Thomas Schirrmacher: Viel hat sich nicht geändert ...: Zur Neuauflage eines Klassikers zu falschen Vorhersagen

Thomas Schirrmacher: Viel hat sich nicht geändert ...: Zur Neuauflage eines Klassikers zu falschen Vorhersagen

Die Bedeutung des Buches

Zur ersten Auflage des vorliegenden Buches1) schrieb ich in einer Rezension: „Stuhlhofer ist für seine Untersuchung zu danken, denn wohl kaum ein Vorgang wird von bibelkritischer christlicher Seite ebenso wie von säkularer Seite so oft gegen den Fundamentalismus zitiert wie ihre unerfüllten Weissagungen, die durch angeblich 'wörtliche' Auslegung der Bibel gewonnen wurden.“ Hal Lindseys Bücher etwa standen in den USA auch im säkularen Bereich lange auf den Bestsellerlisten und erreichten Millionenauflagen. Die Wiederkunft Jesu berechnete er auf (ungefähr) 1988 - 40 Jahre nach der Gründung Israels, die Entrückung fiel demnach auf 1981 - 7 Jahre vor der Wiederkunft. 1989 trat dann die Ernüchterung ein (die eigentlich bereits 1982 hätte eintreten müssen!), und wieder einmal hatten sich die Evangelikalen lächerlich gemacht, denn in der Öffentlichkeit war Lindsey bekannt, nicht seine evangelikalen Kritiker2). Doch während die säkulare wie die evangelikale Welt, die Lindsey teilweise lange ihr Ohr geöffnet hatten, einmal mehr enttäuscht wurden, ging Lindsey selbst schweigend über sein Versagen hinweg. Stattdessen unterstellt er in einem weiteren Endzeitbuch 'The Road to Holocaust'3) (etwa: Der Weg nach Auschwitz), das nicht mehr in einem evangelikalen, sondern in einem New-Age-Verlag erschien, anderen evangelikalen Endzeitsichten, die mit seiner nicht übereinstimmen, das sie antisemitisch seien und letztlich wieder nach Auschwitz führten4).

In der evangelikalen Welt finden sich eine Vielzahl an Endzeitmodellen, die sich zwar grob verschiedenen Schulen zuordnen lassen5), die in sich aber in eine Vielfalt sich oft bekämpfender Vertreter und Gruppen zerfallen. Die große Zahl von konkreten Vorhersagen, die nicht eintraten, ebenso wie die große Zahl von Auslegungen, die einst sehr prominent waren, heute aber niemanden mehr überzeugen (man denke etwa an die frühere Rolle Russlands in der Prophetie), ist schon nur noch als peinlich zu betrachten. Zugleich aber ist diese Vielfalt der Meinungen eine gewaltige Anfrage an die evangelikale Hermeneutik, denn was nützt das Bekenntnis zur Bibel als oberster Norm, wenn man aus ihr beliebig viele Zukunftsmodelle ableiten kann, die scheinbar auch jede passende politische Konstellation stützen oder hinterfragen können?

Franz Stuhlhofer stellt in seinem Buch 'Das Ende naht!: Die Irrtümer der Endzeitspezialisten' in ausgezeichneter Weise zusammen, was im evangelikalen Bereich bereits an falschen Zahlenangaben, Fehldeutungen politischer Ereignisse usw. vorgebracht wurde. Sein Buch ist eine eindrückliche Warnung, nicht vorschnell einzelne Bibeltexte auf konkrete Ereignisse anzuwenden oder eine Zukunftschronologie zu entwerfen.

Denn wer kennt sie nicht, die ungezählten Ankündigungen evangelikaler Zeitschriften, was in der Politik der nahen Zukunft geschehen wird, die dann sehr schnell zum alten Eisen gelegt werden, wenn sich die politische Lage ändert? Wie viele weit hergeholte Theorien wurden im Zusammenhang mit den Kriegen und Großmächten der letzten Jahrzehnte entwickelt und als Auslegung der Bibel ausgegeben, die schon kurze Zeit später vergessen waren? Wer ältere Jahrgänge von evangelikalen Zeitschriften durchblättert, die sich der Endzeitthematik widmen, wird erstaunt sein, welche nie eingetretenen Entwicklungen bereits angekündigt wurden und welche Bibeltexte bereits auf die jeweilige Tagespolitik bezogen wurden. Die große Zahl falscher Propheten droht die echte Auslegung eschatologischer Texte der Bibel zu ersticken.

Franz Stuhlhofer hat ungezählte Beispiele falscher Zukunftsweissagungen zusammengetragen, solche der Zeugen Jehovas und ähnlicher Gruppierungen ebenso wie solche charismatischer, dispensationalistischer und anderer evangelikaler Autoren. Ihm geht es dabei nicht darum, das Erforschen der biblischen Texte zur Eschatologie lächerlich zu machen, sondern gerade darum, die Unglaublichkeit vieler angeblich biblisch begründeter Prophezeiungen aufzuzeigen, um deutlich zu machen, dass das Wort Gottes eine ganz andere Absicht und Botschaft hat. Kurzum: Was uns an den Zeugen Jehovas so schockiert, muss uns noch mehr schockieren, wenn es in unseren eigenen Reihen vorkommt! Bei den Zeugen Jehovas sind wir schnell mit dem Hinweis bei der Hand, das ihre sich ständig ändernden und nie eintreffenden Ankündigungen bestimmter Endzeitereignisse und -berechnungen eher ihre Meinungen und Wünsche widerspiegeln, als dem Wort Gottes Ehre zu geben. Gilt das aber nicht auch, wenn die Autoren evangelikal sind? Bei den Zeugen Jehovas ist uns die Tatsache, dass die Endzeitberechnungen nie eintrafen, alleine schon Argument genug, dass an dem Endzeitverständnis der Zeugen Jehovas etwas grundsätzlich falsch sein muß. Wenn aber Hal Lindsey, William Goetz, Klaus Gerth, David Wilkerson, Steven Ligthle, Marius Baar oder Wim Malgo (dies sind die Autoren, die Stuhlhofer besonders gründlich untersucht) ähnliches widerfährt, müßte dann nicht nur der einzelne Fehler, sondern ihr ganzes System neu überdacht werden?

Hier aber liegt genau das Problem. Die eschatologische Sichtweise ist in Teilen des fundamentalistischen Bereiches für viele zum vorrangigen Kennzeichen der Rechtgläubigkeit geworden, während vergangene Generationen überwiegend in ihren eschatologischen Bekenntnissen sehr vorsichtig waren und nur die Kerndaten der biblischen Eschatologie für verbindlich erklärten, wie es etwa im Apostolischen Glaubensbekenntnis bereits der Fall ist.

Zu verweisen ist neben Stuhlhofers Werk auch auf entsprechende englischsprachige Veröffentlichungen, namentlich die Untersuchungen des Prämillennialisten Dwight Wilson6), der Postmillennialisten Gary DeMar7) und Gary North8) und des Amillennialisten Otto Friedrich9).“

Zur unveränderten Neuauflage eines Klassikers

Sicher wäre es wünschenswert, ein entsprechendes Buch zu veröffentlichen, das sich mit evangelikalen Vorhersagen beschäftigt, die sich erst kürzlich als falsch erwiesen haben oder aber noch der Überprüfung durch die Geschichte harren. In den letzten 15 Jahren hat es weitreichende politische Veränderungen im Weltmaßstab gegeben, die auch dazu geführt haben, dass sich ganze Endzeitsysteme neu ausgerichtet haben. Selbst die Zeugen Jehovas haben - was niemand für möglich gehalten hätte - die Lehre aufgegeben, sie seien Teil der letzten Generation.

Da aber seit Erscheinen der 1. und leicht bearbeiteten 2. Auflage des Buches von Graf-Stuhlhofer sich im deutschsprachigen Bereich leider für den evangelikalen Bereich niemand dieser Aufgabe unterzogen hat oder derzeit unterzieht10), muss Graf-Stuhlhofers Werk als Klassiker anhand älterer Beispiele die Warnung aufrecht erhalten, dass nicht jede Endzeitsicht 'bibeltreu' ist, die sich auf die Bibel oder göttliche Offenbarung beruft. Wer die Bibel ernst nimmt, wird deutlich zwischen dem unterscheiden, was der Text biblisch-prophetischer Abschnitte zur Zeit der Abfassung sprachlich bedeutet hat und welche Auslegungs- und Anwendungsmöglichkeiten es dazu heute gibt. Er wird sich aus Sorge, er könnte den Text falsch auslegen, intensiv mit den Auffassungen von Mitchristen beschäftigen und nicht vorschnell meinen, andere hätten zu anderen Ergebnissen nur kommen können, weil sie nicht so tief gläubig, nicht so geisterfüllt oder nicht so von der biblischen Autorität überzeugt seien. Insbesondere wird ein bibeltreuer Christ auch die biblische Warnung vor falschen Propheten und Lehrern ernst nehmen und alles daran setzen, dass er nicht mit vorgeblich biblischer Autorität diese fundamentale biblische Warnung überrennt.

Für mich ist der erschreckendste Umstand im Umfeld evangelikaler Endzeitvorhersagen der, dass mir kein Fall bekannt ist, in dem sich ein Verfechter einer aus der Bibel abgeleiteten Endzeitsicht, die sich mit tagespolitischen Fakten verband und die der Lauf der Geschichte ad absurdum geführt hat, jemals öffentlich entschuldigt hätte (oder dies mir oder anderen gegenüber wenigstens im kleinen Kreis auf Rückfragen hin getan hätte). Wer bibeltreu ist, muss doch wissen, dass es keine Bibeltreue ohne eigenes Schuldeingeständnis geben kann, und wer Bibellehrer ist, muss doch wissen, dass die Schrift lehrt, dass Lehrer ein strengeres Urteil empfangen werden (Jak 3,1) und deswegen tunlichst die von ihnen irregeleiteten Menschen wenigstens im Nachhinein über den Irrtum aufklären sollten.

Wer hat sich nicht alles in die Reihe der Schreckensmelder zur angeblichen Planetenparade eingereiht, die am Ende auf der Erde gar nicht zu bemerken war? Wurde nicht von vielen der erste, inzwischen schon fast vergessene Irakkrieg zum Beginn des eschatologischen Endkrieges überhöht? Haben nicht viele sinnlose Prophezeiungen zum Jahreswechsel 1999/2000 verkündet und diese rein zufälligen Zahlen eschatologisch überhöht? In diesen drei konkreten Fällen wurde das offensichtliche Versagen der Propheten mit Stillschweigen übergangen. Man erwähnte die Voraussagen einfach nicht mehr, wegen denen man noch kurz zuvor andersdenkenden Christen den Glauben oder zumindest die Ernsthaftigkeit abgesprochen hatte.

Vor einiger Zeit erhielt ich das Bekenntnis einer neugegründeten evangelikalen Freikirche mit der Bitte zugeschickt, es zu prüfen. Auf zwei Seiten wurden die klassischen Glaubensinhalte des Christentums wie Dreieinigkeit, Zweinaturenlehre Christi, Rechtfertigung aus dem Glauben usw. abgehandelt. Auf 12 Seiten folgte die Eschatologie in allen Details. Das zeigt leider beispielhaft, welche Rolle ein Festlegen eschatologischer Fahrpläne erlangen kann.

Zwar hat die Zahl der Evangelikalen, die davon ausgehen, dass nur ein bestimmtes Endzeitszenario 'biblisch' sei oder dass sie einem konkreten Endzeitfahrplan einen sehr zentralen Platz in ihrer Dogmatik einräumen müssten, abgenommen und die Toleranz evangelikaler Christen gegenüber anderen eschatologischen Auffassungen zugenommen, aber dies ist leider weniger grundsätzlichen Einsichten geschuldet, dass diese Szenarien oft mehr tragen müssen, als sich exegetisch aus der Bibel erheben läßt, als 1. den vielen peinlichen Fehlvorhersagen (z. B. das Russland nach Israel marschieren wird oder die EU ein Zehnstaatenbund wird) und 2. einer allgemein abnehmenden Bereitschaft, sich überhaupt noch in dogmatischen Fragen festzulegen, auch dann nicht, wenn diese direkt und recht eindeutig aus der Heiligen Schrift zu erheben sind.

So wurde die New Age-Bewegung von vielen evangelikalen Autoren zur Weltanschauung der Endzeit schlechthin erklärt, die alles übernehmen würde - Graf-Stuhlhofer geht darauf S. 20-24 noch ein -, de facto ist sie aber als internationale Bewegung abgeflaut und hat dem Wiedererstarken der klassischen Weltreligionen wie z. B. Islam, Hinduismus und Katholizismus Platz machen müssen. Ich habe 1987 mit Fritjof Capra, dem obersten Guru und „Wanderprediger des New Age“11) diskutiert, der damals in aller Munde war. Heute muss ich Jugendlichen zunächst erklären, wer Capra eigentlich war, wenn ich von dieser interessanten Begegnung erzähle. Die Geschichte ist über Capra und seine Lehre hinweggegangen und hat in ihren Strudel alle die evangelikalen Prophezeiungen mit hinabgezogen, die die New Age-Bewegung vorschnell zu der Religion erklärt hatten, die der Antichrist verkündigen wird.

In den 40er Jahren spielte der Nationalsozialismus insbesondere in den USA eine zentrale Rolle in evangelikalen Endzeitszenarien, zu eindeutig verkörperte er das Böse schlechthin und vergriff sich am alttestamentlichen Bundesvolk, den Juden. Wer hätte gedacht, das der Nationalsozialismus bald nur noch Geschichte sein sollte und mit Hitlers Selbstmord auch als Massenbewegung ein abruptes und völliges Ende finden würde? Bald bot sich im Kommunismus ein guter Ersatz an. Wer hätte gedacht, das die Geschichte 1989 all jenen zu Hilfe eilen sollte, die immer schon Bedenken mit der allzu eindeutigen Identifizierung endzeitlicher Größen der Bibel mit dem politischen Gegner der USA und dem jeweiligen Hauptfeind der Juden geäußert hatten! Ganze endzeitliche Bibliotheken wurden durch den Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und den Abtritt Maos und seiner Erben Makulatur.

Doch längst bietet sich ein neuer Gegner an: Der Islam12). Wieder ist der tagesaktuelle politische Gegner zugleich mit seinem Terror scheinbar Personifizierung des Bösen und eindeutig antisemitisch ausgerichtet. Nur, könnte es nicht sein, das auch das Aufwallen des Islamismus nicht das Ende der Geschichte ist? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass Christen seit Jahrhunderten immer wieder dachten, das Ende sei nah und schlimmer könne es nicht werden, und sich damit sowohl historisch irrten als auch in ihrer Bibelauslegung offensichtlich falsch lagen. Das Christentum hat schon viele Weltmächte verschwinden sehen, warum sollte nicht auch der Islam dazugehören?

Änderungen im Dispensationalismus

Der amerikanische Dispensationalismus macht gegenwärtig tiefgreifende Veränderungen durch, indem die Gegenüberstellung von Gesetz und Gnade mehr und mehr gelockert wird und immer häufiger von einer Vorerfüllung biblischer Texte im Gemeindezeitalter gesprochen wird, die bisher ausschließlich auf das Millennium bezogen wurden. Es kommt dabei zu einer immer stärkeren Annäherung von Dispensationalismus und Bündnistheologie, wie besonders das in einem dispensationalistischen Verlag erschienene Buch Understanding Dispensationalists des Bündnistheologen Vern S. Poythress zeigt13).

Das heißt aber nicht, dass das von Stuhlhofer zu führenden Dispensationalisten wie Hal Lindsey Gesagte hinfällig wäre. Denn inzwischen wird der 'alte' Dispensationalismus etwa Hal Lindseys, der in der akademischen Welt des evangelikalen Amerika kaum noch Anhänger hat, wieder in Millionenauflage nicht mehr mit angreifbaren Argumenten verbreitet, sondern in den vielen Bänden der Zukunftsromanserie 'Left Behind' (Deutsch: 'Das Finale') von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins und ihren Mitarbeitern - in Romanform, die jedoch von vielen evangelikalen Lesern wie wahre Geschichte und Prophetie gehandelt wird14). Deswegen sei hier noch einmal die klassische Variante definiert. „Dispensationalismus, von John Nelson Darby (1800-1882) in den 1820er und 30er Jahren entworfene Sicht der Heilsgeschichte und Eschatologie, die zunächst für die von ihm begründete Richtung der Brüdergemeinden typisch war, dann aber über die Brüdergemeinden überhaupt und über die Gemeinschaftsbewegung in evangelikalen Kreisen in ev. Landeskirchen und Freikirchen und bei vielen Sondergruppen in- und außerhalb aller Konfessionen zur vorherrschenden Sicht der Zukunft wurde, zugleich aber in zahllosen untereinander zerstrittenen Spielarten auftritt. Der D. unterscheidet scharf zwischen den heilsgeschichtlichen Abschnitten (engl. dispensations), vor allem zwischen Israel mit irdischen Verheißungen und der Gemeinde Jesu mit rein himmlischen Verheißungen, weswegen alle sich auf irdische Dinge beziehenden Prophezeiungen der Bibel sich auf Israels Zukunft beziehen müssen. Das bedeutet, dass die Gemeinde sieben Jahre vor dem Ende der Welt vollständig in den Himmel entrückt wird (Prätribulationismus, lat. prä: vor; tribulatio: Drangsal, Entrückung) und stattdessen die Heilsgeschichte mit Israel weitergeht, zunächst 7 Jahre unter dem Antichrist und dann nach der Wiederkunft Jesu 1000 Jahre unter der Herrschaft Israels im Tausendjährigen Reich (Chiliasmus). Darbys Schluss, dass der Abfall von der wahren urchristlichen Gemeinde hin zur vermischten Großkirche bereits zur Zeit des Paulus begann (das 'große Haus' in 2. Tim 2,20) und erst jetzt mit seinen Gemeinden ('Versammlung' genannt, von Außenstehenden dagegen 'Darbisten') die wahre Gemeinde wieder gesammelt werde, die jede sichtbare Struktur vermeiden müsse, wurde von den meisten D. nicht übernommen. Der eher an reformatorischen Vorbildern orientierte Gegenentwurf im evangelikalen Bereich ist die Bundestheologie.“15)

Der Dispensationalismus verstand sich immer als völlig unpolitisch, auch wenn seine Zukunftssicht hochpolitische Elemente enthielt. Die Tatsache, dass Gegner der Fundamentalisten jedoch vor allem die politischen Gedanken und Folgen des Dispensationalismus kritisieren, zeigt jedoch, dass sich niemand völlig apolitisch verhalten kann, auch der Dispensationalismus nicht. Jeder hat letztlich politische Vorstellungen und jedes Verhalten hat politische Folgen. Meinrad Scherer-Edmunds, ein entschiedener Gegner der christlichen Mission, greift etwa in seinem Buch Die letzte Schlacht um Gottes Reich: Politische Heilsstrategien amerikanischer Fundamentalisten16) ausschließlich Dispensationalisten an17), die sehr deutlich politische Auffassungen vertreten oder stützen.

Erst die Ereignisse legen die Prophetie wirklich aus

Hauptgrund für die Verwirrung von Endzeitspekulationen aus biblischen Texten ist meines Erachtens, dass aus prophetischen Texten konkretere Angaben gelesen werden, als diese tatsächlich vorgeben wollen. Es gilt aber: Die tatsächlichen Ereignisse sind die beste Auslegung jeder Prophezeiung! Hinterher werden wir alle schlauer sein. Prophetie ist genau genug, um zu demonstrieren, dass Gott der Herr der Geschichte ist, und um zu trösten, zu warnen, zu belehren. Sie ist jedoch nie so genau, dass wir unsere Neugier beliebig befriedigen können. Nicht wir haben zu fragen, welche Details wir gerne gewusst hätten, sondern Gott offenbart, was er für wesentlich hält.

Nehmen wir als Beispiel das Leben des Messias Jesus Christus, wie es im Alten Testament vorhergesagt wird, denn hier haben wir ein ausgezeichnetes Lehrbeispiel vor uns: Ungezählten prophetischen Texten steht die ebenfalls in der Heiligen Schrift bezeugte Erfüllung gegenüber! Hier müssen wir unseren Umgang mit Prophetie und unsere Hermeneutik gewinnen und normieren!

Auf der einen Seite konnte jeder gläubige Jude ein klares Bild von dem kommenden Messias gewinnen. Deswegen haben jüdische Gläubige wie Simeon, Hanna, Johannes der Täufer u. a. Jesus sofort als Erfüllung des Alten Testamentes erkannt und anerkannt. Auf der anderen Seite wurden die Details der Erfüllung erst während oder nach Jesu Leben deutlich. Das heißt, die Prophezeiungen erfüllten sich selten so, wie man vorab vermutet hätte, und es war vorab nicht zu ersehen, welche Texte buchstäblich, übertragen, symbolisch oder anders zu verstehen seien.

Die Ankündigung, dass der Messias „Immanuel“ (Jes 7,14; 8,8) heißen würde, war zum Beispiel nicht 'wörtlich' im Sinne eines Vornamens zu verstehen, sondern 'wörtlich' im Sinne der Bedeutung des Namens selbst „Gott mit uns“ (oder „Gott unter uns“)! Das stellte sich jedoch erst heraus, als der Messias tatsächlich kam.

Wenden wir uns als weiterem Beispiel den Orten der Jugendgeschichte Jesu (Bethlehem, Nazareth und Ägypten) zu, die Matthäus in Mt 2 alle aus dem Alten Testament ableitet. Matthäus zitiert die alttestamentliche Aussage, dass Jesus in Bethlehem geboren wird (Mt 2,4-6 aus Mi 5,1). Wären wir darauf gekommen, dass seine Eltern nur auf der Durchreise in Bethlehem waren, in Wirklichkeit jedoch die Heimatstadt des Messias Nazareth war? Dann zitiert Matthäus die alttestamentliche Aussage „aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ (Mt 2,15 aus Hos 11,1). Hätten wir diese Aussage über Israel überhaupt auf Jesus bezogen? Jesus ist nämlich das wahre Haupt des aus der Knechtschaft [Ägyptens] befreiten Volkes Gottes. Schließlich soll Jesus laut Matthäus „Nazoräer“ heißen (Mt 2,23), also aus Nazareth stammen. Hätten wir Aussagen über 'Nasiräer' im Alten Testament (z. B. Ri. 13,5) auf Jesus als 'Nazoräer' bezogen18)?

Einmal angenommen, alle drei alttestamentlichen Weissagungen zu Orten, die mit der Kindheit des Messias zu tun haben, wären inhaltlich klar gewesen, hätten wir die Reihenfolge gewusst? In Bethlehem auf der Durchreise geboren? Nach Ägypten vertrieben? Von dort nach Nazareth gezogen und dort aufgewachsen?

Es zeigt sich, dass die Reihenfolge zukünftiger Ereignisse meist nur klar ist, wenn sie in einem einzigen Text dargestellt wird und auch dann die Frage meist offen bleiben muss, ob es eine eher buchstäbliche oder eher symbolische usw. Erfüllung gibt.

Ein typisches Beispiel im Umgang mit prophetischen Aussagen findet sich in Joh 2,19-22: „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab, und ich werde ihn in drei Tagen aufbauen. Da sprachen die Juden: 46 Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen aufbauen? Er aber redete [in Wirklichkeit] von dem Tempel seines Leibes. Als er nun aus den Toten auferweckt worden war, erinnerten sich seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.“ Nach der Erfüllung wird plötzlich deutlich, was gemeint war, ob der Text buchstäblich oder übertragen zu verstehen war und auf welche Zeit er sich bezog. Die Prophezeiung war deswegen nicht überflüssig. Zusammen mit der Erfüllung verkündigt sie eine tiefe geistliche Wahrheit.

Bei all diesen Beispielen hätte es auch nichts genützt, sich einfach auf eine 'wörtliche' Auslegung zu berufen. Wann ist der Name „Immanuel“ 'wörtlich' verstanden und erfüllt - wenn er zum Vornamen wird oder wenn seine Bedeutung Wirklichkeit wird?

Eine Sonderethik für die Endzeit?

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Schlimme Zeiten unterstreichen die Dringlichkeit des immer gleichen Willen Gottes

Immer wieder hört man als Argument dafür, ob man in Gemeinde und Evangelisation, ja sogar in der Politik, dies und jenes tun dürfe oder lassen müsse, dass wir in der Endzeit lebten und das berücksichtigen müssten. Ist das aber biblisch? Müssen wir, wenn wir uns evangelistische Strategien überlegen, vorher wissen, ob Gericht oder Gnade über unser Volk und die Zuhörer angesagt ist? Nein, im Gegenteil: Wir verkündigen das Evangelium immer wie eh und je, gerade weil wir verhindern wollen, das das Gericht kommt! Es gibt keine eschatologische Sonderethik.

Oder man könnte es auch genau andersherum ausdrücken: Es gibt eine eschatologische Sonderethik, aber sie ist die mit dem Kommen Jesu angebrochene Ethik des Reiches Gottes (Lk. 10,9+11 u. ö.; 21,31-32), die angesichts des kommenden Gerichts und der Wiederkunft Jesu (Apg. 17,31; 1. Thess. 5,1-3 u. ö.) schon seit Jahrhunderten gilt und sich nicht plötzlich im 21. Jahrhundert ändert.

Brauchen wir also eine Sonderethik für die Endzeit? Und das hieße ja auch: Brauchen wir eine exakte prophetische Ortsbestimmung, was aus unserem Land und unserer Welt in den nächsten Wochen, Monaten oder Jahren wird, um Gottes Willen kennen und tun zu können? Nein, denn Gottes in der Heiligen Schrift geoffenbarter Wille gilt grundsätzlich, ob es nun bergab geht oder nicht.

Eine der dramatischsten Beschreibungen der „schweren Zeiten“ der „letzten Tage“ liefert Paulus angesichts seines eigenen bevorstehenden Todes in 2. Tim 3,1-4,8. Ich will an dieser Stelle einmal nicht diskutieren, wieso Timotheus zum konkreten Handeln in diesen schweren Zeiten aufgefordert werden konnte, wenn diese rein in der fernen Zukunft liegen würden, sondern will für die Diskussion einmal davon ausgehen, das hier die letzte Zeit der Weltgeschichte beschrieben wird. Menschen werden selbstsüchtig, verleumderisch und betrügerisch sein, werden sich gegenseitig sexuell verführen (2. Tim 3,2+6), werden viel lernen und doch nie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (3,6), werden einem Scheinchristentum ohne Kraft anhängen (3,5) und Christenverfolgung wird normal sein (3,11-12). Und alle werden zu immer Schlimmerem fortschreiten (3,13). „Denn es wird eine Zeit sein, in der sie die gesunde Lehre nicht ertragen werden, sondern nach ihren eigenen Begierden werden sie sich selbst Lehrer aufladen, weil es ihnen danach in den Ohren kitzelt, und sie werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich zu den Fabeln hinwenden“ (2. Tim 4,3-4).

Welchen Schluss zieht Paulus aus den schrecklichen Zeiten in 2. Tim 3,1-4,8? Keine Sonderethik, sondern was für alle Christen zu allen Zeiten ausdrücklich angesichts der Zukunft galt und gilt: „Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christus Jesus, der Lebende und Tote richten wird, und bei seiner Erscheinung und seinem Reich: Predige das Wort, stehe bereit zu gelegener und ungelegener Zeit; überführe, strafe, ermahne mit aller Langmut und Lehre. … Du aber sei nüchtern in allem, ertrage Leid, tu das Werk eines Evangelisten, vollbringe deinen Dienst!“ (2. Tim 4,1-2+5).

Gerade im Zusammenhang mit einer Ethik für die schweren Zeiten fordert Paulus Timotheus auf: „Du aber bleibe in dem, was Du gelernt hast“ (2. Tim 3,14), nämlich der Heiligen Schrift. Gerade im Zusammenhang mit anstehenden schlimmen Zeiten und dem Gericht finden wir die zentralen Worte, die die Bedeutung der von Gottes Geist eingegebenen Heiligen Schrift für das Heil (2. Tim 3,14-15), für die Lehre (3,16) und vor allem für die Ethik (3,17) beschreiben. Um „zu jedem guten Werk ausgebildet zu sein“ und „ein Mensch Gottes zu sein“, braucht man keine speziellen Kenntnisse über die Zukunft, sondern die Bibel und ihre Ethik. Genauso endet auch der Missionsbefehl Jesu: „… und lehrt sie alles zu halten, was ich euch geboten habe; denn siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters“ (Mt 28,20). Jesu Ethik genügt - von der Kreuzigung bis ans Ende der Welt.

Was hier von dem speziellen Auftrag der Evangelisation gesagt wird, gilt natürlich für die gesamte biblisch-christliche Ethik. Ganz gleich, ob wir nun in der Endzeit leben oder nicht, das Liebesgebot, die Zehn Gebote, zentrale ethische Texte wie Röm. 12,1-2 oder 2. Tim 3,16-17 sind davon nicht betroffen. Gottes Hilfen und Anweisungen für unser Leben gelten immer, ganz gleich, ob wir gerade auf der Schatten- oder Lichtseite der Weltgeschichte leben, und ganz gleich, ob wir wüssten, dass morgen schreckliche Ereignisse eintreten oder eine Erweckung ausbricht.

In 1. Thess. 5,1-11 spricht Paulus vom Leben des Christen angesichts des kommenden „Tages des Herrn“ (V. 2). Da der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht kommen wird, kann sich keiner terminlich darauf einstellen. Eins aber kann man immer: wach sein, statt zu schlafen. Ethik angesichts der Wiederkunft Jesu besteht für Paulus hier im „Nüchtern“-Sein (V. 6), im „Wach“-Sein (V. 6), im gegenseitigen Ermahnen und Aufbauen (V. 11) und darin, den „Brustpanzer des Glaubens und der Liebe und den Helm des Heils“ (V. 9) anzuziehen. Wer so lebt, für den wird jener Tag nicht überraschend kommen (V. 4), und nichts deutet darauf hin, dass wir eine Sonderethik für die letzten Tage benötigten.

Auch in seinen Endzeitreden mahnt Jesus zur Wachsamkeit (z. B. Mt 24,32-25,13). Schon Jesus verwendet das Bild des unerwarteten Diebes in der Nacht (Mt 24,43+50), dessen Zeitpunkt man nicht kennt (Mt 24,44+50; 25,13). Deswegen kann es nur darum gehen, wach zu sein und nicht zu schlafen. Jesus will hier von seinen Jüngern im 1. Jh. und in allen folgenden Jahrhunderten, dass sie wachsam leben. Nichts deutet aber darauf hin, dass er für die letzten Tage eine andere, endzeitliche Ethik verkündigen wollte, als sie für die Jünger galt, die ihm zuhörten.

Buße kann das angekündigte Gericht abwenden oder zumindest aufschieben

Gilt die berühmte Verheißung in 2. Chr. 7,14 in der tatsächlichen oder vermeintlichen Endzeit nicht mehr? „Und wenn mein Volk, über das mein Name ausgerufen ist, sich demütigt und betet und mein Angesicht sucht und von seinen bösen Wegen umkehrt, dann werde ich vom Himmel her hören und ihre Sünden vergeben und ihr Land heilen“ (vgl. das Gericht in 7,13). Selbstverständlich gilt sie immer, auch dort, wo ein Volk oder eine Welt gerichtsreif geworden sind.

Wir finden im Alten Testament viele Beispiele dafür, dass das von Propheten angekündigte Gericht aufgrund von Buße und Umkehr ganz ausgesetzt oder um eine Generation verschoben wurde.

Das offensichtlichste Beispiel ist das Buch Jona. Seine Ankündigung, das Ninive in 40 Tagen untergehen werde (Jona 3,4), wurde durch die Buße des Volkes unwirksam. Jona war sich trotz seines Ärgers darüber klar, das Gott öfter so verfährt, „denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist …“ (Jona 4,2). Das Gericht entsprach also Jonas persönlichem Wunsch und Willen, so wie heute manche Christen geradezu sehnsüchtig auf das Gericht und den Untergang zu warten scheinen, anstatt das Evangelium zu verkündigen. Der Kirchenvater Chrysostomos hat in seiner 'Homilie von der Buße' Kap. 2 im Anschluss an die Jonageschichte betont, dass die christliche Predigt oft scheinbar die Hoffnung raubt, aber nie, um wirklich die Hoffnung zu rauben, sondern nur, um auf die wahre Hoffnung aufmerksam zu machen, die allein in Gott liegt.

Prophetische Ankündigungen, die Gott nicht mit einem Eid verband, konnten durchaus rückgängig gemacht oder geändert werden. Anders war es jedoch, wenn Gott per Eid das endgültige Aus erklärte.

Dem Hohenpriester Eli kündigt Gott etwa das Gericht unter Eid an (1. Sam. 2,30). Gottes Versprechen war demnach an Bedingungen geknüpft, nun aber schwört er mit einer Schwurformel ('das sei ferne'), dass die Zeit des Hauses Eli unwiderruflich abgelaufen ist.

Das angekündigte Gericht wird ausgesetzt (Beispiele)

Betroffene Gerichtsankündigung Gerichtsaussetzung wegen Buße
Hiskia 2. Kön. 20,1-11; 2. Chr. 32,24-26 2. Kön. 20,1-11; 2. Chr. 32,24-3
Jona Jona 3,4 Jon 3,5-10
Israel zur Zeit Hiskias 2. Chr. 30,13-20 2. Chr. 30,13-20
Die Juden nach der Kreuzigung Jesu Lk. 20,13-16 (Der Tod des Sohnes wird zur Zerstörung Jerusalems führen) Apg. 2,40 (eine Generation Aufschub)

Wenn Gott etwas ankündigt, kann es, wie das Beispiel von Jona in Ninive zeigt, durchaus noch anders kommen; schwört Gott aber, ist dies ausgeschlossen!

Die unbegreifliche Gnade Gottes kommt auch darin zum Ausdruck, dass er das Gericht oft nicht mit einem Schwur bekräftigt, dafür aber die Gnade um so mehr. Dies gilt etwa für den Noahbund, der einen Schwur Gottes zur Folge hatte, dass nie wieder ein solches Gericht über die Erde kommen werde (1. Mose 8,20-9,17). Dasselbe gilt auch für die Geschichte des Volkes Israel. Beides wird in Jes 54,9 zusammen erwähnt: „Wie die Tage Noahs soll mir dies sein, als ich schwor, dass die Wasser Noahs die Erde nicht mehr überfluten sollten, so habe ich geschworen, dass ich dir nicht mehr zürnen noch dich bedrohen werde“ (lies Jes 54,10).

Das bedeutet: Gericht, das Gott nicht per Eid angekündigt hat, oder Gericht, das er zwar angekündigt hat, seinen Termin aber nicht per Eid festgelegt hat, kann Gott jederzeit verschieben oder aussetzen, und das tut er regelmäßig, wenn Menschen zu ihm umkehren, seine Barmherzigkeit anflehen, sich mit ihm versöhnen lassen und beginnen, seinen Willen zu tun.

Deswegen wird in vielen Anwendungen biblischer Prophezeiungen auf die Gegenwart ein zu starres Endzeitprogramm vorausgesetzt, statt zu sehen, dass Gottes Plan schon oft in der Geschichte durch Buße und durch das Eintreten der Glaubenden geändert wurde.

Die Gemeinde hat Hoffnung angesichts des Gerichts

Die Gemeinde verkündigt Gericht nur, weil es Hoffnung gibt. Deswegen sind Gerichtssituationen einmalige Chancen für die Hoffnung in Gebet, Wort und Tat. Gerichtsreife Situationen sind gerade Bewährungsfelder des Glaubens.

Schon Hiob verwendet dafür das Bild des Baumes, der scheinbar abgeholzt und abgestorben ist, ein Bild, das später die alttestamentlichen Propheten immer wieder verwenden: „Denn für den Baum gibt es Hoffnung. Wenn er abgehauen wird, so schlägt er trotzdem wieder aus, und seine Triebe bleiben nicht aus“ (Hiob 14,7).

Deswegen gibt es für Christen nur einen Weg zur Erneuerung, auch zur Erneuerung der Politik und der Gesellschaft: So wichtig es ihnen auch ist, aus dem Gesetz Gottes zu erheben, was falsch läuft und wie Gott die Dinge haben möchte, heißt es doch auch : „… und ihr Land heilen“ (2. Chr. 7,14). Dann kann die Kirche auch echte Fürbitte für Gesellschaft und Staat leisten. Hoffen wir nur, das für uns nicht gilt, was Gott durch Hesekiel erschüttert feststellen musste: „Ich suchte unter ihnen jemanden, der eine Mauer ziehen und vor mir für das Land in die Bresche treten würde, damit ich es nicht vernichten müsste, aber ich fand niemanden“ (Hes. 22,30). In gerichtsreifen Situationen sollten Christen deswegen nicht Endzeitstimmung, Panik und Resignation verbreiten, sondern wie Abraham für ihr Volk beten und handeln.

Viele sehen keine Hoffnung für die Welt mehr, weil sie die vielen Abwärtsentwicklungen vor Augen haben. Hoffnung heißt doch aber gerade, nicht dem zu folgen, was man sieht, sondern auf das Eingreifen Gottes zu hoffen. Als die ersten Christen Hoffnung in das Römische Reich brachten, fanden sie doch keine bessere Situation als heute vor - im Gegenteil. Und der Osten Europas zeigt uns, dass Gericht auch Gericht über antichristliche Mächte sein kann, um dem Evangelium wieder freieren Lauf zu verschaffen.

Die Auslegung des Gleichnisses vom Ackerfeld (Mt. 13,24-30 und 36-43), auf dem beide, Unkraut und Weizen, bis zur Ernte hin wachsen, ist sehr leicht zu verstehen, weil Matthäus uns wenige Verse weiter Jesu eigene Auslegung überliefert. (Das Gleichnis ist für uns somit auch eine wichtige Hilfe, wie wir überhaupt Jesu Gleichnisse auslegen können und müssen.)

Die Geschichte des Reiches Gottes beginnt mit dem Aussäen des guten Samens auf das Ackerfeld der Welt durch Jesus Christus. Aus dem guten Samen wachsen „die Kinder des Reiches“. Gleichzeitig sät der Teufel seine böse Saat, aus der die „Kinder des Bösen“ stammen. Das Böse reift aus und wird immer offensichtlicher, aber das Gute erst recht.

Wann ist die Geschichte des Reiches Gottes auf Erden nach diesem Gleichnis zu Ende? Wann wird Jesus, der „Sohn des Menschen“, die Gerechten leuchten lassen und die „Gesetzlosen“ „zusammensammeln“ und bestrafen? Nicht zwischendurch, sondern am Ende der Geschichte dieser Erde zur Zeit des Jüngsten Gerichtes.

Solange das Reich Gottes wächst und die „Kinder des Reiches“ zunehmen und wachsen, ist auch die Stunde des Bösen noch nicht zu Ende. Ein Christ, der immer nur auf das Wachstum des Bösen starrt, übersieht, dass das Böse nur wachsen darf, damit das Wachstum des Guten nicht behindert oder unmöglich gemacht wird.

Das Wachstum und der letztendliche Erfolg des Reiches Gottes schließt das Leiden der Gemeinde Jesu nicht aus, sondern ein. Gerade in einem der Gleichnisse über das Wachsen des Reiches Gottes, dem Gleichnis vom Unkraut und Weizen (Mt. 13,24-30; 36-43), macht Jesus deutlich, dass nicht nur das Reich Gottes, sondern auch das Böse ausreift. Dennoch bleibt das Unkraut nur deswegen bestehen, weil der Weizen am Wachsen ist. Das Böse darf nur ausreifen, weil Gott auch seine Gemeinde wachsen und reifen läßt. Wäre die Gemeinde Jesu nicht in der Welt, käme sofort das endgültige Gericht über diese Erde (vgl. 1. Mose 18,22-23).

Warum dennoch mit Endzeitmodellen beschäftigen?

Bedeuten solche Beispiele, dass man sich am besten gar nicht mit Endzeitfragen beschäftigt und solche Texte besser übergeht, bis sie sich erfüllen? Dagegen sprechen meines Erachtens gewichtige Gründe:

  1. Ein zu großer Teil alt- und neutestamentlicher Texte befasst sich mit der Prophetie, um die Frage der Prophetie einfach beiseite lassen zu können. Ganze Bücher des Alten und Neuen Testamentes dürften dann nicht mehr gründlich studiert werden.
  2. Fragen der Zukunft hängen aufs engste mit anderen zentralen Glaubensfragen zusammen, zum Beispiel mit der Bedeutung des Gesetzes oder der Frage der Einmaligkeit des Opfers Jesu im Vergleich zu früheren und zukünftigen Opfern. Immerhin gehört zur Zukunft auch die Wiederkunft Jesu, das letzte Gericht und die Auferstehung der Toten, die wiederum untrennbar mit dem Wesen und dem Amt Jesu verbunden sind.
  3. Jeder Mensch hat sowieso seine Vorstellung von der Zukunft. Die Erklärung der zukünftigen Weltgeschichte ist in der Vergleichenden Religionswissenschaft ein Kennzeichen jeder Religion. Buddhismus, Marxismus, New Age und Islam, Nationalsozialismus und Jugendsekten leiten alle gleichermaßen ihre Schlagkraft aus Zukunftsvisionen ab. Die Bibel macht hier keine Ausnahme, nur das sie alleine die wahre Zukunft kennt, weil sie von dem inspiriert wurde, der die Zukunft macht!
  4. Es gibt genügend Texte in der Bibel, in denen aus der Zukunft konkrete Ermahnungen, Tröstungen und Gebote für die Gegenwart abgeleitet werden. Wer meint, er könnte auf jede Zukunftssicht verzichten, betrügt sich nur selbst, denn er übernimmt dann stillschweigend die Zukunftssicht seiner Umwelt. Viele Christen spiegeln tatsächlich eher die Zukunftsaussichten der Tagespolitik als die der Bibel wider. Auch der weitverbreitete Pessimismus in Bezug auf die persönliche Zukunft, die Zukunft der eigenen Ortsgemeinde oder die Zukunft der Welt entspringt bestimmten Vorstellungen von der Zukunft, auch wenn man diese nicht immer konkret ausdrücken kann.
  5. Die Zukunftsvorstellungen bestimmen maßgeblich unsere Einstellung zur unmittelbaren Zukunft. Wer glaubt, das der Antichrist Nero war und das Evangelium trotz anstehender Gerichte über alle gottlosen Völker auf dieser Erde triumphieren wird (Prät. Postm. - s. Tabellen), wird heute und morgen anders handeln als der, der glaubt, dass wir kurz vor dem Auftreten des Antichristen stehen und die Gemeinden sich kurz vor oder mitten in dem letzten großen Abfall von Gott befinden. Es kann deswegen nicht gleichgültig sein, wer die Realität richtig einschätzt, denn die Vertreter beider Positionen planen völlig an der Realität vorbei, wenn die jeweils andere Position recht hat.
  6. Wenn wir keine klaren Vorstellungen von der Zukunft haben, überlassen wir das Feld den Sekten. Die klassischen Sekten wie die Zeugen Jehovas stechen alle mit besonderen Endzeitsystemen hervor. Wenn man ihre Endzeitvorstellungen verstanden hat, hat man meist die ganze Lehre verstanden. Ähnliches gilt für viele kleinere merkwürdig anmutende Gruppen und Grüppchen auch im evangelikalen Bereich. Wir müssen klare Entscheidungen fällen, welche Eckpfeiler wir solchen Bewegungen entgegensetzen, auch wenn wir eine gewisse Bandbreite unter uns selbst anerkennen.

Besser ist es deswegen, unterscheiden zu lernen, welche Fragen sich eindeutig aus der Bibel beantworten lassen (z. B. dass Jesus wiederkommt, um alle Menschen zu richten), in welchen Fragen bis zur Erfüllung eine gewisse Bandbreite der Meinungen möglich ist und welche Fragen von der Bibel überhaupt nicht beantwortet werden und nur durch den Versuch, die Systeme zu vervollständigen, überhaupt aufgeworfen werden. Nur so kann die Flut falscher Deutungen und Prophezeiungen auch im evangelikalen Bereich eingedämmt werden.

1)
Franz Stuhlhofer. Das Ende naht! Die Irrtümer der Endzeitspezialisten. Brunnen: Gießen, 19921; 19932.
2)
So etwa Cornelis Vanderwaal. Hal Lindsey and Biblical Prophecy. Paideia Press: St. Catharines (CAN), 1978.
3)
Hal Lindsey. The Road to Holocaust. Bantam Books: New York, 1989.
4)
Vgl. zur Kritik die Darstellung der Antworten der Reconstructionists Gary DeMar, Peter J. Leithart. The Legacy of Hatred Continues: A Response to Hal Lindsey's The Road to Holocaust. Institute for Christian Economics: Tyler (TX), 1989; Steve M. Schlissel, David Brown. Hal Lindsey and the Restoration of the Jews. Still Waters Revival Books: St. Edmonton (CAN), 1990 die vorangehenden Abschnitte in diesem Kapitel.
5)
Vgl. dazu Thomas Schirrmacher. „Sechs evangelikale Modelle der Endzeit im Vergleich“. S. 381-403 in: Christian Herrmann (Hg.). Wahrheit und Erfahrung - Themenbuch zur Systematischen Theologie. Band 3. Wuppertal: R. Brockhaus, 2006 und früher Thomas Schirrmacher. Der Römerbrief. 2 Bde. Hänssler: Neuhausen, 19941. VTR: Nürnberg & RVB: Hamburg, 20012. Bd. 2. S. 145-191. Vgl. auch Klaus W. Müller, Thomas Schirrmacher (Hg.). Mission in der Spannung zwischen Hoffnung, Resignation und Endzeitenthusiasmus: Eschatologie als Missionsmotivation. Referate der Jahrestagung 2000 des afem. editon afem - mission reports 8. VKW: Bonn, 2000; Thomas Schirrmacher. „Gründe für die Frühdatierung der Offenbarung vor 70 n. Chr.“ S. 129-154 in: David Chilton. Die große Trübsal. Reformatorischer Verlag Beese: Hamburg, 1996; neuere Fassung: „Gründe für die Frühdatierung der Offenbarung vor 70 n. Chr.“. S. 379-409 und „Prolog“. S. 7-8 in: Rolf Herdejost. Der Untergang von Jerusalem: Roman. Schorndorf: agabos edition, 2003.
6)
Dwight Wilson. Armageddon Now!: The Premillenarian Response to Russia and Israel Since 1977. Institute for Christian Economics: Tyler (TX), 19912 (Nachdruck von Baker Book House: Grand Rapids (MI), 19771), bes. S. 86-122.
7)
Gary DeMar. Last Days Madness: The Folly of Trying to Predict When Christ Will Return. Wolgemuth & Hyatt: Brentwood (TN), 1991.
8)
Gary North. Rapture Fever: Why Dispensationalism is Paralyzed. Institute for Christian Economics: Tyler (TX), 1993.
9)
Otto Friedrich. The End of the World: A History. New York, 1982 (die wohl umfassendste, historische Untersuchung für die ganze Zeit der Kirchengeschichte); vgl. weitere Beispiele für nicht eingetroffene, evangelikale Endzeitberechnungen und -ankündigungen bei Timothy P. Weber. Living in the Shadows of the Second Coming: American Premillennialism 1875-1982. S. 177-203; Joel A. Carpenter. The Renewal of American Fundamentalism. Diss.: Baltimore (MD), 1984. S. 93-133. Vgl. ferner zur Thematik Robert Fuller. Naming the Antichrist: The History of an American Obsession. Oxford University Press: New York/Oxford, 1995.
10)
Für den Bereich der Sekten und politischen Bewegungen liegt aber vor: Hans Gasper. Friederike Valentin. Endzeitfieber: Apokalyptiker, Untergangspropheten, Endzeitsekten. Herder Spektrum. Herder: Freiburg, 1997. Darin geht Reinhard Hempelmann kurz auch auf „Apokalyptische Erwartung im Kontext charismatischer und evangelikaler Bewegungen“ (S. 51-69) ein, ohne aber die Nichterfüllung von Vorhersagen zu thematisieren. Er weist S. 54 aber auch zu Recht darauf hin, das die evangelikale Bewegung als Gesamtheit in ihren grundlegenden Dokumenten, wie der Lausanner Erklärung von 1974, bewusst auf eschatologische Modelle verzichtet und sich der Kontinuität der Kirchengeschichte mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis usw. anschließt. Vgl. zum katholischen Raum den Beitrag von Hubert Kohle ebd. S. 70-87.
11)
Vgl. „Im Gespräch mit dem Wanderprediger des New Age Fritjof Capra“. Factum 1/1988: 3-7, wieder abgedruckt in Thomas Schirrmacher. Im Gespräch mit dem Wanderprediger des New Age - und andere apologetische Beiträge. Bonn: VKW, 2003.
12)
Vgl. Thomas Schirrmacher. Feindbild Islam. VTR: Nürnberg, 2003.
13)
Vgl. Vern S. Poythress. Understanding Dispensationalists. Zondervan: Grand Rapids (MI), 1987. S. 33-38.
14)
Vgl. einen 'Gegenroman' über die Zeit von Johannes auf Patmos: Rolf Herdejost. Der Untergang von Jerusalem: Roman. Schorndorf: agabos edition, 2003.
15)
Thomas Schirrmacher, Hans-Georg Wünch und Stephan Zehnle. „Nachwort über die darbystische Lehre vom Dispensationalismus“. S. 607-608 in: John F. Walvoord, Roy F. Zuck (Hg.). Das Alte Testament erklärt und ausgelegt. Bd. 1. 1. Mose - 2. Samuel. Hänssler: Neuhausen, 1985 (bearbeitet).
16)
Meinrad Scherer-Edmunds. Die letzte Schlacht um Gottes Reich: Politische Heilsstrategien amerikanischer Fundamentalisten. edition liberación: Münster, 1989.
17)
Bes. deutlich S. 9+13-17+33-45+53.
18)
Vgl. zu dieser Sicht Peter J. Leithart. „He Shall be Called a Nazarene“. Biblical Horizons (Tyler/TX) Nr. 13 (Mai 1990): 2-3.
19)
Deutsche Fassung von: Thomas Schirrmacher. „Do we need a Special Ethics for the Last Days?“. Christianity and Society 16 (2006) 2: 47-50; siehe auch elektronisch: Eine Sonderethik für die Endzeit? MBS-Text 2. Bonn: MBS, 2004 (www.bucer.eu), englisch: Do we need a Special Ethics for the Last Days? MBS-Text 56. Bonn: MBS, 2005. Spanisch: ¿Una ética especial para los últimos tiempos? MBS-Text 70. Bonn: MBS, 2006.
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