Calvin, Jean - Der Brief an Titus - Kapitel 1.

Calvin, Jean - Der Brief an Titus - Kapitel 1.

V. 1. Die lange und ausführliche Empfehlung seines Apostelamtes zeigt, dass Paulus hier mehr für die Gemeinden als für Titus redet. Denn sein Apostelamt wurde von Titus nicht bestritten. Paulus pflegt die Ruhmestitel seiner Berufung zu betonen, um sich seine Autorität zu sichern, und tut dies mehr oder weniger ausführlich je nach der Stellung seiner Leser. Da er es nun hier für nötig hält, Leute zur Ordnung zu nötigen, die sie zu durchbrechen suchten, so hebt er sein Apostelamt mit großen Worten hervor. Sein Brief hat also nicht die Bestimmung, dass ihn nur Titus für sich allein in seinem Zimmer lesen, sondern ihn öffentlich vor die Gemeinden bringen soll. Zunächst also nennt er sich einen Knecht Gottes und bezeichnet dann die besondere Art seines Amtes, indem er hinzufügt, dass er ein Apostel Christi sei. Es gibt nämlich verschiedene Grade unter den Knechten Gottes. So geht er von der Gattung zur Art über. Dabei erinnern wir uns, was ich an anderer Stelle gesagt habe, dass der Name „Knecht“ hier nicht bloß in Rücksicht auf jenes allgemeine Abhängigkeitsverhältnis gewählt ist, kraft dessen alle Christen „Knechte Gottes“ heißen: vielmehr ist das Wort hier für einen Diener gebraucht, dem ein bestimmtes Amt übertragen ward. In diesem Sinne wurden einst die Propheten mit dem Titel „Knecht“ bezeichnet, ebenso Christus selbst als der oberste Prophet (Jes. 42, 1): „Siehe, das ist mein Knecht, den ich erwählet habe.“ So nennt sich David im Blick auf die königliche Würde einen Knecht Gottes. Paulus rühmt sich vielleicht auch des Amtes eines Knechtes Gottes gegenüber den Judenchristen, die den von ihm verkündigten Glauben abschwächten, indem sie das Gesetz an dessen Stelle setzten. So also will er ein Apostel Christi heißen, dass er sich gleichwohl rühmt, dem ewigen Gotte zu dienen. Er verbindet diese beiden Ruhmesbezeichnungen nicht nur untereinander, sondern zeigt auch, wie sie in seiner eigenen Person vereinigt sind.

Nach dem Glauben der Auserwählten Gottes. Alle die gegen sein Apostelamt Zweifel hegen, sucht Paulus mit dem durchschlagendsten Grunde zu überzeugen, indem er sich selbst mit dem Heilsglauben der Auserwählten Gottes in Beziehung setzt. Er will sagen: zwischen meinem Apostelamt und dem Glauben der Auserwählten Gottes besteht eine gegenseitige Übereinstimmung, sodass ersteres niemand verwerfen darf, er sei denn ein verworfener Mensch und vom rechten Glauben abgeirrt. Mit den Auserwählten meint er nicht bloß die damals Lebenden, sondern alle die vom Anfang der Welt her waren. Damit betont er, dass er keine Lehre bringt, die nicht mit dem Glauben Abrahams und aller Väter zusammenstimmte. Wer daher heute als Pauli Nachfolger gelten will, der muss sich als einen Diener eben derselben Lehre erweisen.

Und zwar der Erkenntnis. So wird der Zusammenhang der Worte herzustellen sein: der Apostel beschreibt den Glauben, den er meint, genauer als Erkenntnis der Wahrheit. Freilich gibt er damit keine vollständige Begriffsbestimmung des Glaubens, sondern wählt den Ausdruck lediglich für seinen vorliegenden Zweck. Um nämlich sein Apostelamt gegen allen Verdacht der Fälschung und des Irrtums zu verwahren, bezeugt er, dass es nichts in sich begreife als die gewisse und erfahrene Wahrheit, die die Menschen zur reinen Gottesverehrung führt. Doch es lohnt sich eine genauere Betrachtung der Worte, von denen jedes einzelne sein Gewicht hat. Wenn zunächst der Glaube eine „Erkenntnis“ genannt wird, so wird er damit nicht nur von der bloßen Meinung unterschieden, sondern auch von jener ungeheuerlichen Erdichtung der Römischen, die den Begriff eines unentwickelten oder „eingewickelten“ Glaubens aufgebracht haben, dem das Licht eigner Erkenntnis fehlt. Dagegen zeigt Paulus, indem er die Erkenntnis der Wahrheit gleichsam als eine Eigentümlichkeit des Glaubens bezeichnet, klar und deutlich, dass es ganz und gar keinen Glauben gibt ohne Erkenntnis. Und mit dem Worte Wahrheit wird noch besser die Gewissheit ausgedrückt, welche dem Glauben wesentlich ist. Denn der Glaube ist nur zufrieden, wenn er die Wahrheit selbst besitzt. Weiter ist hier nicht von einer beliebigen Wahrheit die Rede, sondern von der himmlischen Lehre, die der Eitelkeit des menschlichen Verstandes gegenübergestellt wird. Denn wie durch diese Wahrheit sich uns Gott tatsächlich geoffenbart hat, so ist sie auch allein solcher Ehre wert, wie auch die Schrift an verschiedenen Stellen sie ihr zueignet. Joh. 16, 13: „Der Geist wird euch in alle Wahrheit leiten.“ 17, 17: „Dein Wort ist Wahrheit.“ Gal. 3, 1: „Wer hat euch bezaubert, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht?“ Kol. 1, 5: „Von welcher ihr zuvor gehört habt durch das Wort der Wahrheit im Evangelium.“ 1. Tim. 2, 4: „Gott will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ 3, 15: „Die Gemeine Gottes ist ein Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit.“ Kurz, diese Wahrheit ist die rechte und wirkliche Kenntnis von Gott, die uns von allem Irrtum und aller Lüge befreit. Umso höher müssen wir sie achten. Gibt es doch auch kein größeres Unglück, als dass ein Mensch das ganze Leben wie ein Tier herumirrt. Ist nun weiter einschränkend von der Wahrheit zur Gottseligkeit die Rede, so wird uns damit Frucht und Ziel der apostolischen Lehre vor Augen gestellt: dieselbe zielt auf nichts anderes, als dass dem Herrn die rechte Verehrung zuteilwerde, und wahre Frömmigkeit unter den Menschen gedeihe. So will Paulus sagen, dass man an seiner Lehre nicht die geringste Spur von unheiligen und vorwitzigen Fragen entdecken wird, wie man ja in der Tat z. B. an seinem Auftreten vor Felix und dann vor Agrippa sieht (Apg. 24, 10 ff.; 26, 1 ff.). Denn da mit Recht den Frommen alle überflüssigen Fragen, die zur Erbauung nicht dienen, verdächtig und sehr verhasst sein sollten, so ist dies die wahrhafte Empfehlung der Lehre, dass sie uns zur Verehrung und Furcht Gottes anleitet. Und damit werden wir auch erinnert, dass wer in der Frömmigkeit am meisten fortgeschritten ist, der beste Jünger Christi ist, wie auch schließlich nur der für einen wahren Gottesgelehrten zu halten ist, der die Gewissen in der Furcht Gottes erbauet.

V. 2. Von der Gottseligkeit heißt es nun weiter, dass sie sich auf die Hoffnung des ewigen Lebens gründet. Denn so müssen ohne Zweifel die Worte verbunden werden. Erst wenn wir unsere Gedanken auf das ewige Leben richten, betreten wir den Boden wahrer Gottseligkeit und eines ernsten Frömmigkeitsstrebens, - wie Paulus auch, nachdem er den Glauben und die Liebe der Kolosser gelobt hat, als deren Ursache und Grund die Hoffnung bezeichnet, die ihnen im Himmel beigelegt ist (Kol. 1, 5). Denn die Sadduzäer und alle, die unsere Hoffnung auf diese Welt beschränken, bringen mit all ihrem Sinnen und Denken nur das zuwege, dass sie die Menschen zur Verachtung Gottes verleiten, indem sie dieselben sozusagen zu Tieren machen. Deshalb muss eines guten Lehrers Trachten beständig dahin gehen, dass er die Menschen von der Welt abziehe und zum Aufblick auf das himmlische Leben führe. Gottes Ehre muss uns wichtiger sein als unser zeitliches Wohlergehen. Soviel sage ich: nur wer glaubt, dass er nach diesem Leben zu Gott kommt, sucht ihn in Wahrheit; und nur wer eine Hoffnung ewigen Lebens kennt, wird seine Seele auf eine lebendige Frömmigkeit stimmen.

Welches Gott verheißen hat vor langen Zeiten. Gott hat vor langen Zeiten das ewige Leben den Menschen verheißen, doch nicht für die damals Lebenden allein, sondern auch für die gegenwärtige Zeit. Denn Gott hat nicht Abraham allein gedacht bei seiner Verheißung (1. Mose 22, 3): „Durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden“, - vielmehr ebenso an alle, die nach ihm leben würden. Übrigens könnte die Wendung „vor langen Zeiten“ auch übersetzt werden, wie sie 2. Tim. 1, 9 lautet: „vor der Zeit der Welt“, d. h. in der Ewigkeit. Da aber vor ewigen Zeiten Gott zwar seinen Heilsratschluss gefasst, nicht aber seine Verheißungen schon gegeben haben kann, so dürfen wir an unserer Stelle nicht bis vor die Schöpfung der Welt zurückdenken. Paulus meint einfach, dass Gott schon vor Weltaltern, d. h. vor langer Zeit, tatsächlich bald nach der Schöpfung, seine Verheißungen gab. In demselben Sinne wird Röm. 1, 2 vom Evangelium gesagt, dass es durch die Propheten in der heiligen Schrift „zuvor verheißen“ ward. Also längst vor der gegenwärtigen Offenbarung der Gnade liegt deren Verheißung, welche schon die Väter empfingen.

Der nicht lüget. Dieser Zusatz ist nicht sowohl zum Ruhme Gottes als zur Befestigung unseres Glaubens hinzugefügt. Und fürwahr, so oft von unserem Heil die Rede ist, sollen wir uns daran erinnern, dass es auf das Wort dessen gegründet ist, der nicht trügen noch lügen kann. Die unveränderliche Wahrhaftigkeit Gottes ist der alleinige feste Grund unseres Glaubens.

V. 3. Hat aber offenbaret usw. Zwar war dies schon eine Art Offenbarung, dass Gott einst durch seine Propheten sprach. Aber weil erst Christus durch seine Erscheinung uns wirklich mitteilte, was jene nur dunkel vorhergesagt hatten, so wurden erst danach die Heiden in die Gemeinschaft des Bundes aufgenommen, und sagt Paulus in diesem Sinne, nunmehr sei „offenbart“ worden, was doch bereits vordem zu einem gewissen Teile bezeugt gewesen war. Und zwar geschah dies zu seiner Zeit, oder nach dem Ausdruck von Gal. 4, 4 „da die Zeit erfüllet war.“ Paulus bringt nämlich damit in mahnende Erinnerung, dass das die geeignetste Zeit zum Handeln gewesen ist, da es dem Herrn gefiel zu handeln, und will damit gegen die Torheit der Menschen ankämpfen, die immer sich unterstehen zu fragen: warum nicht schneller, war nicht lieber heute als morgen? Er lehrt also: die Zeitumstände liegen so in Gottes Hand und Entscheidung, dass wir glauben sollen, dass er alles in rechter Ordnung und zu rechter Zeit tut. So werden alle vorwitzigen Fragen abgeschnitten.

Gott hat sein Wort – gemeint ist vielleicht, wie 1. Joh. 1, 1, Christus selbst – durch die Predigt, d. h. durch das Evangelium geoffenbart. Ist doch eben dies der Hauptinhalt des Evangeliums, dass Christus uns geschenkt ward und in ihm das Leben. Weil nun nicht jedermann ohne Unterschied zu einem so wichtigen Amte geeignet ist, noch einer sich dasselbe anmaßen darf, so betont Paulus seine ordnungsmäßig erfolgte Berufung: die mir vertrauet ist nach dem Befehl Gottes. Daraus ist zu lernen, was wir schon oft an anderen Stellen erinnert haben, dass niemand diese Würde für sich in Anspruch nehmen darf, der sich nicht als göttlich berufen erweist. Wohl brüsten sich auch des Satans Diener, dass sie von Gott berufen seien; doch ist ihren Worten kein Glauben beizumessen. Paulus aber betont seine Berufung, so oft er dieselbe erwähnt, als eine bekannte und wohlbezeugte Sache. Außerdem erkennen wir aus dieser Stelle, wozu die Apostel erwählt sind, nämlich zur Verkündigung des Evangeliums, wie Paulus 1. Kor. 9, 16 ausruft: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige: denn ich muss es tun.“ Jene Leute also, die sich stumm verhalten in Muße und allerlei Ergötzung, rühmen sich allzu schamlos, als Nachfolger der Apostel dazustehen.

Unsers Heilands. Dieser Titel eignet sowohl dem Vater wie dem Sohne, wie ja beide unsere Erlöser sind, aber in verschiedener Weise. Denn der Vater ist deshalb unser Heiland, weil er uns durch seines Sohnes Tod losgekauft hat, um uns zu Erben des ewigen Lebens zu machen, der Sohn aber, weil er sein Blut zum Unterpfand und Kaufpreis unseres Heils gegeben. So hat uns der Sohn das Heil vom Vater herzu gebracht, der Vater es durch den Sohn mitgeteilt.

V. 4. Meinem Sohne, nach unser beider Glauben. Aus diesen Worten ist ersichtlich, in welchem Sinne von einem Diener des Wortes gesagt wird, dass er diejenigen, welche er in den Gehorsam Christi bringt, geistlich zeuge, nämlich so, dass er zugleich selbst gezeugt wird. Als Vater des Titus stellt sich Paulus hin, in Bezug auf den Glauben. Aber alsbald fügt er hinzu, dass dieser Glaube ihnen beiden gemeinsam sei, sodass sie beide gleicherweise denselben Vater im Himmel haben. Deshalb büßt Gott von seinem Rechte nichts ein, wenn er den ihm eignen Vaternamen auch den geistlichen Vätern unter den Menschen zugesteht, durch deren Dienst er von neuem zeugt, welche er will. Denn diese können ja aus sich nichts tun, sondern allein aus Wirkung des Geistes. Was sonst zur Erklärung dieser Worte erforderlich ist, ist aus den vorangegangenen Briefen herbeizuziehen, besonders aus 1. Tim. 1, 2.

V. 5. Derhalben usw. Dieser Eingang zeigt deutlich, dass die folgende Mahnung nicht eigentlich nur des Titus wegen geschrieben ward, sondern ihm anderen gegenüber zu einer Empfehlung dienen soll, die ihm mancherlei Hindernisse aus dem Weg räumen wird. Paulus bezeugt nämlich, dass er ihm seine amtlichen Pflichten übertragen habe und es sich darum gebühre, dass er als des Apostels Stellvertreter von allen anerkannt und ehrerbietig aufgenommen werde. Den Aposteln nun war kein bestimmter Aufenthaltsort angewiesen, dagegen das Amt übertragen, das Evangelium durch den ganzen Erdkreis auszubreiten; und weil sie so von einer Stadt oder Gegend in die andere zogen, pflegten sie geeignete Männer zu ihrer Stellvertretung zu wählen, welche die angefangene Arbeit zu Ende führen sollten. So rühmt sich Paulus z. B., dass er das Fundament zu der korinthischen Gemeinde gelegt habe, während andere Bauleute auf demselben den Bau nur weiter fördern mochten (1. Kor. 3, 10). In gleicher Weise übertrug Paulus dem Titus die Aufgabe, die kretischen Gemeinden, die wegen der Kürze seines Aufenthaltes auf der Insel noch nicht in der richtigen Weise geordnet waren, weiter auszugestalten und ihnen eine bestimmte Verfassung sowie die erforderliche Zuchtordnung zu geben. Wie lange sich Paulus auf Kreta aufgehalten hat, wissen wir nicht, sicher aber wandte er während dieser Zeit rechtschaffene Mühe auf zur Aufrichtung des Reiches Christi. Zugleich verfügte er über das denkbar größte Maß von Erfahrung, das bei einem Menschen gefunden werden kann. Und wiewohl er auch unermüdlich war im Arbeiten, so gesteht er doch, dass er ein noch unausgebildetes Werk zurückgelassen habe. Wir erkennen die Schwierigkeit dieser Sache und lernen für unsere heutige Arbeit, dass es nicht möglich ist, in einem Zeitraum von ein oder zwei Jahren die verfallenen Gemeinden in einen mäßigen Stand zurückzubringen. So müssen selbst Männer, die in jahrelanger, angestrengter Arbeit schon manchen Fortschritt erzielt haben, noch auf viele Besserungen bedacht sein. – Weiter lohnt es sich, auf die Bescheidenheit des Paulus hinzuweisen, der mit Freudigkeit von einem andern vollenden lässt, was er selbst begonnen. Wenngleich Titus weit unter ihm stand, so steht er doch nicht an, durch diesen an sein Werk die letzte Hand legen zu lassen. Solche Gesinnung müssen fromme Lehrer haben, dass nicht ein jeder ehrgeizig alles an sich zu ziehen sucht, sondern einer den andern in edlem Wetteifer unterstützt, und wenn einer mit größerem Erfolg gearbeitet hat, die anderen ihm lieber Glück wünschen als ihn beneiden.

Besetzen die Städte hin und her mit Ältesten. Beim Aufbau des geistlichen Hauses Gottes bedeutet die Einsetzung von Hirten, welche die Gemeinde leiten können, ein wichtiges Anliegen, das sich unmittelbar an die Aufgabe der Predigt schließt. Daran erinnert Paulus also hier vor allen Dingen. Nachdrücklich ist dies zu bemerken, dass die Gemeinden nicht wohlbehalten dastehen können ohne den Dienst der Pastoren; wo sich also eine Anzahl von Christen zu einer Gemeinde zusammenschließt, muss man vor allem einen Leiter und Hirten aufstellen. Übrigens meint unser Satz nicht, dass Titus in jeder Stadt durchaus nur einen Hirten und nicht mehr einsetzen solle, sondern dass keiner Stadt überhaupt ein Hirte fehlen darf. Als „Älteste“ werden diese Hirten bekanntlich nicht wegen ihres Amtes bezeichnet, wie ja zuweilen für diese Stellung junge Männer erwählt wurden, z. B. Timotheus. Vielmehr war es in allen Sprachen stets gebräuchlich, dass um der ihnen gebührenden Ehre willen alle Vorsteher so genannt wurden. Obwohl aber, wie wir aus dem ersten Brief an Timotheus ersehen (1. Tim. 5, 17), damals eine zwiefache Art von Ältesten bestand, so zeigt doch alsbald der Zusammenhang, dass hier mit den Ältesten nur die Lehrer gemeint sind, die Männer, die zum Lehren bestellt wurden; denn eben dieselben nennt Paulus gleich darauf Bischöfe. Aber es scheint, als wenn er dem Titus allzu viel überlässt, wenn er ihn anweist, für alle Gemeinden Leiter aufzustellen. Dies wäre ja fast eine königliche Vollmacht, weil auf diese Weise den Gemeinden das Recht der Wahl, und den Presbyterkollegien das Vorschlagsrecht aus der Hand genommen würde, was doch mit einer Verachtung der unantastbaren kirchlichen Ordnung gleichbedeutend wäre. Darauf ist zu entgegnen, dass diese Angelegenheit nicht der alleinigen Entscheidung des Titus überlassen wurde, und er nicht ganz nach seinem Willen die Vorsteher einsetzen sollte; sondern nur dies trägt Paulus ihm auf, dass er die Wahlen gewissermaßen leiten sollte, wie dies ja auch erforderlich ist. Der Ausdruck, den wir mit „besetzen“ widergeben, was geläufig, wenn in Rom von dem Beamten, der die Volksversammlungen für die Wahl von Konsuln leitete, gesagt werden konnte, dass er eben diese Wahlen habe vornehmen lassen. Einen ähnlichen Ausdruck gebraucht Lukas (Apg. 14, 23; vgl. übrigens auch 6, 3), wenn er von Paulus und Barnabas berichtet, dass sie den Gemeinden Älteste gaben: nicht dass sie allein gleichwie Herrscher die Vorsteher der Gemeinden einsetzten, ohne sie genauer zu kennen oder erprobt zu haben; vielmehr bestellten sie dazu geeignete Männer, die vom Volke erwählt oder ausgesucht waren. Zwar ersehen wir hieraus, dass damals unter den Dienern der Kirche nicht eine solche Gleichheit bestand, dass nicht irgendeiner an Ansehen und Einsicht hervorragte; gleichwohl ist dies nicht zu vergleichen mit der tyrannischen und ruchlosen Sitte der Amtsverleihungen, wie sie im Papsttum herrscht. Von dieser unterschied sich der Apostel Methode weit.

V. 6. Wo einer ist untadelig. Damit niemand dem Titus zürne, als sei er in der Zurückweisung gewisser Leute zu eigenwillig oder zu streng, nimmt Paulus die ganze Missgunst auf sich. Er betont, dass er eindringlich ihm aufgetragen habe, dass er niemanden zu dem Amt eines Vorstehers der Gemeinde zulassen sollte, der nicht die von ihm nachfolgend aufgeführten Eigenschaften aufweist. Die vorliegende Stelle ist wohl zu beachten, weil uns der Apostel hier wie auf einer Tafel das Bild eines rechtschaffenen Bischofs entwirft. Da ich jedoch das hier Vorgetragene in dem ersten Brief an Timotheus fast alles ausgeführt haben (1. Tim. 3, 2 ff.), werden hier kurze Fingerzeige genügen. Untadelig soll der Bischof nicht in dem Sinne sein, dass man gar keinen Fehler an ihm entdecken könnte (einen solchen Mann gibt es nicht), sondern nur in dem Sinne, dass ihm kein schlechter Ruf vorangeht, der von vornherein seinem Ansehen schaden müsste: er muss eine unangetastete Achtung genießen. Wie es gemeint ist, dass der Vorsteher Eines Weibes Mann sein soll, und warum diese für einen Christen selbstverständliche Forderung hier gerade nur an ihn gerichtet wird, ist zu 1. Tim. 3, 2 hinreichend dargelegt worden. Leute, die nach dem Tode der ersten Gattin eine zweite nahmen, werden von des Apostels Vorschrift natürlich nicht betroffen; denn es heißt nicht: „wo einer gewesen ist“, sondern „wo einer ist Eines Weibes Mann.“

Der gläubige Kinder habe. Da Einsicht und Festigkeit für den Vorsteher der Gemeinde erforderlich ist, so gehört es sich, dass solches Wesen sich auch in seiner Familie zeigt. Nicht nur der Bischof selbst muss frei sein von öffentlichem Tadel, sondern sein ganzes Haus muss als ein Spiegel ehrenhafter und keuscher Zucht dastehen. So schreibt Paulus auch an Timotheus (1. Tim. 3, 5): „So aber jemand seinem eignen Hause nicht weiß vorzustehen, wie wird er die Gemeinde Gottes versorgen?“ Und er schreibt in demselben Briefe mit gleicher Ausführlichkeit den Frauen vor, wie sie beschaffen sein sollen. Zunächst aber verlangt er an unserer Stelle von den Kindern, dass sie gläubig seien, und hierdurch sich zeige, dass sie in der gesunden Lehre der Frömmigkeit und in der Furcht des Herrn erzogen werden. Weiter dürfen sie nicht Schwelger sein, und muss auch hieraus ihre Erziehung zu Mäßigkeit und Rechtschaffenheit sich erkennen lassen. Schließlich dürfen sie nicht ungehorsam sein, weil der schwerlich das Volk mit dem Zügel der Zucht in Ordnung halten kann, der von seinen Kindern nicht Ehrfurcht und Gehorsam zu erlangen vermag.

V. 7. Ein Bischof soll untadelig sein. Noch einmal wiederholt Paulus, dass, wer nach dem Bischofsamte trachtet, in unbescholtenem Rufe stehen muss; und er bekräftigt diese Forderung damit, dass, weil die Gemeinde das Haus Gottes ist, ein Mann, den man zu ihrer Leitung bestellt, gleichsam zum Haushalter Gottes eingesetzt wird. Und wie bei den Menschen der getadelt würde, der sich zu seinem Haushalter einen in üblem und schimpflichem Rufe stehenden Mann nähme, so wäre es weit unwürdiger und unerträglicher, wenn man der Familie Gottes solche Männer vorsetzen wollte. Zu diesem Ehrennamen eines „Haushalters“ Gottes vergl. auch 1. Tim 3, 15: „dass du wissest, wie du wandeln sollst in dem Hause Gottes, welches ist die Gemeinde des lebendigen Gottes, ein Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit.“ Unsere Stelle zeigt übrigens klar und deutlich, dass damals zwischen Ältesten und Bischöfen kein Unterschied war und beide Bezeichnungen für ein und dasselbe Amt gebraucht wurden; dieselben Gemeindevorsteher, die kurz zuvor (V. 5) als „Älteste“ bezeichnet wurden, heißen hier „Bischöfe“. Wie grundverschieden davon ist der spätere Sprachgebrauch! Wenn auch anzunehmen ist, dass gleich in den ersten Zeiten der Kirche es üblich wurde, dass die einzelnen Kollegien der Bischöfe einen bestimmten Leiter hatten, so ist es doch unrecht und unstatthaft, wenn die Bezeichnung, die Gott allen Amtsgenossen insgemein gegeben hatte, den übrigen genommen und auf einen allein übertragen wird.

Nicht eigensinnig. Diesen Fehler verurteilt Paulus an einem Bischofe mit vollem Rechte; ist es doch dessen Aufgabe, nicht nur denen, die sich ihm bereitwillig anschließen, freundlich zu begegnen, sondern auch die, welche ihm widerstreben, anzulocken, um alle gleichermaßen zu Christo zu führen. Der Eigensinn dagegen ist, wie der Philosoph Plato sagt; „der Genosse der Einsamkeit.“ Kann doch Gesellschaft und Freundschaft nicht gepflegt werden, wo jemand dermaßen auf seinem Willen besteht, dass er sich hartnäckig weigert, anderen nachzugeben oder sich ihnen anzubequemen. Und so wird sicherlich allemal der Eigensinnige, sobald sich dazu die Gelegenheit bietet, sich alsbald von den anderen getrennt sehen. Wir sehen daraus, welchen Schaden der Eigensinn anrichtet, wenn er so die Gemeinde durch Zwietracht auseinanderreißt. Diesem Fehler steht nun gegenüber zunächst ein gelehriger Sinn, und außerdem, dass man gegen jedermann freundlich und bescheiden ist. Denn kein Bischof wird je wohl lehren, der nicht bereit ist auch zu lernen; wie der Kirchenvater Cyprian sagt: „Wer mit Geschick lehren will, muss immerfort geduldig lernen.“ Die Bischöfe bedürfen oft des Rates und der Weisung. Wenn sie sich gegen diese verschließen und heilsame Ratschläge zurückweisen, werden sie oft zum großen Schaden der Gemeinde in seinen Abgrund geraten. Vor alledem bleiben sie nur bewahrt, wenn sie sich nicht allein weise dünken.

V. 8. Gastfrei und guttätig – dies beides scheint Paulus der Habsucht entgegenzustellen. Gerecht nennt er den, dessen Wandel vor den Augen der Menschen unbescholten ist, heilig, der dies vor Gott ist.

V. 9. Halte ob dem Wort, das gewiss ist und gemäß der Lehre. Das ist die wichtigste Eigenschaft eines Bischofs, der doch vor allem zum Lehren erwählt wird, - wie ja die Gemeinde nicht anders geleitet werden kann als durch das Wort -, dass er nämlich sich hält an die reine und aus dem Munde Gottes hervorgegangene Lehre. In dieser soll er nicht nur wohl unterrichtet sein, sondern soll sich auch standhaft in ihrer Verteidigung beweisen. Denn es gibt unbeständige Prediger, die sich leicht in mancherlei Art der Lehre hinüberziehen lassen; andere wieder lassen sich durch Furcht oder sonstige Gründe bewegen, die Verteidigung der Wahrheit aufzugeben. Daher weist Paulus den Titus an, solche Bischöfe zu wählen, die die Wahrheit Gottes mit beiden Armen umfassen, fest an derselben halten und sie sich niemals entreißen, noch sich von ihr trennen lassen. Und sicherlich gibt es nichts Gefährlicheres als jene Unbeständigkeit, wenn ein Vorsteher der Gemeinde nicht festen Fußes in der Lehre verharrt, deren unbesieglicher Verteidiger er sein sollte. Der Hirte soll also nicht bloß wohl unterrichtet, sondern auch eifrig sein. Doch was will es besagen, dass sein Wort gemäß der Lehre sein soll? Es soll der Belehrung und Erbauung der Gemeinde zu dienen wissen. Von solcher „Lehre“ ist da keine Rede, wo man von der Frucht der Frömmigkeit absieht: da handelt es sich nur um unnütze Spekulationen, welche nach dem Urteil des Apostels bei allem Scharfsinn nur als hohl und eitel gelten könnten. In demselben Sinne hören wir Röm. 12, 7: „Lehret jemand, so warte er der Lehre“, d. h. der wahren, für die Hörer förderlichen Belehrung. Alles in allem also bedarf ein Lehrer dreier Stücke für seine Tätigkeit: er muss selbst mit gesunder Lehre sich gerüstet haben, muss deren Bekenntnis mit festem Mute bis zum Äußersten festhalten und muss sein Wort auf die wahre Erbauung der Gemeinde stimmen: kein Ehrgeiz darf ihn verleiten, sich mit spitzfindigen Neugierfragen zu befassen.

Auf dass er mächtig sei, zu ermahnen durch die heilsame Lehre, und zu widerlegen die Widersprecher. Zu beiden muss der Hirte der Gemeinde imstande sein, gleichwie die Stimme eines Hirten auf dem Felde eine zwiefache sein muss, nämlich dass er einmal die Schaft zusammenhält und sodann die Wölfe und Diebe von ihnen fernhält und vertreibt. Dem Hirten der Gemeinde wird diese doppelte Fähigkeit aus dem Umgang mit der Schrift erwachsen; denn wer in ihr wohlgeübt ist, wird imstande sein, sowohl die empfänglichen Gemüter zu leiten als die Feinde der Wahrheit zu widerlegen. Dies muss ja zum höchsten Ruhme des göttlichen Wortes gesagt werden, dass es diese beiden Bedürfnisse zugleich befriedigt. Der geoffenbarten Wahrheit wohnt die Kraft inne, alle Lügen leichtlich zu überstrahlen.

V. 10. Denn es sind usw. Nachdem Paulus in den vorhergehenden Versen eine allgemeine und überall zu beachtende Regel aufgestellt hat, führt er dem Titus, um ihn zur Beachtung derselben noch mehr anzuspornen, die besonderen Verhältnisse vor Augen, die ihn vor anderen in seinem Handeln bestimmen müssten. Er erinnert ihn nämlich daran, dass er es mit vielen halsstarrigen und unbändigen Leuten zu tun habe, mit vielen Unbeständigen, die sich von jedem Wind der Lehre bestimmen lassen, mit vielen Betrügern; und dass man deshalb für die Gemeinden solche Leiter wählen müsse, die wohl zu lehren und tapfer zu widerstehen wüssten. Sind doch viel freche, d. h. widerspenstige und aufsässige Elemente vorhanden. Als unnütze Schwätzer werden dieselben bezeichnet, nicht weil sie etwa falsche Lehren aufgebracht hätten, sondern weil sie aus ehrsüchtiger Prahlerei sich mit eitlen Spitzfindigkeiten abgeben, mit allerlei kalten und läppischen Spekulationen, die zur Frömmigkeit und Furcht Gottes nichts austragen. Solchem leeren Geschwätz steht die nützliche und vollkommene Lehre gegenüber. Es sind wohl eben dieselben Leute, die Paulus weiter als Verführer bezeichnet, sofern sie mit ihren Possen die Sinne der Menschen betören und gleichsam bezaubern, damit sie nicht weiter die heilsame Lehre in sich aufnehmen. Der Apostel hebt noch besonders hervor, dass diese Verführer vornehmlich frühere Juden wären, und tut dies, damit sie von allen Gemeindegliedern als solle erkannt, und so ihr schädlicher Einfluss gebrochen würde.

V. 11. Welchen man muss das Maul stopfen. Ein guter Vorsteher der Gemeinde muss also auf der Wacht stehen, darf nicht ruhig zusehen, dass sich schlechte und schädliche Lehren einschleichen, und den ruchlosen Leuten nicht Zeit lassen, solche zu verbreiten. Das Maul stopfen, heißt einfach: ihr eitles Gerede aus dem Worte Gottes widerlegen, bis sie mit ihrem Widerstreben aufhören. Denn wer durch das Wort Gottes überwunden ist, kann nichts von Bedeutung mehr vorbringen, wenn er auch dann noch dagegen sprechen wollte.

Die da ganze Häuser verkehren. Wenn Gefahr ist, dass eines Menschen Glaube verkehrt wird, und so das Heil einer durch Christi Blut erkauften Seele auf dem Spiele steht, ist es des Seelsorgers Pflicht, unverzüglich sich zum Widerstand zu rüsten; wie viel weniger darf er dann es zulassen, dass ganze Häuser verkehrt werden! Wodurch die Verführer solche Verkehrung zustande bringen, sagt das Folgende: sie lehren das nicht taugt. Diese Worte zeigen uns, wie gefährlich es ist, auch nur wenig von der heilsamen Lehre abzuweichen. Denn Paulus sagt nicht, dass es dort auf Kreta offenbar ruchlose Lehren gewesen sind, mit denen die Schwätzer den Glauben vieler verkehrten: wie haben vielmehr auch an jegliche Irrung zu denken, die sich einstellt, wenn nicht die wahre Erbauung der Gemeinde das oberste Ziel bleibt. In der Tat führt uns die Schwachheit unseres Fleisches nur zu leicht vom rechten Wege ab: so geschieht es, dass der Satan rasch und leicht durch seine Diener niederreißt, was fromme Lehrer mit großer und andauernder Arbeit aufgerichtet haben. Als Ursache dieses Übels nennt der Apostel die Gier nach schändlichem Gewinn. Diese Gewinnsucht wirkt sehr verderblich, wenn sie unter den Predigern auftritt. Sobald sie sich ihr hingeben, folgt mit Sicherheit, dass sie sich nach der Gunst und dem Willen der Menschen richten, und damit alsbald auch einer Verfälschung der reinen Lehre verfallen.

V. 12. Ihr eigner Prophet. Zweifellos führt Paulus hier einen Vers des Dichters Epimenides an, der von Kreta stammte. Der Ausdruck „Prophet“ wird schwerlich ironisch gemeint sein, sondern bedeutet wohl einfach so viel wie Lehrer. Die Griechen nannten ihre Dichter, die sie für göttlich erleuchtete Männer hielten, häufig „Propheten“. Diesem verbreiteten Sprachgebrauch wird Paulus folgen. „Lügner“ nannte nun Epimenides seine Landsleute bei einer Gelegenheit, wo er davon spricht, dass sie sich des Besitzes von Jupiters Grab rühmen. Doch kommt es darauf nicht aus: der Apostel zitiert vielmehr den Ausspruch als ein geflügeltes Wort. Übrigens ersehen wir auch aus dieser Stelle, dass es übergeistlich ist, wenn man nicht wagt, aus weltlichen Schriftstellern etwas zu entlehnen. Da nämlich alle Wahrheit von Gott ist, auch alle richtigen und wahrheitsgemäßen Aussprüche von unfrommen Menschen, so darf man diese nicht verwerfen, weil auch sie von Gott stammen. Und da alles in der Welt Gottes ist, warum sollte es unrecht sein, zu seiner Ehre etwas Sachdienliches beizubringen?

V. 13. Dies Zeugnis ist wahr. Mag auch der Zeuge nicht weiter von Bedeutung sein, so ist doch sein Ausspruch wahr, und deshalb hebt ihn Paulus mit Betonung hervor. Ferner standen ohne Zweifel die Kreter auf einer sehr tiefen sittlichen Stufe, weil Paulus so hart mit ihnen verfährt. Denn das hätte der Apostel nicht getan, der selbst solche Völker, die eine sehr große Strenge verdienten, nur milde zu tadeln pflegt. Denn was für schmachvollere Vorwürfe könnte man ersinnen, als wenn Paulus hier den Kretern vorwirft, dass sie träge seien, der Schwelgerei ergeben, Leute, denen man nicht Glauben schenken darf, böse Tiere? Und diese Fehler rückt er nicht dem einen oder anderen von ihnen vor, sondern er fällt das Urteil über das ganze Volk. Fürwahr, wir bewundern den Ratschluss Gottes, dass er ein so verworfenes und übel berüchtigtes Volk so früh in die Gemeinschaft seines Evangeliums berufen hat, und Gottes Güte, dass er seiner Gnade gewürdigt hat, die eines Anteils am himmlischen Leben unwürdig schienen. Auf dieser so verrufenen Insel, gleichsam mitten in der Hölle, hatte die Kirche Christi Raum gewonnen, und sie breitete sich dort immer weiter aus, wiewohl sie von den dortigen Übeln mitangesteckt ward. Denn Paulus tadelt hier ausdrücklich die, die zu der christlichen Gemeinde gehörten, nicht etwa nur die die außerhalb derselben stehenden Kreter. Da er weiß, dass dies argen Laster bei ihnen schon seit langer Zeit Wurzel gefasst haben und in starkem Maße verbreitet waren, so schont er, um sie von denselben zu heilen, den Ruf des ganzen Volkes nicht.

Um der Sache willen strafe sie scharf. Das ist nicht das letzte Stück von Umsicht und Klugheit, über die ein Bischof verfügen muss: dass er nämlich die Art und Weise seines Lehrens nach der Beschaffenheit und dem Charakter der Menschen einzurichten weiß. Denn heftige und unbändige Menschen kann man nicht so behandeln wie ruhige und gelehrige. Diesen muss man mit sanftem, mildem Wesen begegnen, aber die Dreistigkeit jener muss man mit Strenge zu bessern suchen, wie das Sprichwort sagt: „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.“ Als Grund, weshalb er dem Titus aufträgt, gegen jene Leute etwas scharf und streng vorzugehen, gibt Paulus eben an, dass sie „böse Tiere“ sind.

Auf dass sie gesund seien im Glauben. Es kommt dem Paulus nicht nur darauf an, dass die kretischen Christen die sittlichen Fehler, die er an ihnen gerügt hat, ablegen, sondern dass sie überhaupt im Glauben gesund seien. Gerade weil sie an und für sich zu besonders groben Fehlern neigten und deshalb leicht noch immer tiefer sinken konnten, soll man sie umso strenger und pünktlicher in der Schranke des gesunden Glaubens halten. Gesund ist aber der Glaube, wenn er durch keine „Fabeln“ verderbt wird. Eben dieser Gefahr will der Apostel vorbeugen, wenn er die Christen anweist, sie sollten auf solche Fabeln (V. 14) nicht achten. Denn Gott will unsere Aufmerksamkeit derartig auf sein Wort gerichtet wissen, dass solches Geschwätz keinen Einfluss auf uns gewinnt. Und fürwahr, sobald einmal die Wahrheit Gottes die Herrschaft über uns gewonnen hat, werden wir keinen Gefallen finden an allem, was nur immer gegen dieselbe vorgebracht werden sollte, und man wird mit allem diesem vergeblich unsere Sinne zu bestricken suchen. Soll also unser Glaube unversehrt bleiben, so müssen wir lernen, alle unsere Sinne wach zu erhalten, dass sie nicht auf andere Dinge ausschweifen. Denn sobald jemand anfängt, auf Fabeln zu achten, wird er die Reinheit seines Glaubens verlieren.

Jüdische Fabeln und Gebote von Menschen sind allerlei Menschengedichte, welche man damals leichtfertiger Weise aufbrachte. Solche Dinge wenden die Menschen von der Wahrheit ab, weil sie sich nicht mit der reinen Lehre Christi begnügen und derselben ihre eigenen Possen beimengen. In diesen Fehler eigenmächtiger Erdichtungen fielen, wie wir hier hören, vornehmlich die Juden, weil sie unter dem Vorwand des göttlichen Gesetzes den Glauben überbietende gesetzliche Bräuche einzuführen suchten. Den Heiden, welche soeben der Täuschung ihres ganzen früheren Lebens entronnen waren, mochte die Rückkehr zu derartigem Treiben ferner liegen: die Juden aber, die in der wahren Religion erzogen waren, hielten besonders hartnäckig an ihren überkommenen Bräuchen fest und ließen sich von der Aufhebung des Gesetzes nicht überzeugen. Auf diese Weise verwirrten sie alle Gemeinden: sobald irgendwo das Evangelium anfing Boden zu gewinnen, ließen sie nicht davon ab, dessen Reinheit durch Beimischung ihres Sauerteigs zu verderben. Deshalb sucht Paulus nicht nur im Allgemeinen zu verhindern, dass die Kreter sich von der reinen Lehre abwenden, sondern er legt auch auf das gerade bei ihnen herrschende Übel, dem notwendig begegnet werden musste, den Finger, dass sie sich vor diesem hüten sollten.

V. 15. Den Reinen ist alles rein. Diese Worte berühren eine besondere Liebhaberei dieser Irrlehrer, nämlich ihre Unterscheidung von reinen und unreinen Speisen, die Moses nur für eine bestimmte Zeitdauer vorgeschrieben hatte, und worauf sie als auf eine noch in Geltung stehende notwendige Forderung Gewicht legten. Ja fast die ganze Heiligung setzten sie in diese kleinlichen Vorschriften. Wie verderblich dies für die Kirche war, haben wir an einer anderen Stelle ausgeführt (zu Kol. 2, 21; 1. Tim. 1, 4). Zunächst wurden dadurch die Gewissen geknechtet, und überdies bedeutete die Bindung an diesen Aberglauben eine Decke vor den Augen der noch unreifen Christen, unter welchen jeder Fortschritt in der reinen Erkenntnis Christi unmöglich wurde. Dazu kam, dass die jüdischen Irrlehrer ihre gesetzlichen Vorschriften auch an die Heiden stellten, die sich der christlichen Gemeinde angeschlossen, und wenn von diesen einer sich dem ihm ungewohnten Joch zu entziehen suchte, für die Notwendigkeit derselben mit heftigem Eifer eintraten, als wenn es sich um eine Hauptforderung der Religion handelte. Deshalb trat Paulus mit gutem Grund unentwegt solchen Verderbern des Evangeliums entgegen. An unserer Stelle nun widerlegt er nicht nur den Irrtum dieser Leute, sondern wirft auch einen spöttischen Seitenblick auf die hohle Torheit, die sich ohne wirklichen Nutzen mit dem Vermeiden gewisser Speisen abquälte. Diesem gesetzlichen Wesen stellt er die Freiheit des Christen gegenüber, dem nichts unrein ist. Diese Lehre von der Freiheit des Christen hatte ihre Gültigkeit aber nicht nur für jene erste Zeit der Christenheit, sondern ruht auf einer für alle Zeiten bestimmten Weisung des heiligen Geistes, die durch kein neues Gesetz aufgehoben werden kann. Demnach ist es wohl angebracht, sich auf diese Stelle gegen das tyrannische Gesetz des Papstes zu berufen, das das Essen von Fleischspeisen zu bestimmten Zeiten verbietet. Ich weiß wohl, was die Römischen dagegen für Ausflüchte suchen. Sie sagen, dass sie das Essen von Fleischspeisen nicht deshalb verbieten, weil sie dieselben für unrein erklärten, - auch nach ihrer Auffassung seien diese alle an und für sich völlig rein -, sondern sie täten dies von einem andern Gesichtspunkte aus, damit nämlich die fleischlichen Triebe gezügelt würden. Als wenn der Herr dereinst verboten hätte Schweinefleisch zu essen, weil er die Schweine für unreine Tiere hielt! Auch die Väter, die unter dem Gesetze standen, wussten, dass alles von Gott Geschaffene an und für sich ganz rein ist: aber sie hielten bestimmte Dinge darum für unrein, weil Gott ihnen dieselben verboten hatte. „Rein“ ist also in des Apostels Sinne der Gebrauch von allerlei Dingen nur, wenn das Gewissen sich dabei frei fühlen darf. Wer also das Gewissen seiner Mitchristen zur Enthaltung von irgendwelchen Dingen bindet, raubt den Gläubigen in ruchloser Weise die von Gott gestattete Freiheit.

Sondern unrein ist ihr Sinn sowohl als ihr Gewissen, also sowohl ihr Verstand als ihr Herz. Damit deckt der Apostel die Quelle auf, aus welcher jegliche Unreinheit sich in das Leben der Menschen ergießt. Unsere Werke mögen vor den Augen der Menschen noch so hell glänzen und noch so angenehm erscheinen: wenn unser Herz nicht wohl gereinigt ist, wird Gott keinen Gefallen an ihnen haben. Denn (1. Sam. 16, 7) Gott siehet das Herz an, oder, wie es Jer. 5, 3 heißt: seine Augen sehen auf die Wahrheit. Was vor den Menschen groß erscheint, das verabscheut er. Zwei Wahrheiten bleiben also bestehen: erstens beurteilt Gott den Menschen danach, ob sein Herz rein ist, nicht nach den äußeren Werken; zweitens ist die Unreinheit eines Ungläubigen so groß, dass sie nicht nur den Menschen selbst befleckt, sondern auch alles, was mit ihm in Berührung kommt. Deshalb lehrt Paulus 1. Tim. 4, 5, dass uns alle Kreatur durch das Wort Gottes geheiligt wird; denn die Menschen machen nur dann einen reinen Gebrauch von den Dingen, wenn sie dieselben aus Gottes Hand im Glauben hinnehmen.

V. 16. Sie sagen, sie erkennen Gott. Paulus verfährt mit diesen Heuchlern, wie es ihnen gebührt: verachten sie doch, während sie auf kleinliche Vorschriften Gewicht legen, die Hauptforderungen des christlichen Lebens. Mit ihrem eitlen Treiben brüsten sie sich, aber zugleich wird durch ihre groben Laster offenbar, dass sie Gott verachten. Sie gleißen durch ihre Enthaltung von gewissen Speisen, - während sie doch ihren Begierden die Zügel schießen lassen: ihr Betragen ist hässlich und nichtswürdig, ihr ganzes Leben zeigt von wahrer sittlicher Tüchtigkeit keine Spur.

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