen:
„Einst geschah's, daß ein Ehrenmann auf seinen Acker
Das schöne Korn säte mit seinen Händen;
Wollte sich ein wonnesam Gewächs erzielen,
Erfreuliche Frucht. Da fuhr sein Feind hinterdrein
Mit hämischem Herzen, säte Hederich drein,
Das übelste Unkraut. Auf gingen beide,
Das Korn und das Kraut. Nicht lange, so kamen
Seine Hofknechte heim und sagten dem Herrn,
Die Diener dem Dienstherrn, mit dreisten Worten:
„Du sätest, lieber Herr, doch lauteres Korn
Allein auf dem Acker, und nichts anderes sieht man
Als Wust da wachsen: wie wurde das so?“
Der Dienstherr den Dienern: Wohl gedenken mag ich,
Daß mir ein unholder Mann Unkraut nachsäte,
Ein Feind, das falsche Kraut: er gönnte mir die Frucht nicht,
Verwüstete mein Gewächs.“ Und wieder sprachen die Diener
Zu ihm, die Hofknechte: „So wollen wir hingehen
Alle auf einmal, das Unkraut jäten
Und heimholen.“ Doch der Herr entgegnete:
„Nicht will ich, daß ihr es jätet, denn ihr könntet euch nicht wahren,
Bei euerm Gang nicht hüten, wenn ihr auch gerne wolltet,
Daß ihr des Korns nicht zuviel, der Keime verderbtet
Und unter die Füße fälltet. Laßt sie nur immerfort
Miteinander wachsen, bis die Ernte kommt
Und auf dem Felde dann die Frucht gereift ist,
Die Ähren auf dem Acker: dann eilen wir alle hin,
Sie heimzuholen; das heilige Getreide
Sondern wir dann säuberlich und bringen es zur Scheune,
Heben es sorgsam auf, daß ihm nicht Schaden möge
Irgend was antun; aber das Unkraut nehmen wir,
Binden es zu Bündeln und werfen es in bitter Feuer,
Daß es lodern möge in heißer Lohe,
Unersättlicher Glut.“

Da stand und sann
Des Gefolges viel, was der Führer des Volks
Meinen möchte, der mächtige Christ,
Mit dem Bilde bezeichnen, der Gebornen Hehrster.
Da baten sie begierig den guten Herrn,
Die Lehre zu erläutern, daß die Leute fortan
Der heiligen gehorchten. Und der Herr entgegnete,
Der mächtige Christ: „Des Menschen Sohn ist es,
Ich bin es selbst, der sät, und die seligen Männer
Sind das lautere Korn, die meiner Lehre gehorchen,
Meinen Willen wirken. Diese Welt ist der Acker,
Das breite Bauland der Geborenen all.
Und so ist's der Satanas, der da sät hinterher
seine leidige Lehre. Er hat der Leute so viel
Verderbt in dieser Welt, daß sie böse Dinge
Wirken nach seinem Willen. Doch mögen sie wachsen,
Die gottvergeßnen wie die guten Männer,
Bis des Weltbrands Macht über die Menschen fährt,
Das Ende dieser Welt. Dann sind die Äcker all
Gereift in diesen Reichen und des Ewigen Ratschluß
Erfüllt sich an den Völkern. Dann zerfährt die Erde:
Das ist der Ernten Ernte. Von oben kommt im Glanze
Der Herr mit seiner Engel Kraft, und kommen alle zusammen
Die Leute, die das Licht je sahn, den Lohn zu empfangen,
Des Übeln wie des Guten. Dann gehen Engel Gottes,
Heilige Himmelswächter, und heben die Frommen
Für sich gesondert in das ewig schöne,
Hohe Himmelslicht; zur Hölle weisen sie die andern.
Die Verworfenen werfen sie in das wallende Feuer:
Da sollen sie gebunden bittere Lohe,
Folterpein erfahren, da die andern freudevoll
Im Himmelreiche, der hellen Sonne gleich,
Leuchten und glänzen. Das ist der Lohn, der die Menschen
Für würd'ge Tat erwartet. Drum, wer Gewissen,
Gedanken hat im Herzen oder hören mag
Mit Ohren auf Erden, der erinn're sich des,
Sorge in seinem Sinne, wie er an jenem schrecklichen Tag
Dem allmächtigen Gotte Antwort gebe
Seiner Worte und Werke hier in dieser Welt.
Das ist das ängstlichste von allen Dingen,
Das furchtbarste den Volkskindern, daß sie mit dem Fürsten rechnen sollen,
Die Hörigen mit dem Herrn. Dann möchte herzlich gerne
Der Menschen männiglich der Meintat frei sein,
Aller schlimmen Schuld, Drum sorge vorher
Aller Leute jeglicher, eh' er dies Licht verläßt,
Wie ihm dann werde ewig währende Zier,
Das hohe Himmelreich und die Huld Gottes.“

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