Hagenbach, Karl Rudolf - Die Selbsterkenntnis die nothwendige Bedingung unserer Sündenvergebung.

Hagenbach, Karl Rudolf - Die Selbsterkenntnis die nothwendige Bedingung unserer Sündenvergebung.

(am Sonntage Judica.)

Text: 1. Joh. 1, 8. 9.
So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergibt und reiniget uns von aller Untugend.

Eine ernste heilige Zeit ist es, der wir nun wieder entgegengehen, die Zeit, da wir an das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn uns erinnern, und durch den gläubigen Hinzutritt zu seinem Mahle die Früchte dieses Leidens uns zueignen sollen. Daß Jesus Christus das unschuldige Lamm Gottes geopfert worden für die Sünde, daß der Hirte gestorben für die Schafe, der Gerechte für die Ungerechten und daß wir somit erlöset seyen durch sein Blut, das ist der Inhalt der Predigt vom Kreuze, die in diesen Tagen uns mit neuem Nachdruck verkündigt werden soll. Aber wie oft ist schon diese Predigt an unsern Ohren vorübergegangen, wie oft haben wir es hier und anderwärts vernommen, daß Christus sey die Erlösung von unsern Sünden, ohne daß wir dadurch zu einem gründlichen Abscheu vor der Sünde geführt worden wären. Ist es doch als ob Viele noch immer in dem einmal von Christo gebrachten Opfer eine Berechtigung fänden, es mit der Sünde weniger genau zu nehmen, da er alles gut gemacht habe, während Andere überhaupt diesen Tagen mit einer unbegreiflichen Gleichgültigkeit und Zerstreuung des Herzens entgegen gehen, die ihnen nicht einmal zuläßt über das Wesen der Sünde und ihre Folgen gründlich nachzudenken und sich die ernste Frage vorzulegen, wie weit diese Macht der Sünde sich auch an ihnen erwiesen, wie weit sie auch in ihr ganzes inneres und äußeres Leben eingegriffen habe. Und doch hat es die Kirche nicht umsonst also geordnet, daß den festlichen Tagen der Passions- und Osterzeit eine ernste Zeit der Fasten, der stillen Einkehr in uns selbst vorangehe, und daß vor allen Dingen die Buße gepredigt werde, um dem Worte der Versöhnung Bahn zu machen. Heute ist der letzte Sonntag, der zu einer solchen Fastenbetrachtung uns Raum giebt, da mit dem künftigen Palmsonntage schon der engere Festkreis sich aufschließt, wenn wir ihn, den Friedenskönig werden einziehen sehen unter dem lauten Hosiannah des Volkes in die Stadt, die seinen Tod geschworen. Darum, weil es noch heute heißt, verstocken wir unsre Herzen nicht, und damit das Wort der Erlösung und Versöhnung um so bessern Eingang bei uns finde in den kommenden Tagen, so laßt uns heute uns darauf beschränken, zur rechten Erkenntniß zu gelangen von der Sünde. Diese Erkenntniß kann aber nur dann eine lebendige in uns seyn, wenn ein Jeder von uns sich überzeugt, daß er selbst ein Gegenstand des göttlichen Erbarmens, selbst ein der Gnade und Erlösung bedürftiger Sünder sey; wenn der letzte Schimmer von Selbstgerechtigkeit, von Selbsttäuschung und Selbstverblendung, womit wir uns so oft den ernsten Kampf zu ersparen suchen, vor unsern Augen verschwindet, und unsere Sünde offen und klar vor uns daliegt, hingestellt vor Gottes Angesicht. Und so mögen denn die Worte des Jüngers, den Jesus lieb hatte und der selbst mit unter seinem Kreuze stand, uns zum Leitfaden unserer Selbstprüfung dienen, wenn er sagt:

„So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergiebt und reiniget uns von aller Untugend.“

Johannes hatte kurz zuvor im Eingang zu seinem Briefe es bezeugt, daß Christus das Leben sey, und daß wir durch ihn Gemeinschaft haben mit Gott. Gott aber, so fährt er fort, ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis, und so kann auch nur der Gemeinschaft mit ihm haben, der im Lichte wandelt, „und das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.“ Deutlicher als Johannes kann es also wohl niemand sagen, daß die Erlösung durch das Blut Jesu Christi nur dann für uns eine Wahrheit sey, wenn wir uns wollen erlösen lassen, wenn das Streben nach dem Lichte und nach Gemeinschaft mit Gott ein lauteres und lebendiges in uns geworden ist. Und im genauen Anschluß daran folgen nun die Worte unseres Textes, welche eben den Zweck haben, uns in uns selbst hineinzuführen, damit erst aus dieser Selbsterkenntniß heraus die rechte Sehnsucht nach der Erlösung hervorgehe. Die Natur unserer heutigen Betrachtung erfordert es demnach, daß wir vorzugsweise bei dem ersten Theile unseres Textes verweilen, der von der Nothwendigkeit der Selbsterkenntniß handelt, indem er sie als die einzige Bedingung unserer Sünden. Vergebung hinstellt. Und so laßt uns denn nach Anleitung dieser Textesworte vor allem jenes Vorurtheil zu beseitigen suchen, das sich dieser Selbsterkenntniß so oft in den Weg stellt, nämlich das Vorurtheil als hätten wir keine Sünde, und dann auf die Gefahr aufmerksam machen, der wir uns aussetzen, so lange wir unsern wahren Zustand uns verhehlen.

Erforsche du uns Herr! und erfahre unser Herz: prüfe uns und erfahre, wie wir's meinen, und siehe, ob wir auf bösem Wege sind, und leite du uns auf ewigem Wege. Amen.

I.

So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. Johannes macht uns hier vor allem auf ein Hinderniß aufmerksam, das der rechten Selbsterkenntniß im Wege steht, unsern Blick trübt und besticht, auf das Vorurtheil nämlich, als hätten wir keine Sünde. Dieses Vorurtheil ist viel weiter verbreitet, als man glaubt; unter tausenderlei Gestalten und Vorwänden weiß es sich uns aufzudringen, auch da noch, wo wir schon durch das Gewissen und das Wort Gottes es ausgetrieben zu haben glauben. Es ist daher nöthig, daß wir ihm recht auf die Spur kommen, es gleichsam in die letzten Schlupfwinkel verfolgen und ihm von allen Seiten den weitern Zutritt versperren. Auf den ersten Augenblick freilich möchte wohl Jemand sagen, an diesem Vorurtheile leide ich nicht, und auch wohl die Wenigsten meiner Mitmenschen; denn wo wäre einer so thöricht und verwegen zu sagen, er habe keine Sünde, da jeder Schritt und Tritt, den er auf der unsichern und schlüpfrigen Bahn des Lebens thut, ihn Lügen strafen wird? Aber wenn wir etwas genauer nachsehen, so werden wir doch finden, daß die Eigenliebe fort und fort geschäftig ist, uns einzureden, wir hätten keine Sünde, und daß sie auf die Kunst der alten Schlange, die unsere Eltern verführte, sich gar wohl versteht. Die Sünde, oder doch wenigstens die Macht und Bedeutung derselben hinwegzuläugnen aus der Welt, aus dem Gewissen, sie wo möglich aus dem Sprachgebrauche zu verbannen, indem man sie mit glimpflichern Worten bezeichnet; sie auf alle Weise zu bemänteln, zu beschönigen, ja, ihr vielleicht gar den Anstrich der Tugend, oder doch der fortgeschrittenen Bildung und Aufklärung und des Sieges über alte Vorurtheile zu geben: sagt, ist das nicht das Bestreben so Vieler, die in unsern Tagen das große Wort führen und auf das sittliche Urtheil der Welt einen nicht geringen Einfluß üben? Es gab eine Zeit die noch nicht so ferne ist, wo man sich von der angestammten Würde des Menschen, von seiner natürlichen Unschuld, von der sittlichen Vortrefflichkeit, zu der er es aus eigener Kraft zu bringen vermöge, ein gar liebliches Traumbild machte, und einen Jeden, der von natürlicher Verdorbenheit des menschlichen Herzens zu reden wagte, als einen düstern Schwärmer bemitleidete. Diese Zeit ist nun zum Theil vorüber. Sie haben den Glauben an ihre selbstgemachte Tugend aufgegeben; sie lachen wohl gar jetzt der gutmüthigen Träume jener damals hochgepriesenen Menschenfreunde; sie sind zu erfahren im Leben, als daß sie es nicht mit Händen griffen, daß die Sünde überall mit ihr Spiel hat und daß nicht selten auch das Schönste und Edelste von ihrem Verderblichen Hauche getrübt wird. Aber - und das ist eben das Schlimme dabei - sie wissen sich darein ganz trefflich zu finden. Die Sünde, sagen sie, oder das, was ihr nach eurer alten Sprache Sünde nennt, ist eben etwas Nothwendiges; sie gehört nun einmal mit zu unserer Natur und zum regen Spiel des Lebens; ja sie ist es erst, die dem Leben jenen Reiz giebt, ohne den es doch gar zu einförmig und langweilig wäre, und so bald nur mit Geist gesündigt wird, so hat auch die Sünde ihr Recht. Solche frevelnde Sprache, wer hätte sie nicht schon vernommen in unserer Zeit? wem wäre sie nicht schon offener oder verdeckter entgegen getreten in Wort oder in Schrift? Aber was meint ihr, wenn Johannes als Zeuge auftreten könnte wider dieses Geschlecht, was würde er zu einer solchen Sprache sagen, die wohl die Sünde zugibt, aber ihre Verderbliche Macht und ihre ewige Bedeutung läugnet und ihr noch gar den Zaubermantel des Geistreichen umhängt; würde er nicht sagen, das sey eben die Sprache des Widerchrists, die Sprache dessen, der ein Lügner ist von Anfang; Kindlein! hütet euch vor den Abgöttern! Doch, ihr wendet mir ein: wozu sich ereifern wider eine Lebensansicht, die Gottlob! doch nicht die Herrschende unter uns genannt werden kann, und die vielleicht mehr in gewissen Schriften, die nur der kleinere Theil von uns liest, mag ausgesprochen werden, als daß sie im christlichen Volk, zu dem wir doch gehören wollen, Anklang fände. Wir, so werdet ihr sagen, bekennen uns offen und unumwunden zu dem alten Bekenntniß der evangelischen Kirche von einem natürlichen Verderben des Menschen, von einer angebornen und angeerbten Sündhaftigkeit; und darum sprechen wir es ja auch sonntäglich nach in unserm Kirchengebete, daß wir arme, elende Sünder sind, geboren in großer Verderbniß, untüchtig (ohne Gott) zum Guten, geneigt zu allem Bösen.„1) So sind wir gelehrt worden von Jugend auf, und so lehren wir auch unsere Kinder wieder, und wollen, daß sie und wir also fortgelehrt werden. Wir erkennen auch gar wohl die Macht und Bedeutung der Sünde, daß sie nämlich der Leute Verderben ist, und weit entfernt, sie für etwas Gleichgültiges zu halten, gestehen wir in demselben Bekenntniß, daß wir durch sie auf uns laden Ungnade, Zorn und ewige Verdammniß.“ So lauten doch die Worte? - Wohl es mag seyn, und ich glaube auch, daß es noch Vielen damit ernst ist und daß sie es nur ungerne sehen würden, wollte man an jenen ihnen ehrwürdig gewordenen Ausdrücken auch nur das Geringste ändern oder mildern. Aber meint ihr wirklich, daß dieses offene und förmliche Bekenntniß unserer Schuld, wie wir es in der Kirche ablegen, schon das sey, was unser Apostel von uns verlangt? Oder müßt ihr nicht wenn ihr aufrichtig seyn wollt, gestehen, daß es eben nur zu oft bei dieser äußern Förmlichkeit bleibt, daß man diese Worte wohl nachspricht, so ins Allgemeine, ohne sich ihren Sinn tiefer zu Herzen gehen zu lassen! Gerade die hier gewählten starken Ausdrücke, in denen unsere Väter ihre Schuld dem Allwissenden bekannten, haben bei so manchem von uns durch die Gewohnheit ihre Kraft verloren; man nimmt sie so hin, als etwas Hergebrachtes, bleibt dabei aber, wie man ist, und tröstet sich wohl noch gar mildem Gedanken, daß wir eben allzumal Sünder seyen, (Röm. 3, 23) und daß keiner dem Andern hierin etwas vorzuwerfen habe Die Gesammtschuld des menschlichen Geschlechtes zu bekennen in einer angelernten und angewohnten Formel, dazu kostet es, zumal wenn man es mit den Ausdrücken nicht genau nimmt, eben keine große Ueberwindung. Vielmehr kann hinter eine solche Formel auch der sich verstecken, der träge ist in seiner Heiligung und dem es unbequem ist, wenn er sieht, daß Andere besser sind, als er. Da erhält ja seine Heuchelei sogar einen trefflichen Vorwand, auch das Gute an Andern als Tugendstolz und Werkheiligkeit zu verdächtigen, und im Gefühle der eigenen Nichtswürdigkeit sich damit zu trösten, daß auch die edelsten Werke, die Andere beloben und bewundern, nicht frei sein von den Flecken der Sünde und der menschlichen Schwäche. Das aber ist wahrlich nicht die rechte Selbsterkenntniß, welche sich zwar mit einschließt in das allgemeine Sündenbekenntniß, dabei aber sich für ihre Person beruhigt, während sie Andere mit um so strengerm Maßstabe richtet. So wenigstens machte es der Apostel Paulus nicht, wenn er sagte, daß Jesus Christus in die Welt gekommen sey, die Sünder selig zu machen, unter welchen er der vornehmste sey. (1. Tim. 1, 15.) Siehe, das ist erst die rechte Demuth und Selbsterkenntniß, daß du dich als den vornehmsten Sünder, als den anerkennst, an welchen die Macht der Sünde mehr als an Vielen Andern sich kräftig erweist, daß du, weit entfernt, die Thaten der Brüder zu richten, vielmehr das Gute an ihnen schätzest und bewunderst als eine Gnadengabe Gottes, und daß du nur darüber dich grämst, daß du es noch nicht soweit gebracht hast. So machte es der Zöllner, der nicht den Pharisäer richtete, wie dieser ihn, sondern gebeugt vom Gewichte der eigenen Schuld, an seine Brust schlug und sprach: Herr! sey mir armen Sünder gnädig. (Luc. 18, 13.)

Aber sollte man's glauben? Auch hinter die Zöllnerdemuth kann noch der Pharisäerstolz sich verstecken; auch hier noch kann die Eigenliebe unter dem Deckmantel der Heuchelei uns beschleichen, auch hier noch kann das erfinderische Herz mit Vorwänden und Blendwerken uns täuschen und an der rechten Selbstkenntniß uns hindern. Oder wie? gäbe es nicht auch solche, die, wo es auf ein recht starkes Sündenbekenntniß ankommt, sich gleich bereit zeigen, das Schlimmste von sich auszusagen, die nicht Worte genug finden können, ihr Verderben zu schildern und denen es leicht von der Zunge geht: ich bin der ärmste aller Sünder. Aber eines vergessen sie dabei nicht. Sie behalten sich klüglich das Recht vor, in dieser Sache ihre eigenen Ankläger und Richter zu seyn. Wagt es aber ein Anderer, in einem bestimmten gegebenen Falle auf ihre Sünde, oder auch nur auf ihren Irrthum, auf ihren Fehler sie aufmerksam zu machen: gleich fühlen sie sich im Innersten verletzt, sie suchen tausend Gründe, um den Vorwurf von sich abzulehnen, und so viel sie auch sonst reden von ihrer Sündhaftigkeit im Allgemeinen, nur hier und nur dießmal wollen sie nicht gefehlt haben, sondern Recht behalten, dem Andern gegenüber. Und wie? machen wir nicht eben diese Erfahrung täglich an uns selbst? Seyen wir auch noch so demüthig in der allgemeinen Anerkennung unserer menschlichen Sundhaftigkeit und Gebrechlichkeit; seyen wir auch noch so bereit, Gott unsere Sünde zu bekennen und verhehlen wir es auch den Menschen nicht, daß eine Menge Fehler uns anhaften, und daß wir besser und gerechter und geduldiger und treuer seyn sollten in unserm Beruf, als wir es sind: jedesmal wieder, wenn der Fall sich ereignet, da wir sagen sollten: hier, eben hier habe ich gefehlt und da hat mich die Sünde überrascht, da stehen wir an, es unbefangen und ohne Rückhalt zu thun. Gerade aber im bestimmten Falle, in den kleinen Verhältnissen des Lebens, in den täglichen tausendfachen Berührungen, in die wir mit Andern kommen, gerade da muß es sich zeigen, ob wir den Muth haben, jedesmal am rechten Orte und mit der rechten Unbefangenheit unsere Sünde zu bekennen und dadurch zu beweisen, daß die Wahrheit in uns ist. Nicht der also hat die Sündhaftigkeit seines Wesens im Sinne eines Johannes erkannt, der nur mit dem Munde bekennt: ich bin leider ein arger Sünder, dabei aber von jeder Verpflichtung das Gute zu thun und von jeder weitern Anstrengung sich losspricht, oder sich die Fälle und Umstände vorbehält, in denen er jenes Geständniß thun will; sondern der allein, der auch bei dem redlichsten Streben nach dem Guten dennoch es einsieht, wie unvollkommen seine Tugend ist, der auch die kleinste Untreue als Untreue sich anrechnet, der allen denen herzlich dankbar ist, die seinen Wandel beobachten und ihn auf seine Fehler aufmerksam machen, und der in jedem Augenblick und in jedem gegebenen Falle sein Unrecht einzugestehen bereit ist. Derselbe Apostel, der gesagt hat, lasset uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern mit der That und mit der Wahrheit, (1. Joh. 3,18) konnte auch in Absicht auf das Sündenbekenntniß unmöglich auf die Stärke der Worte und Ausdrücke einen sonderlichen Werth legen, sondern vor allem mußte er sehen auf die Aufrichtigkeit der Gesinnung, aus der das Bekenntniß hervorgeht, auf die Lauterkeit des Herzens, auf die Zartheit des Gewissens, die keinen Fehler ungeahnt vorüber gehen läßt, und auf die Willigkeit, sich lenken und sich ziehen und strafen zu lassen von dem Geiste der Wahrheit. Und daß dieß sein Sinn ist, geht aus der Art hervor, wie er uns die Gefahr vor Augen stellt, der wir uns aussetzen, so lange wir unsern wahren Zustand uns verhehlen.

II.

So wir sagen, wir haben keine Sünde, sagt der Apostel, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. - Es gibt viele Aussprüche in der heiligen Schrift, die für den sinnlichen Menschen weit furchtbarer klingen, als diese Worte. Wenn der Apostel gesagt hätte: „so wir sagen, wir haben keine Sünde, so werden wir ewig verdammt, so ist die Hölle unser Loos“, so würde wohl mancher denken, das sey doch eine gewaltige Drohung, und es müsse dem Apostel recht ernst gewesen seyn mit seinem Dringen auf das Bekenntniß der Sünde. Aber meint ihr, es sey ihm weniger ernst und die Drohung habe weniger Gewicht, als wenn er mit den Strafen der Hölle gedroht hätte? Als ob nicht eben das die ärgste Hölle wäre, wenn der Mensch sich selbst verführt, sich selbst belügt und betrügt und um das kostbare Gut der Wahrheit sich bringt. Derselbe Apostel, der einst, als er noch nicht den Geist Christi in sich aufgenommen hatte, Feuer und Schwefel herabwünschte auf die Gegner seines Herrn, er droht jetzt nicht mit Feuer und Schwefel, aber er droht mit einer Strafe, die weit ärger ist, als alles, was die menschliche Einbildungskraft sich Arges erdenken kann, wenn er sagt: der Mensch, der seine Sünde sich verhehlt, verführt sich selbst und die Wahrheit ist nicht in ihm. - Feuer und Schwert sind äußere Dinge, und die Geschichte des Christenthums hat es zur Genüge bewiesen, daß für den, der aus der Wahrheit ist, sie ihre schreckende Gestalt verlieren können; denn wie hätten sonst die Zeugen der Wahrheit können den Scheiterhaufen besteigen und ihren Leib sengen und brennen lassen um der Wahrheit willen, gleich wie ihr Meister um ihretwillen sich kreuzigen ließ? Aber die Wahrheit nicht in sich haben, an die Lüge verkauft seyn, ewig ein Sklave der Lüge bleiben und ein Kind des Vaters der Lügen, das ist das Feuer, das nicht löscht, das der Wurm, der nicht stirbt, das die Hölle, vor der uns schaudern muß, wenn noch ein Funke von Wahrheitsgefühl in uns ist und wir noch eine Ahnung haben von dem großen Segen der Wahrheit. Das aber ist der Fluch der Lüge, daß sie immer wieder Lüge erzeugt. Wer sich nicht kennen will, wie er ist, der bleibt sich ewig ein Räthsel und schleppt sich wie ein Gespenst mit herum; er trägt die Hölle eines bösen Gewissens, der Unzufriedenheit mit sich selbst und seinem Schicksal schon auf dieser Erde in sich; er lebt in beständiger Entzweiung mit sich und fühlt sich ewig geschieden von dem Gott, der ein Gott der Wahrheit ist und vor dem keine Finsterniß und keine Lüge zu bestehen vermag. Ja, er verschließt sich geradezu die Möglichkeit, jemals zu Gott, jemals zum Genuß der Seligkeit zu gelangen, denn er will die Wahrheit nicht, und ohne sie giebt es doch keine Seligkeit. Oder wie soll Gott ihm die Sünde vergeben, wenn er nicht als Sünde sie erkennt? Gesetzt auch, es könnten alle äußern Strafen, die der Sünde folgen, ihm erlassen werden, was wäre ihm damit geholfen, so lange die Lüge noch in ihm herrscht, und die Wahrheit nicht in ihm ist? Eben die Wahrhaftigkeit Gottes, oder das, was der Apostel in unserm Texte seine Treue und Gerechtigkeit nennt, eben die verlangt es und muß es verlangen, daß auch wir von dieser Seite wenigstens treu und gerecht, d. h. daß wir aufrichtig seyen gegen ihn, wie gegen uns selbst, und erst wenn wir in dieses Gesetz uns gefügt und der Wahrheit die Ehre gegeben haben, erst dann erkennen wir ihn auch darin wieder als treu und gerecht, daß er unsere weitere Ungerechtigkeit und Untreue aufhebt, indem er uns die Sünde vergiebt und reiniget uns von aller Untugend.

O saget nicht, das sey eine harte Lehre. Hart und unerträglich klingt sie nur dem, dem der Schein lieber ist als die Wahrheit und der also auch zur Noth einen Scheinhimmel und eine Scheinseligkeit sich könnte gefallen lassen, wenn es Gott möglich wäre, solche zu gewähren. Wer aber einmal einen Blick gethan hat in das Gesetz der Wahrheit, wer es weiß, daß außer ihr es keinen Himmel und keine Seligkeit geben kann, der wird, so schwer es ihn auch ankommt, sich gerne entschließen, durch eine ernste Prüfung seiner selbst, den Weg dahin zu betreten. Es kostet allerdings Ueberwindung, den Blick von außen abzuwenden nach innen und sich dem strengen Urtheil eines prüfenden Gewissens zu unterziehen. Nicht mit Unrecht vermuthen wir zum Voraus schon, daß wir unangenehme, unerfreuliche Entdeckungen machen werden, und diese Vermuthung wird zur Gewißheit, je länger und je treuer wir unsere Arbeit fortsetzen. Wir kommen auf böse, blöde, schadhafte Stellen, auf kranke, faule Flecken, auf Klippen und Untiefen in unserm Innern, an die wir nicht gedacht hätten; ja, es kann uns recht bange dabei werden, so daß wir wünschen möchten, wir hätten lieber nicht angefangen. Aber nur Muth! Auch die unerfreuliche Entdeckung, sie führt denn eben doch zur Wahrheit; wenn auch zu einer traurigen, zu einer bittern Wahrheit, doch immer zur Wahrheit. Und schon das ist Gewinn. Besser eine bittere Wahrheit, als eine süße Täuschung; besser noch das Erwachen an einem Abgrunde, als Versinken im Todesschlaf. Oder was würdet ihr zu einem Bauherrn sagen, der es wohl vermuthete, daß die Grundlage seines Hauses morsch geworden, der aber aus Furcht vor dieser unangenehmen Entdeckung lieber das Nachforschen nach dem Uebel unterließe und sich überredete, es stehe gut, bis der Einsturz des Hauses ihn vom Gegentheil überzeugte? Was würdet ihr von einem Kranken urtheilen, der den Sitz seines Nebels sich verheimlichte und den Arzt nicht hören wollte, der ihn darauf hinweist, der vielmehr sich vorlöge und von Andern sich vorlügen ließe, er sey gesund, bis endlich die Zeit der Rettung zu spät ist! Nein, meine Freunde, die Wahrheit wird nie zu früh und nie zu theuer erkauft, und wenn wir auch die Augen eine Zeit lang vor ihr verschließen können, ihrem Gerichte entgehen wir nicht. O daß wir daher doch lieber freiwillig ihr entgegen gingen, als von ihr uns überraschen zu lassen. Und o wie gut, wie sicher gehen wir an ihrer Hand! Sie ist die enge aber auch die sichere Pforte, sie der steile, aber auch der einzige und der richtige Weg, der zum Heile führt. Und auch da, wo sie bei ihrem ersten Erscheinen als traurige, als bittere Wahrheit uns entgegen tritt, soll sie uns willkommen seyn; denn sie kann sich für uns noch immer in Freude wandeln, in sofern sie eben hinführt zu jener göttlichen Traurigkeit, die in uns wirket eine Reue zur Seligkeit, die Niemand gereuet.

„So wir unsere Sünden bekennen“, das ist ja der tröstliche Schluß unseres Textes, „so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergiebt und reiniget uns von aller Untugend“ Und mit diesen Worten ist Alles gesagt. Ist einmal der entscheidende Schritt gethan, haben wir fallen lassen die Binde von den Augen, o so hält uns auch schon die treue Vaterhand, die uns nicht will sinken, ja auch nicht einmal uns will stehen lassen im Vorhofe, sondern die uns führen will von einer Stufe der Wahrheit zur andern. Dieselbe Wahrhaftigkeit Gottes, dieselbe Treue und Gerechtigkeit, die von uns verlangt und verlangen muß, daß wir die Sünde bekennen, dieselbe ist es, die nun auch wieder ihrer unveränderlichen Gottesnatur gemäß, uns die Sünde vergiebt und des göttlichen Wesens uns theilhaft macht. Und merken wir wohl: nicht äußerlich nur, wie ein gnädiger Richter will Gott die Sünde uns vergeben und die Strafe uns erlassen, sondern vielmehr innerlich als ein treuer Arzt will er unsere Seele in Pflege nehmen und sie heiligen und uns reinigen von aller Untugend. Er, der Wahrhaftige, will Wohnung machen in uns, damit von nun auch die Wahrheit wirklich in uns sey und bei uns bleibe. Er der Gerechte, will seine Gerechtigkeit uns mittheilen und zu Gefässen seiner Ehre uns bereiten. Er, der Treue und Barmherzige will das einmal angefangene Werk auch in uns vollenden, er will das noch schlummernde Gute in uns wecken und das noch Unreife zur Reife bringen; ja, er will auch die uns noch verborgenen Sunden uns ins Licht stellen, damit er auch von diesen uns reinige, und uns so durch die Kraft der Wahrheit immer mehr hinweghelfen über allen Trug der Sünde zum vollen, hellen Tageslichte der Wahrheit und zum endlichen Sieg über alles Ungöttliche.

M. A. Wenn uns der Apostel Paulus lehrt, daß wir gerecht werden vor Gott, nicht aus Verdienst der Werke, die wir gethan haben, sondern aus Gottes Erbarmen, und daß wir diese Wohlthat durch den Glauben uns zueignen sollen (Röm, 3,28), so lehrt er mit andern Worten uns dasselbe, was Johannes; denn unter dem Glauben, den Paulus verlangt, können wir nicht einen bloßen todten Wortglauben verstehen, sondern Glaube heißt ihm Vertrauen, kindliche Hingabe an Gott, zuversichtliches Hoffen auf ihn und seine Gnade. Und diesen Glauben, diese Zuversicht verlangt auch Johannes, wenn er uns auffordert, dem Herrn unserm Gott Unsere Sünde zu bekennen, und es ist als ob er nur mit andern Worten in unserm Texte uns sagte: schließen wir gegen ihn auf unser Kindesherz, so schließt sich gegen uns auf sein Vaterherz, oder wie Jakobus sich ausdrückt: nahen wir zu Gott, so nahet er sich zu uns (Jak. 4,8); oder endlich, wie Christus selbst uns gelehrt hat im Gleichniß vom verlorenen Sohne. Ja, suchen wir als die verirrten aber reuigen Söhne das Vaterhaus und das Vaterangesicht Gottes, so sind auch seine Liebesarme schon geöffnet, uns zu umfangen und an sein Vaterherz uns zu schließen.

Nun, wohlan, sie stehen uns offen, diese Arme, immer offen, und besonders in diesen Tagen. Christus hat uns den Weg gebahnt zum Vater, den blutigen, aber auch den siegreichen Weg. Er hat uns erlöst aus der Macht der Sünde und des Irrthums, und von seinem Leidenswege und von seinem Kreuze ruft er uns zu: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seyd, ich will euch erquicken; nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

Ja, mühselig und beladen, im Gefühl unserer Sünden und Verirrungen kommen wir zu dir, Herzog unserer Seligkeit! Sanft ist dein Joch, wenn wir's nehmen aus deiner Hand; leicht ist die Last, wenn du sie tragen hilfst. So laß uns, wenn wir unsere Sünden bekennen und bereuen, Ruhe finden bei dir, Ruhe für unsere Seelen. Amen.

1)
Worte der Agende.
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