Dräseke, Johann Heinrich Bernhard - Am dritten Sonntage nach Epiphanias

Dräseke, Johann Heinrich Bernhard - Am dritten Sonntage nach Epiphanias

Den Kranken gebührt der Gesunden treue Sorgfalt

Unsre Pflicht kennen zu lernen und lieb zu gewinnen, darum feiern wir diese stille Stunde. Laß sie gesegnet seyn, Vater! und keinen von uns ohne neue Kraft fürs Gute zu den Seinigen zurückgehn!

So wie fast eine jede Sache in der Welt zwei verschiedene Seiten hat, eine helle und angenehme, eine finstre und abschreckende, so bringt auch das häusliche Leben, neben den vielen und grossen Freuden, die es gewährt, manche trübe Stunde mit.

Nur an die Krankheiten der Unsrigen mögen wir denken, um dies zu fühlen. Was leiden wir am Schmerzenlager eines rechtschaffenen Vaters, einer frommen Mutter, eines geliebten Gatten, eines hoffnungsvollen Kindes, eines treuen Dieners! Wie dringt jede Miene, jede Bewegung, jeden Laut, jede Klage, wodurch sie ihren peinlichen Zustand äussern, in unser mitempfindendes Herz! Wie erfahren bald alle unsre Angelegenheiten und Geschäfte den traurigen Einfluß davon! Wie behindern die Störungen, die wir da finden, den raschen Fortgang der wartenden Arbeit! Wie drücken uns die zunehmenden Aufgaben! Wie verzehren uns die wiederholten Nachtwachen! Wie verstimmen sich allmählig, unter des Kummers unablässiger Berührung, die Saiten unsrer Seele! - Und wenn es nun vollends wachsende Plagen, langwierige Uebel, unheilbare Gebrechen sind, womit wir liebe Genossen unserer Familie kämpfen sehen; wenn wir durch alle Mittel, die wir versuchen, durch alle Kosten, die wir aufwenden, durch alle Sorgfalt, die wir beweisen, durch alle Aerzte, die wir zu Hülfe rufen mögen, am Ende doch nichts ausrichten; wenn wir ihre Leiden nicht entfernen, vielleicht nicht einmal vermindern, ihr Leben, ihr theures, werthes Leben nicht retten, vielleicht nicht einmal hinhalten können; wie bitter werden uns dann eben die Verbindungen, die in bessern Zeiten für uns eine Quelle des süßesten Vergnügens waren!

Oder sollen wir etwa gegen diese Bitterkeiten durch Leichtsinn uns abzustumpfen suchen? Sollen wir aufhören unsre Kranken zu lieben, um weniger zu leiden? Sollen wir ihren Umgang fliehen, und damit wir ihren Jammer nur nicht sehen und hören, sie dem Erbarmen fühlloser Miethlinge überlassen? Sollen wir aus unzeitiger Weichlichkeit unsre tröstende Gegenwart, oder aus mißverstandener Berufstreue unsre freundlichen Dienstleistungen, oder aus niedrigem Eigennutze die erforderlichen Heilmittel und Labsale den Armen versagen, deren Hülfsbedürftigkeit doch ihre Ansprüche auf unsre zärtliche Theilnahme so unendlich verstärkt? Soll uns die Freude berauschen und ein ungestörtes Wonneleben die eilenden Stunden beflügeln, indeß sie langsam den Wermuth des Schmerzes kosten und ihre einsame Klage jeden Tag in eine Ewigkeit verwandelt? Wie, meine Brüder, soll in der Sorgfalt für kranke Angehörige jener Heide uns beschämen, den uns das heutige Evangelium kennen lehrt? Ich denke, eher noch zu übertreffen suchen müssen wir sein Beispiel. Au einem Verhalten am Krankenbette der Unsrigen, wie es Christen ziemt, muß seine Gesinnung uns ermuntern, wenn wir für Christenehre überall noch Gefühl haben.

Möge denn dies die schöne Frucht unsers Nachdenkens, und der Geist, der uns zu den Unsrigen zurück begleitet, der himmlische, milde, allbeglückende Geist der Liebe seyn!

Matth. 8, 6.
Da Jesus nach Capernaum kam, trat ein Hauptmann zu ihm, und bat ihn: Herr, mein Knecht liegt zu Hause an einer Nervenkrankheit und hat grosse Qual. Jesus antwortete: ich will kommen und ihn gesund machen. Hierauf versetzte der Hauptmann: Daß du selbst, Herr, unter mein Dach gehest, bin ich nicht werth. Sprich aber ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Auch ich, der ich unter höheren Befehlen stehe, darf zu einem der Krieger die ich unter mir habe, nur sagen, gebe, so geht er, oder komm, so kommt er; oder thue das, so thut er's. Erstaunt hörte Jesus dies an. Dann wandte er sich an seine Begleiter: Wahrlich ich sage euch, solchen Glauben habe ich in Israel noch nicht gefunden. Aber ich versichere euch auch: Viele werden kommen von Morgen und Abend und mit Abraham, Isaak und Jakob in meinem Reiche Platz nehmen, während die gebornen Erben des Reichs in die Finsterniß werden hinausgestossen werden, wo Heulen und Zähnklappen ihrer wartet. Zu dem Hauptmann sprach Jesus: Gehe heim, dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht ward gesund zu derselben Stunde.

Es ist zwar ein Heide nur, von welchem uns hier erzählt wird. Dieser Heide ist aber ein so vernünftiger, so wohlgesinnter im Benehmen gegen seinen kranken Sklaven so musterhafter, und durch die zärtliche Fürsprache, womit er sich bei Jesus für denselben verwendet, so ehrwürdiger Mann, daß wir seiner Person unsre Liebe und seiner Denkart unsre Hochachtung unmöglich verweigern können.

Lasset uns denn zeigen, daß wir das Gute überall schätzen, und ohne Ausnahme von Jedem, der sich uns lehrreich macht, zu lernen beflissen sind.

Den Kranken gebührt der Gesunden treue Sorgfalt. Das ist die Wahrheit, die er uns zu beherzigen und zu üben empfiehlt. Er soll es nicht umsonst thun. Worin die treue Sorgfalt, die der Gesunde seinen Kranken zu erweisen hat, bestehe, soll das Erste, warum sie diesen gebühre, das Zweite seyn, was wir wohlmeynend überlegen wollen.

Zu treuer Sorgfalt für unsre Kranken gehört zweierlei: daß wir ihnen Hülfe und Erleichterung, beides in möglichstem Maasse und Grade, zu verschaffen suchen.

Kranke befinden sich in einem Zustande, der ihrer Bestimmung zu einem edelthätigen und unschuldigfrohen Leben widerspricht und die Endzwecke ihres Daseyns in mancher Rücksicht vereitelt. Diesen widernatürlichen Zustand zu verbessern und die unterbrochene Gesundheit wieder herzustellen, muß daher von dem Augenblicke an, wo das Uebel sich zu erkennen giebt, die erste Sorge seyn. Wessen Sorge? Der Kranken selber? Allerdings, wenn sie sich selbst zu helfen fähig sind, und in wiefern sie das sind; obgleich sie auch dann schon eine besonders zärtliche Aufmerksamkeit der Gesunden verdienen. Sehr häufig fühlen sie aber ihre Hülfsbedürftigkeit nur, ohne etwas für sie thun zu können. Da dürfen sie denn auf uns, denen sie zunächst angehören, mit der größten Befugniß rechnen. Wir haben ihnen beizustehen mit Kraft und Beruf. Unsre Sorge gebührt den Verlassenen, die Gott aufs Krankenlager geworfen hat, unsre thätige, treue Sorge. Mit jener müßigen Theilnahme, die nichts als blosse Wünsche und leidige Trostsprüche, oder Wehklagen und Thränen hat, genügen wir hier der Pflicht nicht. Hülfe, wo möglich, sollen wir schaffen, sichere Hülfe. - Bei dem Reichthume von Heilmitteln nämlich, welche die Natur den Menschen darbietet, liegt ungemein viel daran, daß wir uns in der Auswahl derer, die wir einem Kranken bereiten, nicht irren. Dies kann gleichwohl so sehr leicht geschehen, wenn wir jene Auswahl, ohne doch die dazu erforderlichen Kenntnisse zu besitzen, entweder selbst besorgen, und jedem etwa gelegentlich einmal aufgegriffenen Anschlage folgen; oder statt einen einsichtsvollen Rathgeber aufzusuchen, und Andern eben so Unkundigen, als wir sind, überlassen. Nicht selten werden wir dann tödtendes Gift, für heilbringende Arznei geben und schaden, wo wir zu helfen dachten. Es leuchtet ohne Beweis ein, wie schlecht für die Genesung unserer Kranken damit gesorgt seyn müsse.

Ziehen wir daher unsre Pflicht und die ihnen schuldige Liebe in Betracht, und erwägen wir, daß nichts geringeres als ihr Leben auf dem Spiele steht; so ergreifen wir, um sie zu retten, nicht das erste, das beste Mittel, das uns der Aberglaube unter allerlei Vorspiegelungen an die Hand giebt; so halten wir sie zu werth, um sie ungeschickten Händen, als gewisse Schlachtopfer zu überliefern; so suchen wir die sicherste Hülfe, die unter den vorhandenen Umständen nur zu haben ist, für sie auf, wenden uns an sachverständige, erfahrene, eben deshalb zuverlässige und unsers vollkommensten Vertrauens würdige Personen; gebrauchen, was diese anordnen, eben so gläubig als pünktlich, eben so willig als unverdrossen, lassen nicht die mindeste Abweichung von ihren Befehlen zu, und übergeben den Erfolg davon dann jener höhern Hand, die alles wohlmacht. Dies sehen wir den Hauptmann im Evangelio thun. Er hat vielleicht an die Wiederherstellung seines gichtbrüchigen Sklaven, alles, was seine Lage ihm erlaubte, bereits gewandt. Dies dünkt ihm indeß, da er vernimmt, daß Jesus in der Nähe sey, nicht genug. Von ihm erwartet er noch bewährtere Mittel, als die bisherigen. Ihn bittet er daher mit aller der Zuversicht, die der Sohn Gottes verdiente, um seinen allwirksamen Beistand; und seiner Bitte folgt des Kranken Genesung.

Wie er sollen wir - wenn einer unserer Angehörigen daniederliegt, auf die sicherste mögliche Hülfe denken. Wird sie dann nicht belohnt; bleiben alle unsere Versuche fruchtlos; ist selbst der erfahrnere Arzt nicht im Stande zu retten, wo wir täglich um Rettung beten, weil das Uebel, wogegen er arbeitet, seine Heilkunst verspottet; oder geschehen durch seine Schuld in der Behandlung unserer Kranken Mißgriffe, denen der unausbleibliche Tod folgt; nun, so geschah dies unter der Obhut dessen, gegen den die Ohnmacht der Menschen vergebens anstrebt. Hierin, und in dem Bewußtseyn, alles Mögliche versucht zu haben, liegt grosse Beruhigung.

Dieser Fall kann gleichwohl nur selten eintreten, wenn die sichere Hülfe, worauf es ankommt, nur auch schleunig gesucht wird. Unstreitig bedachte dies der rechtschaffene Kriegesmann in unserm Texte; und wir mögen es ihm bei seiner Gesinnung daher wohl zutrauen, daß er die Schmerzen seines kranken Knechtes nicht erst aufs höchste steigen ließ, ehe er nach einem Helfer sich umsah. Er eilte vielmehr ihm beizustehen. Man fühlt es bei der Schilderung, die er vom Zustande desselben macht, wie dringend er war; man hört es seiner Bitte an, wie gefährlich er jeden Aufschub hielt und wie gern er zu einer Beschleunigung des helfenden Machtwortes den Göttlichen bewöge.

In der That leidet auch keine Krankheit eine Verzögerung der Hülfe. Manche, die bei früh genug angewandten Heilmitteln leicht wäre geholfen worden, weil sie anfangs nur wenig bedeutete, wurde späterhin durch blosse Versäumniß hartnäckig, gefährlich, tödtlich; und schon sehr viele Menschen, die ein allzufrühes Grab bedeckt, starben nur daran, daß die gehörige Hülfe zu lange ausblieb. Ohne einen Augenblick zu verlieren trifft sonach der Christ, wenn einer der Seinigen erkrankt, die zweckmäßigsten Anstalten. Er behilft sich nicht erst eine Zeitlang ohne Anwendung wirksamer Mittel, hält sich nicht auf bei eitlen Versuchen ohne Plan und Erfolg, und verschiebt es nicht von einem Tage zum andern, bevor er am rechten Orte sich Raths erholt. Sobald er seine Angehörigen in einer körperlichen Verfassung erblickt, die ihm unnatürlich dünkt und von der er Gefahr befürchtet; sobald er sie über Schmerzen, die er sich eben so wenig erklären, als mit Sicherheit entfernen kann, klagen hört; sobald er ihn gewahr wird, den anfangs vielleicht unmerklichen und geringscheinenden Fehler, der in der Folge gleichwohl ihre Gesundheit zerrütten könnte; - gleich, und ungesäumt, und ehe das Uebel um sich greift und bis zu einer furchtbaren Gewalt anwächst, schafft er da Hülfe. Und diese lässt er ihnen dann so reichlich und anhaltend angedeihen, bis sie, wo möglich, vollkommen hergestellt sind. Denn nicht blos eine sichere und schleunige, auch eine vollständige Hülfe glaubt er ihnen schuldig zu seyn. Schon der heidnische Mann, den das Evangelium uns kennen lehrt, hatte diese Ueberzeugung. Nicht vermindert nur und für eine Zeitlang besänftigt wünschte er die Schmerzen seines leidenden Knechtes zu sehen. Daß derselbe wieder „gesund“ werden mögte, war der Inhalt seines herzlichen Anliegens. Und du darfst ihm hierin nicht nachstehen, mein Christ, wenn du dem leidenden Bruder nichts schuldig bleiben willst. Kannst du das Uebel, womit dein Kranker behaftet ist, bei einer vernünftigen und fortgesetzt sorgfältigen Behandlung, von Grund auf heben; so sollst du dich nicht begnügen, es nur zu schwächen, oder sein schnelleres Ueberhandnehmen zu verhindern. Kannst du das Gift, das in seinen Adern schleicht, ganz hinwegschaffen; so sollst du es nicht blos einschränken und zurückdrängen wollen. Kannst du dazu beitragen, daß er seine vormalige Kraftfülle wieder erlange; so sollst du nicht glauben dein Möglichstes gethan zu haben, so lange noch verrätherische Blässe auf seinen Wangen ruht und peinliche Mattigkeit alle seine Bewegungen begleitet. Kannst du ihn retten, für ein nützlich-frohes Leben retten; so sollst du deine Pflicht nicht für erfüllt ansehen, wenn er blos aus ein paar freudenlose, traurige Jahre in einem kränkelnden Zustande hingehalten wird.

Es ist wahr, eine so vollständige Hülfe pflegt wohl langwierig und beschwerlich zu seyn, macht Sorg' und Mühe und führt überdies oft die peinlichsten Umstände und die drückendsten Ausgaben herbei. Es ist nur zu wahr, ohne zahllose Unannehmlichkeiten und Aufopferungen von deiner Seite kannst du sie in den wenigsten Fällen leisten. Aber das alles darfst du, wenn du gegen deine kranken Angehörigen als Mensch gegen Menschen handeln willst, nicht achten. Was in deinen Kräften steht, mußt du versuchen und anwenden und wagen und dulden, um sie so lange zu erhalten, als der es will, der Jedem sein Ziel gesetzt hat. Es ist deine Pflicht, deine heilige und unerläßliche Pflicht ihnen sichere, schleunige, vollständige Hülse zu schaffen.

Und ausser dieser zugleich jede mögliche Erleichterung ihres Zustandes. Nun ist zwar Hülfe an sich schon die beste Erleichterung, und muß immer die erste seyn, die wir unsern Kranken bereiten, wenn nicht alles, was wir an ihnen thun, vergeblich seyn soll. Sie ist aber nicht die einzige, die sie fordern und wir geben können. Es sey, daß ihnen nichts fehle, was zu ihrer Genesung unmittelbar gehört; werden dadurch auch ihre Schmerzen sogleich gemildert, werden die Freuden, die sie sich versagen müssen, ihnen dadurch schon ersetzt, wird ihnen der einsame, trübe Tag dadurch schon heiterer, und die lange Nacht kürzer, deren zögernde Stunden kein erquickender Schlaf vertreibt? Gleich, wohl wünschen sie, daß dies geschehe; und wer könnte ihnen diesen so natürlichen und billigen Wunsch verargen! Auch diesen sollen wir denn zu befriedigen suchen. , Mit mancherlei Annehmlichkeiten sollen wir, so viel das sich thun lassen will, die ihnen zukommende Hülfe verbinden, und was die Zeit des Schmerzens und der Entbehrung ihnen irgend versüßen kann, gern und eifrig veranstalten. Dies ist die Erleichterung, die hier gemeint wird, und die von der eigentlichen Hülfe auch schon aus dem Grunde sich unterscheidet; weil weder das wirksamste Heilmittel, noch der erfahrenste Arzt, und erkaufte Handreichungen und Dienste überall nicht, sondern nur, die Liebe sie bereitet.

Hieraus erhellet denn zugleich, von wem besonders der Kranke diese Erleichterung erwarte, und was sie ihm verschaffe. Wir, die wir durch die engeren Bande des häuslichen Lebens mit ihm vereinigt sind, sollen sie ihm darbringen; Wir sollen mit einem immer heitern und immer liebevollen Sinne, so lange er danieder liegt, ihm zur Seite stehn.

Man kann unempfindlich werden, meine Brüder. Man kann fremden Leiden, wenn man sie immer vor sich hat, mit einer gewissen Gleichgültigkeit zusehen, und gegen das Winseln des Schmerzens, wenn man es unablässig vernimmt, sich betäuben lernen. Man kann mürrisch werden, wenn man an das Lager eines Kranken sich gleichsam gebannt fühlt, und indeß Andre des Lebens lachende Seite nur kennen, auf jede Bequemlichkeit und Freude, die man sie gemessen sieht, Verzicht thun muß. Man kann ungerecht und feindselig sogar werden, und im, Augenblicke des aufwallenden Mißmuths sich hinreissen lassen, dem armen, vielgeplagten Dulder es vorzurücken, welche Last und Sorge, welche Kosten und Mühwaltungen, welche Widerwärtigkeiten und Beschwerden man seinetwillen habe oder gehabt habe. Je niedriger man denkt, je eher ist man zu dem allen im Stande; je leichter lässt man zu einer solchen Lieblosigkeit sich hinabstimmen; je weniger pflegt man überhaupt in seinen Aeusserungen und Handlungen auf das Gefühl des Leidenden Rücksicht zu nehmen.

Wie gangbar und einheimisch aber unter rohen Menschen diese Gesinnung auch sey, nie darf sie die unsrige werden, denn sie erleichtert nicht, sie erschwert, sie verbittert unsern Kranken ihre leidenvolle Verfassung; sie streitet durchaus mit der ihnen gebührenden treuen Sorgfalt.

Mehr als alle Pflege, die wir ihnen bereiten, und alle Befriedigungen ihrer Lüsternheit, die wir herbeischaffen mögen, schätzen sie eine freundliche, zarte Behandlung - so sollen sie diese nie vermissen. Ansehen sollen sie es uns, daß wir die Bürden, die ihr Zustand uns auflegt, willig tragen; daß wir die Kosten, die ihre Wiederherstellung erfordert, gern anwenden; daß wir die Dienste, die ihre Pflege nöthig macht, Unverdrossen leisten; daß wir den Entbehrungen und Mühseligkeiten, den Sorgen und Nachts wachen, die an das traurige Amt eines Krankenwärters geknüpft sind, ohne Widerstreben uns unterziehen. Selbst wenn durch unsre Lage oder durch die Länge der Zeit dies alles uns doppelt lästig würde, oder wenn unsre Kranken durch eigne Schuld ihre Leiden herbeigeführt hätten, wollen wir nicht müde werden an ihnen unsre Pflicht zu thun, und was uns obliegt mit bereitwilligem Herzen thun. Ihre eigene Ungeduld soll unsre Geduld nicht besiegen können. Schonen und nachgeben und um ihres verstimmten, kranken Gemüthes willen sogar Eigensinn und üble Laune ertragen, soll uns Gesetz seyn. Verstohlen nur soll der Kummer über unsre traurigen Verhältnisse sich äussern, wenn er zuweilen das schwache Herz übermannt. Ein einsamer, stiller Winkel soll die klagende Thräne verbergen, damit sie ihre schuldlosen Urheber nicht betrübe. Und wo wir einmal mißmuthig sind, wollen wir uns wenigstens immer hüten es zu scheinen.

Verbinden wir in unserm Betragen gegen sie mit dieser Heiterkeit des Sinnes liebevolle Theilnahme, so kann ihnen, wenn ihre Ansprüche anders billig sind, zu wünschen nichts übrig bleiben. Theilnahme denn, die Theilnahme der Liebe beweise ihnen alles, was wir thun. Mag ihre Gesellschaft immerhin wenig frohen Zeitvertreib gewähren, dennoch lasst uns gern an ihrem Lager verweilen. Lasst uns den Aufenthalt bei ihnen dem angenehmsten Zirkel und den lockendsten Einladungen zur Freude vorziehen. Lasst uns, um sie nur keinem Miethlinge preis geben zu dürfen, auch das Liebste, wenn es seyn muß, edelmüthig entbehren und aufopfern. O das warme Mitgefühl, womit wir dann, wenn wir bei ihnen sind, in ihre Empfindungen eingehen und ihren Bedürfnissen uns anschmiegen; der lebhafte Antheil, den wir bei ihren Leiden, oder bei den frohen Merkmalen der wiederkehrenden Genesung zu erkennen geben; die sorgliche Liebe, mit der wir um ihr stilles Bette her uns beschäftigen, ihren Blicken begegnen, ihre Winke auffassen, was sie gern haben erlauschen, und alles, alles zuerst in Beziehung auf sie denken; die zärtliche Behutsamkeit, mit welcher wir jedes störende Geräusch von ihrem leisen Schlummer entfernen, vor widrigen Ein, drücken ihr reizbares Gemüth beschützen, besonders die Zudringlichkeiten der müßigen Neugier hindern, und weil Krankenzimmer keine Versammlungsplätze für die gesellige Unterhaltung sind, auch jeden Besuch, den nicht die bekümmerte Freundschaft, sondern nur die ceremonielle Höflichkeit und die eingeführte Sitte giebt, ablehnen; der emsige Eifer überhaupt, womit wir uns bestreben ihnen gefällig zu werden, sie zu erheitern, durch frohere Bilder den Schmerz zu besänftigen, und vom langsamen Glockenschlage, den sie sonst so traurig zählen, ihre Aufmerksamkeit hinwegzuziehen; die weise Vorsicht endlich, mit der wir zwar alles, was ihren Geist zu stark beschäftigen könnte, auch wenn es Gegenstände von noch so freundlicher Art wären, vermeiden, dennoch aber ernstlich darauf Bedacht nehmen, daß auch für ihre Veredlung ihr Krankenlager ihnen möglichst wohl, thätig, und selbst der Gedanke an den Tod, im Fall sie dessen schon fähig sind, ihnen geläufig und heiter werde; - dies alles, - dies Alles! Wie wird es sie aufrichten! Wie wird es zu frommer Standhaftigkeit sie ermuntern! Wie wird es ihnen die Trübsal, welche die Vorsehung über sie verhängt, erleichtern! Wie wird es ihre dankbare Liebe uns gewinnen und aus ewig zu eigen machen.

Ob der edle Mann, von dem das Evangelium erzählt, auch hierin Muster war, lässt die heilige Geschichte unentschieden. Aus der Inständigkeit, womit er bei Jesus für seinen krankem Diener sich verwendet, dürfen wir es nur muthmaßen. Wenn er aber auch davon nichts wußte, wie sehr man durch eine immer heitre und zärtlich theilnehmende Behandlung um kranke Angehörige sich verdient mache; so wissen wir es, besser unterrichtete Bekenner des Christenthums; so fühlen wir es, noch ehe wir uns die Beweggründe dazu einzeln vorhalten, daß jede Erleichterung, die wir jenen Leidenden darbieten können, Pflicht sey; so wollen wir dieser Pflicht uns entledigen, damit wir die Liebe nicht verletzen. O Gott, die wir als deine Kinder einander schuldig sind. Nicht blos in frohen Tagen wollen wir den Genossen unsers Hauses und unsrer Familie die Hand reichen und mit ihnen theilen, was deine väterliche Milde bescheert; auch trübe Stunden wollen wir redlich zusammen durchkämpfen, auch in jedem Sturme, der unsern häuslichen Frieden unterbricht, wollen wir einander beistehen; sammeln wollen wir uns mit unsern Hülfleistungen und mit allem, was die Liebe Freundliches und Ermunterndes hat, um dessen Lager, den seine Leiden unsrer thätigen Teilnahme doppelt bedürftig und würdig machen.

So muß es seyn, geliebte, Brüder! Schon die blosse Darstellung dieses Entschlusses überzeugt gutgesinnte Menschen, wie ehrwürdig, wie nothwendig er sey. Wie viel mehr wird er uns in diesem Lichte erscheinen, wenn wir uns jetzt nun auch die Gründe noch vergegenwärtigen, warum den Kranken der Gesunden treue Sorgfalt gebührt. Höret denn und beherzigt sie! Zu einer treuen Sorgfalt für unsre . Kranken ermuntert uns bereits unser Vortheil; verpflichtet uns die Religion; fordert uns laut auf die Stimme der Natur und des Gewissens.

Oder ist es dein Vortheil nicht, mein Christ, wenn durch deine Sorgfalt genesen und gerettet deine Lieblinge in ein neues Leben zurückehren; wenn sie die Vorzüge und Tugenden, wodurch sie dir einst so Werth waren, nun herrlicher noch vor deinen Augen entfalten und ihre Beiträge zu deinem Wohlergehn vielleicht verdoppeln; wenn , sie durch deine erprobte Zärtlichkeit gerührt, dir nun inniger anhangen, dir zuversichtlicher trauen, dich dankbarer lieben und so durch Geben und Empfangen Euer Verhältniß zu einander sich unaussprechlich verschönert? Wohlthaten können sich reicher nicht belohnen, als wenn wir uns durch sie eine Seele auf ewig zu eigen machen; ist nicht schon die blosse Möglichkeit diesen Lohn zu erhalten, Gewinn und Segen für dich? Oder sind Regungen der Liebe gegen die Deinigen dir fremd? Achtest du sie zu besitzen für kein Glück mehr? Hat das, was du an ihre Errettung wenden müßtest, mehr Werth für dich als ihr Leben? Ward wohl gar schon der heillose, entsetzliche Wunsch, sie bald zu verlieren, in deiner verworfenen Seele reif? So wisse und zittre vor dir selber; zu einer treuen Sorgfalt für unsre Kranken ermuntert uns nicht unser Vortheil allein; es verpflichtet uns eben dazu auch die Religion. Beachten wir die Grundsätze Jesu und seiner Apostel; so ist Liebe die Hauptsumma aller Gebote, das Höchste im Gesetze, das Band der Vollkommenheit, die Frucht eines durch Christenthum gebildeten und veredelten Geistes wie lästern wir denn diese erhabene Sittenlehre durch einen lieblosen, untheilnehmenden, unzärtlichen Sinn gegen die Unsrigen! So soll allen Menschen unser aufrichtiges Wohlwollen gehören, und die ganze Gemeine Jesu wie Ein Körper seyn, wo, wenn ein Glied leidet, alle Glieder mit leiden, und wird eins herrlich gehalten, sich alle mit ihm freuen wie viel mehr muß dies gegenseitige Wohlwollen und diese herzliche Theilnahme denn in unserer Verbindung mit denen herrschen, die sich zu einer Familie mit uns zählen, die Ein Haus mit uns bilden, die Ein und dasselbe Interesse mit, uns vereinigt! So sollen wir mit der empfangenen Gabe als gute Haushalter Gottes einem Jeden, wo wir können, dienen, sollen dem Bedrängten besonders beistehen , seiner Nothdurft uns annehmen, des Schmerzens Thräne mit brüderlicher Hand trocknen, und am leidenden Nächsten, wo wir ihn finden, Barmherzigkeit thun wie viel mehr denn an unsern Kranken, die der Himmel eben unserer Hülfe zunächst übergab, und die ihr Zustand unserer thätigen Theilnahme in so hohem Grade bedürftig macht!

Dies alles wissen wir, meine Brüder; und doch könnten wir unsern Kranken die ihnen gebührende treue Sorgfalt verweigern? Der ersten Vorschrift unserer Religion, dem Geiste der Liebe, der aus allen ihren Geboten hervorhaucht, handeln wir zuwider, wenn wir diese Pflicht aus der Acht lassen; und doch dürften wir, als Uebertreter derselben, noch Christen heissen wollen? Nein, wer seine Hausgenossen nicht versorgt; wer, wenn sie erkranken, Herz und Hand von ihnen abzieht; wer es über sich erhalten kann, in einer Lage, wo sie ohne seine treue Sorgfalt verloren gehn müssen, sie gleichgültig ihrem Schicksale preis zu geben; der hat den Glauben verläugnet und ist ärger als ein Heide Auch von weitem darf er sich mit dem rechtschaffenen Manne im Evangelio nicht messen, dem die Genesung seines leidenden Dienstboten so sehr wichtig war. Keiner nähern göttlichen Offenbarung gewürdigt, that dieser des Gesetzes Werke von Natur und folgte dem Rufe seines Herzens Jener sündigt an beiden. Denn wie zu einer treuen Sorgfalt für unsre Kranken die Religion uns verpflichtet.

So fordert uns laut zu ihr auf die Stimme der Natur und des Gewissens. In dem Zustande, worein Krankheit unsre Lieben versetzt, hat ihr Leben einen grossen Theil seines Werthes für sie verloren. An nützliche Thätigkeit gewöhnt, peinigt der Schmerz sie doppelt,, der ihnen die Abwartung ihrer Geschäfte unmöglich macht. Und wie arm an Freuden, wie reich an Entbehrungen ist jeder neue Tag, wenn sie ihn endlich herbeigeseufzt haben! Auf wie viele Annehmlichkeiten müssen sie Verzicht thun! Welche Leiden umringen ihr ödes Daseyn! Bis zu welcher Höhe steigt manchmal die Angst ihrer Seele! Wie furchtbar werden oft die Kampfe, denen zuletzt Genesung folgen soll, oder - der Tod. O gewiß, wenn menschliches Gefühl in unsrer Brust wohnt, diesem Jammer abzuhelfen, oder ihn doch durch theilnehmende Liebe zu erleichtern, erkennen wir für unsre heiligste Pflicht.

Dazu machten sich unsre Kranken in gesunden Tagen vielleicht so verdient um unser Wohlergehen; was ist billiger, als daß wir ihnen jetzt ihre Treue vergelten! Sie teilten mit uns ihre frohen Stunden; was ist natürlicher, als daß wir ihnen nun auch in der Trübsal unsre Hand reichen! Sie haben uns so gern um sich, fühlen unter Miethlingen sich so verlassen, und dulden muthiger, wenn im Kampfe ihr Auge dem unsrigen begegnet; sie legen auf jede Probe von Sorgfalt, Achtsamkeit, Treue, die wir ihnen jetzt geben, ein so grosses Gewicht und rechnen uns eine jede so hoch an; sie finden in dem Gedanken, uns Werth zu seyn, eine Erquickung, die alle Arzneien und Labsale an heilender Kraft übertrifft; ein freundlicher Blick, ein zärtliches Wort von uns erfreuet ihr Herz schon; wie unbillig, wie unnatürlich, wenn wir durch gedungene Wärter unsre Stelle an ihrem Bette zu ersetzen glauben, wenn wir ihnen unsre Hülfe entziehen, wenn wir durch kaltfinnige Entfernung von ihnen ihren ersten, ihren einzigen Trost, die süße Ueberzeugung geliebt zu werden, vernichten könnten! Ein Thier sucht man, wenn es erkrankt ist, wiederherzustellen; leblose Gegenstände bemüht man sich so lange als möglich zu erhalten; das Leben der Unsrigen ist ein Menschenleben, meine Brüder; und es zu retten wäre keiner Sorge Werth? Ja, es können die letzten Liebesdienste auf dieser Erde seyn, die sie nöthig haben, und ehe wir es ahnen, ist der Hülle, die jetzt unsre Wege noch erfordert, der Geist entflohen; auch Kiese letzten Dienste mögten wir ihnen versagen?! Menschen, Christen! empört sich Euer Innerstes nicht, sträubt sich nicht alles, was von wahren Gefühlen in Eurem Busen sich regt, gegen diesen Gedanken? - Und wie dann, wenn sie nun stürben, und das Gewissen, das strafende Gewissen folgte mit der herzzerreissenden Anklage, daß ihr sie zu retten säumtet, daß Ihr sie retten nicht wolltet!! wie eine nächtliche Schreckensgestalt Euch auf der Ferse nach? Oder wie?, wenn auch Ihr einst auf dem Krankenbette da laget, und der Liebe bedürftet, wie sie jetzt, aber die Eurigen verliessen Euch, Euer einsames Schmachten nach Hülfe vernähme Keiner, und jeder laute Jammerton des Schmerzens verhallete ungehört und unbedauert?

O was wir wollen, das uns geschehe, meine Theuersten, das lasst auch uns Jedem zuerst thun Lasst uns die Pflichten heilig halten, die wir unsern kranken Angehörigen schuldig sind. Lasst uns der treuen Sorge, die sie von uns erwarten können, nicht vergessen. Lasst uns ihnen Hülfe schaffen und jede mögliche Erleichterung. Groß wird, wenn sie genesen, dann unsre Zärtlichkeit zu einander und unser Gewinn seyn. Sind es aber die letzten Beweise unsers Wohlmeynens, die sie hier erhalten; nun, wie Gott will! Es ist bitter, Menschen, die man liebte, zu verlieren.

Es muß über alles entsetzlich seyn, wenn der Leichnam eines Entschlafenen, den man im Leben treulos vernachlässigte, noch von der Bahre herab uns den Vorwurf macht: ich bin krank gewesen, und Ihr habt mich nicht! besucht. Aber Frieden, sanften Frieden giebts bis zum Wiedersehen, wenn man seinen Todten mit dem Bewußtseyn: für ihre Erhaltung alles gethan zu haben, zur Grube folgen kann!

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