Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 10

Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 10

1 Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für Israel, dass sie selig werden. 2 Denn ich gebe ihnen das Zeugnis, dass sie eifern um Gott, aber mit Unverstand. 3 Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind also der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht untertan. 4 Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an ihn glaubt, der ist gerecht.

V. 1. Wiederum können wir sehen, welchen Eifer der Apostel daran wendet, allen Anstößen zu begegnen. Gern möchte er die unumgängliche Härte seiner Ausführungen über die Verwerfung der Juden mildern. Darum bezeugt er, wie zuvor schon (9, 1 ff.), seine Liebe zu Israel; zum Beweise solcher Liebe muss es dienen, dass Paulus vor Gottes Angesicht für die Seligkeit Israels fleht. Solche Fürbitte erwächst ja nur aus echter Zuneigung. Immerhin mag auch ein weiterer Grund den Apostel genötigt haben, der Liebe gegen seine Stammesgenossen Ausdruck zu geben: denn die Juden hätten seine Lehre niemals angenommen, wenn sie ihn für ihren geflissentlichen Feind hätten halten müssen, und auch den Heiden hätte sein Abfall vom väterlichen Gesetze den Verdacht erregen müssen, dass der eigentliche Grund nur Gehässigkeit gewesen wäre.

V. 2. Denn ich gebe ihnen das Zeugnis usw. So muss ja die Liebe des Apostels wohl echt sein. Denn er hatte Grund, Mitleid walten zu lassen, nicht aber Hass. Sah er doch, dass nicht Bosheit, sondern Unwissenheit sie irreleitete, ja dass ihr Verfolgungseifer wider Christi Königreich aus einer Art von Eifer für Gott hervorging. Nebenbei lernen wir hier, wohin unser so genannter guter Wille uns führt, wenn wir ihm folgen. Wie oft entschuldigen wir uns damit, dass wir dieses und jenes nicht aus bösem Willen getan haben! Wollen wir aber auch die Juden entschuldigt halten, dass sie Christum gekreuzigt, wider seine Apostel gewütet und alles daran gesetzt haben, das Evangelium zu vernichten und zu verstören? Wollen wir wahrhaft fromm sein, so sollen wir lieber bedenken, dass wirkliche Frömmigkeit sich überall an Gottes Wort hält. Auf dem Wege dieses Wortes zu hinken, ist besser als außerhalb desselben zu laufen -, wie Augustinus sagt.

V. 3. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt usw. Ihr unüberlegter Eifer führt sie auf Irrwege, weil sie ihre eigne Gerechtigkeit aufrichten wollen. Dieses törichte Selbstvertrauen kommt daher, dass sie die wahre göttliche Gerechtigkeit nicht kennen. Welcher Gegensatz zwischen der „Gerechtigkeit Gottes“ und der Gerechtigkeit der Menschen! Nebeneinander können beide nicht bestehen; denn sie schließen sich gegenseitig aus: „Gottes Gerechtigkeit“ (d. h. tatsächlich: „die von Gott geschenkte Gerechtigkeit“) fällt dahin, sobald die Menschen ihre eigne Gerechtigkeit aufrichten, die sie selbst hervorbringen und mit welcher sie Gott unter die Augen treten wollen. Solcher Sinn unterwirft sich der „Gerechtigkeit Gottes“ nicht, sondern sucht die Rechtfertigung bei sich selbst. Denn wer die von Gott geschenkte Gerechtigkeit empfangen will, muss vor allen Dingen darauf verzichten, in sich selbst Gerechtigkeit zu finden. Nur, dass wir keine Gerechtigkeit haben, wird uns treiben, Gerechtigkeit außer uns zu suchen. Wie nun die Menschen sich mit der „Gerechtigkeit Gottes“ bekleiden können, haben wir früher dargelegt (zu 3, 21.24 usw.): Christi Gerechtigkeit wird uns zugesprochen.

V. 4. Denn Christus ist des Gesetzes Ende. Man könnte hier auch übersetzen: des Gesetzes Ziel und Erfüllung. Aber die andere (hier wiedergegebene) Übersetzung ist allgemein angenommen und auch ihrerseits nicht unpassend. Der Leser kann sie also durchaus aufrechterhalten. – Paulus begegnet hier einem Einwand, den man erheben konnte. Man konnte doch sagen, die Juden hätten mit ihrem Eifer um das Gesetz den rechten Weg innegehalten. Demgegenüber zeigt der Apostel, dass es ein verkehrtes Verständnis des Gesetzes ist, wenn man durch Gesetzeswerke die Rechtfertigung zu erlangen sucht; denn das Gesetz ist uns im Gegenteil dazu gegeben, uns mit der Hand zu einer anderen Gerechtigkeit zu leiten. Alles, was es lehrt, was es vorschreibt, was es verheißt, hat immerzu Christus zum Richtpunkt, und deshalb muss auch alles Einzelne in ihm dahin ausgerichtet werden. Dies geschieht so, dass das Gesetz uns alle eigne Gerechtigkeit abspricht, zur Anerkennung unserer Sünde zwingt, und uns nichts übrig lässt, als dass wir Christus bitten, uns seine Gerechtigkeit zu schenken. Der Fehler der Juden bestand also darin, dass sie das Hilfsmittel zur Gerechtigkeit in ein Hindernis verkehrten. Sie verstümmelten Gottes Gesetz, indem sie seinen Geist austrieben und den Leichnam des toten Buchstabens übrig behielten. Allerdings verspricht das Gesetz denen einen Lohn, welche es vollständig halten. Tatsächlich wird dadurch aber jedermann schuldig gesprochen, und an Stelle der Gesetzesgerechtigkeit bietet Gott eine andere Gerechtigkeit in Christus, welche nicht durch Verdienst der Werke erworben werden kann, sondern als ein freies Geschenk im Glauben hingenommen werden muss. In dieser Weise zeugt das Gesetz für die Gerechtigkeit des Glaubens (vgl. 3, 21). Unsere Stelle ist darum so wichtig, weil sie deutlich ausspricht, dass das Gesetz in allen seinen Teilen auf Christus zielt. Die wirkliche Bedeutung und Absicht des Gesetzes kann niemand richtig verstehen, der nicht diesen Zielpunkt stetig im Auge behält.

5 Mose schreibt wohl von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt: „Welcher Mensch dies tut, der wird dadurch leben.“ 6 Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht also: „Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?“ (Das ist nichts anderes denn Christum herabholen.) 7 Oder: „Wer will hinab in die Tiefe fahren?“ (Das ist nichts anderes denn Christum von den Toten holen.) 8 Aber was sagt sie? „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.“ Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. 9 Denn so du mit deinem Munde bekennst Jesum, dass er der Herr sei, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig. 10 Denn so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und so man mit dem Munde bekennt, so wird man selig.

V. 5. Mose schreibt usw. Nun stellt der Apostel die Gerechtigkeit des Glaubens und die Gerechtigkeit der Werke einander gegenüber, damit man noch klarer sehe, dass sie völlig einander widerstreiten. Solcher Vergleich zeigt ja einen Gegensatz am deutlichsten. Dabei benutzt Paulus nicht Sprüche der Propheten, sondern das eigne Zeugnis des Mose. Der Gesetzgeber selbst soll den Juden beweisen, dass er sich nicht beim Vertrauen auf die Werke festhalten, sondern zu Christus führen will. So muss selbst das Gesetz zu einem Teil eine Predigt vom Evangelium werden. Wir müssen aber nach dem Grund der doppelten Tatsache fragen, dass Paulus einerseits davon redet, dass das Gesetz mit dem Glauben übereinstimmt, anderseits aber die Gerechtigkeit aus dem Gesetz in Gegensatz zur Gerechtigkeit aus dem Glauben stellt. Unter Gesetz ist hier zweierlei verstanden: einmal bedeutet es die ganze Lehre, die Mose auszurichten hatte, das andere Mal dagegen ausschließlich den Teil, der sich in besonderer Weise auf sein Amt bezog; dieser enthält Vorschriften, Belohnungen und Strafen. Das allgemeine Amt des Mose war dagegen, das Volk in der rechten Regel der Frömmigkeit zu erziehen, und deshalb musste er notwendig Buße und Glauben verkündigen. Glaube aber ist nicht ohne die Verheißung möglich, die Verheißung aber ist Gnadenverheißung. Also musste Mose auch ein Verkünder des Evangeliums sein. Das geht auch aus vielen Stellen deutlich hervor. Die Buße anderseits setzt die Erkenntnis voraus, welche Lebensführung Gottes Wohlgefallen findet. Die hat nun Mose in den Vorschriften des Gesetzes zusammengefasst. Zum Ansporn sind da denn auch die Drohungen einerseits, und anderseits die Verheißungen des Gesetzes beigefügt. Das Volk sollte darüber zur Einsicht gelangen, wie vielfältig es der Verdammnis teilhaftig geworden sei, wie weit es davon entfernt sei, sich durch seine Werke ein Verdienst vor Gott zu erwerben – und es sollte in dieser Verzweiflung zu Christus seine Zuflucht nehmen! Er war das Ziel und Ende des Dienstes Moses. – Weil nun die Verheißungen des Evangeliums sich bei Mose bloß hie und da finden und auch dort nur dunkel, weil dagegen die gesetzlichen Vorschriften und die auf sie gesetzten Belohnungen immer wieder vorkommen, so gilt es mit Recht als das eigentliche Amt des Mose, die wahre Gerechtigkeit der Werke zu lehren. In diesem Sinne wird Mose auch Joh. 1, 17 von Christus unterschieden. Wo also das Gesetz oder das Amt des Mose in diesem engeren Sinne verstanden werden, da ist stets stillschweigend der Gegensatz gegen Christus mit gesetzt. Diese Stellen beziehen sich aber eben nicht auf das ganze Amt des Mose, sondern auf seine Sonderaufgabe. Die angeführte Stelle, in welcher Mose die gesetzliche Gerechtigkeit schreibt, d. h. beschreibt, stammt aus 3. Mose 18, 5; dort verheißt der Herr denen, welche das Gesetz halten, das ewige Leben. Paulus zieht daraus folgende Schlüsse: da niemand die vom Gesetz verlangte Gerechtigkeit erreicht, wenn er nicht alle einzelnen Forderungen vollkommen erfüllt, da aber ferner jeder Mensch hinter dieser Vollkommenheit sehr weit zurück bleiben wird, so wird man ganz vergeblich versuchen, auf dem Wege des Gesetzes selig zu werden. Israel befindet sich demgemäß auf einem Irrweg, wenn es eine Gerechtigkeit aus dem Gesetz erringen zu können wähnt, die uns doch allen unerreichbar bleibt. Der Beweis des Paulus nimmt also den Ausgangspunkt bei der Verheißung, die in unserm Spruche steht: diese hilft uns nichts, weil sie an eine unerfüllbare Bedingung geknüpft ist. Wie töricht ist es also, wenn z. B. die Papisten sich einfach auf die im Gesetz enthaltenen Verheißungen berufen, um zu beweisen, dass es allerdings eine Gerechtigkeit aus den Werken geben müsse, da doch Gott seinen Verehrern nicht leere Versprechungen geben kann. In Wirklichkeit wird uns ja das Gesetz nichts als Fluch bringen. Es will uns über dem Gefühl unserer Übertretungen erschrecken, damit wir lernen, mit unserm Mangel bei Christus eine Zuflucht zu suchen.

V. 6. Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht usw. Diese Stelle gewährt insofern einen Anstoß, als Paulus den Worten des Mose einen ganz fremdartigen Sinn unterzulegen scheint. Unsere Sätze stammen aus 5. Mose 30, 12, wo Moses (ganz wie in dem soeben zitierten Spruche) von der Lehre des Gesetzes redet. Paulus aber bezieht dieselben auf die Verheißungen des Evangeliums. Die Schwierigkeit hebt sich folgendermaßen: Mose setzt auseinander, dass es leicht sei, zum ewigen Leben zu gelangen, weil Gottes Wille den Juden nicht mehr verborgen war oder weit entrückt, sondern ganz nahe vor Augen gelegt. Mose würde nun eine sehr oberflächliche Rede führen, wenn er dabei bloß an das Gesetz dächte. Denn das Gesetz Gottes zu halten, wird um nichts schwerer oder leichter, ob es uns unter die Augen gerückt ist oder weit entfernt erscheint. Also redet Mose gar nicht vom Gesetz allein, sondern von der Offenbarung Gottes im Allgemeinen, welche das Evangelium mit in sich begreift. Das Wort des Gesetzes an und für sich ist niemals in unserm Herzen, auch nicht die geringste Silbe davon -, bis es uns durch den Glauben an das Evangelium eingesenkt wird. Und selbst nach der Wiedergeburt lässt sich nicht im strengen Sinne sagen, dass das Wort des Gesetzes in unserm Herzen wohnt. Denn dieses Wort verlangt eine Vollkommenheit, von welcher auch die Gläubigen noch sehr weit entfernt sind. Aber das Wort des Evangeliums hat seinen Sitz im Herzen, wenn es dasselbe auch noch nicht völlig ausfüllt: denn es bietet Vergebung für alle Unvollkommenheit und jeden Mangel. Überhaupt will Mose in jenem Kapitel (wie auch schon 5. Mose 4) dem Volke die unvergleichliche Güte Gottes ans Herz legen, welche es in Gottes Gemeinschaft und Erziehung aufgenommen hatte. Aus dem bloßen Gesetz aber hätte sich solche Güte nicht spüren lassen. Allerdings redet Mose an der zitierten Stelle davon, dass unser Leben sich nach der Regel des Gesetzes gestalten soll; denn mit der aus Gnaden geschenkten Glaubensgerechtigkeit verbindet sich der Geist der Wiedergeburt. So erfolgt also ein Rückschluss von dem einen Stück auf das andere: Gehorsam gegen das Gesetz kann nur aus dem Glauben an Christus stammen. Mit diesem Grundsatz hängt auch das Wort zusammen, welches wir kurz vorher in demselben Kapitel lesen (5. Mose 30, 6): „Der Herr, dein Gott, wird dein Herz beschneiden.“ Damit erscheint die Behauptung widerlegt, dass die fragliche Stelle von den guten Werken handle. Dies soll an sich ja nicht bestritten werden. Aber es begreift sich doch ohne weiteres, dass die Beobachtung des Gesetzes aus ihrer Quelle, aus der Gerechtigkeit des Glaubens, abgeleitet wird. Nunmehr können wir zur Erörterung der Worte im Einzelnen übergehen:

„Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?“ usw. Mose spricht von Himmel und Meer als von entfernten und für Menschen schwer zugänglichen Stätten. Paulus aber findet dahinter etwas wie ein verborgenes, geistliches Geheimnis und wendet den Gedanken auf Tod und Auferstehung Christi. Daran darf man keinen Anstoß nehmen. Denn der Apostel wollte die Worte des Mose nicht Silbe für Silbe aufnehmen und auslegen, sondern in freier Weise für seinen Zweck verwenden. Hatte Mose von unzugänglichen Orten gesprochen, so setzt Paulus dafür die Stätten ein, die mehr als alle andern uns undurchsichtig bleiben, und auf welche doch unser Glaube am allermeisten seinen Blick richten muss. Unser Glaube ruht auf einem zwiefachen Fundament: er weiß, dass uns das Leben erworben ward und dass der Sieg über den Tod errungen ist. Diese beiden Tatsachen bietet das Wort des Evangeliums dem Glauben an, und er stützt sich darauf. Denn Christus hat durch seinen Tod den Tod verschlungen, durch seine Auferstehung aber das Leben in seine Gewalt genommen. Das Evangelium aber teilt uns diese Wohltaten des Todes und der Auferstehung Christi mit: wir brauchen also nicht weiter zu suchen. Will nun Paulus feststellen, dass die Gerechtigkeit des Glaubens völlig ausreicht, uns selig zu machen -, so braucht er nur zu zeigen, dass sie diese beiden Stücke unter sich begreift, nach welchen wir allein verlangen, wenn es um das Heil geht. Also: Sprich nicht in deinem Herzen: „Wer will hinauf in den Himmel fahren?“, d. h. es braucht sich niemand erst noch durch den Augenschein zu überzeugen, ob uns die Erbschaft des ewigen Lebens im Himmel bereitliegt. Sprich auch nicht: „Wer will hinab in die Tiefe fahren?“, d. h. niemand muss dort erst zusehen, ob wirklich auf den Tod des Leibes nichts anderes folgt als ein ewiger Tod der Seele. In beiden Stücken ist doch jeder Zweifel behoben! Die Gerechtigkeit des Glaubens macht uns dessen gewiss. Wollte man an dem ersten Stücke zweifeln, so hieße dies ja, Christus vom Himmel herabholen! Wollte man aber an dem andern Stücke Zweifel hegen, so wäre dies nichts anderes, denn Christus von den Toten holen! Denn Christi Aufstieg in den Himmel sollte den Glauben an unser eignes ewiges Leben so stark machen, dass wir fast Christus selbst den Besitz des Himmels streitig machen müssten, um noch zweifeln zu dürfen, dass den Gläubigen die Erbschaft des Himmelreichs bereitliegt: denn in ihrem Namen und in ihrer Sache ist ja Christus in den Himmel gegangen. Gleicherweise hat er die Schrecken der Hölle getragen, um uns davon zu befreien: also zweifeln, ob die Gläubigen nicht doch diesem Elend noch verfallen werden, wäre doch ebensoviel wie Christi Tod für vergeblich halten und ihn für unwirksam erklären.

V. 8. Aber was sagt sie? Bisher hatte der Apostel nur dargelegt, was die Gerechtigkeit des Glaubens nicht sagt und nicht zu sagen braucht. Damit will der dem Glauben jeden Anstoß wegräumen. Jetzt aber muss gezeigt werden, auf welche Weise man die Gerechtigkeit erlangt. Die Frageform erweist sich dabei besonders geeignet, die Spannung rege zu erhalten. Welcher Unterschied nun zwischen der Gerechtigkeit des Gesetzes und des Evangeliums! Die eine zeigt sich den Sterblichen aus unnahbarer und unzugänglicher Ferne. Die andere bietet sich in voller Nähe dar und lädt uns freundlich ein, zuzugreifen, sie zu genießen: „Das Wort ist dir nahe“ usw. Hier ist vor allen Dingen zu merken, dass wir uns innerhalb der Schranken des Wortes halten müssen, wenn uns nicht allerlei Umschweife vom Wege des Heils abführen sollen. Mit dem Worte allein sollen wir zufrieden sein und in seinem Spiegel die Geheimnisse des Himmels betrachten, welche sonst mit ihrer Majestät unsere Augen blenden, unsere Ohren übertäuben, unsern Sinn verwirren müssten. Unsere Stelle gewährt den Gläubigen einen großen Trost über die Sicherheit des Wortes: unsere Seele darf sich bei dem Worte eben so sicher beruhigen, als wären die Dinge selbst unmittelbar gegenwärtig. So dürfen wir weiter wissen, dass unser Heilsvertrauen hier fest und sicher stehen kann. Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. Das muss Paulus ausdrücklich betonen. Denn die Lehre des Gesetzes macht das Gewissen keineswegs still und ruhig: sie gibt ihm keine Grundlage, mit deren Festigkeit es zufrieden sein könnte. Immerhin schließt der Gedanke des Apostels keinen Teil des ganzen Wortes aus, selbst nicht die Vorschriften des Gesetzes: nur stellt er die Vergebung der Sünden in die Mitte, als die wahre Gerechtigkeit, welche Bestand behält, auch wenn die strengen Forderungen des Gesetzes nicht erfüllt werden. Es genügt also, um unsere Seele stille und unser Heil gewiss zu machen, das Wort des Evangeliums, welches uns nicht anweist, die Gerechtigkeit durch Werke zu verdienen, sondern die Gerechtigkeit, anzunehmen, die uns aus Gnaden angeboten wird. Das „Wort vom Glauben“ ist das Wort der Verheißung, also eigentlich das Evangelium selber, welches ja im engsten Bezuge zum Glauben steht.

V. 9. Denn so du mit deinem Munde bekennst usw. Auch diese Wendung ist mehr eine Anspielung als eine eigentliche Erklärung. Denn wenn Mose sagte, das Wort sei in unserm Munde, so dachte er dabei schwerlich an das Bekenntnis des Mundes, sondern einfach daran, dass das Wort uns so nahe wie nur irgend möglich vor Augen steht. Doch bot sich die Wendung des Apostels sehr leicht: legt uns Gott sein Wort in den Mund, so muss es ja zum Bekenntnis werden. Diese Anknüpfung des Gedankens bringt es mit sich, dass zuerst vom Bekenntnis, dann erst von dem zugrunde liegenden Glauben die Rede ist, während sonst die umgekehrte Reihenfolge natürlicher gewesen wäre. In rechter Weise bekennt man nun Jesus, dass er der Herr sei, wenn man ihn mit seiner Kraft und Herrlichkeit geschmückt sein lässt und so annimmt, wie er uns vom Vater gegeben ward, und wie ihn das Evangelium beschreibt. Wenn es weiter im Besonderen heißt, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so will dies nicht so verstanden sein, als solle Christi Tod nichts gelten, sondern so, dass Christus eben durch seine Auferstehung das gesamte Heilswerk zum Abschluss gebracht hat. Brachte auch der Tod die Erlösung und Genugtuung, die uns mit Gott versöhnte, so ward doch erst durch die Auferstehung der Sieg über Sünde, Tod und Satan errungen. Hier ist der Quell der Gerechtigkeit, des neuen Lebens und der Hoffnung auf selige Unsterblichkeit. Unsere Heilszuversicht wird also hier allein an die Auferstehung erinnert, nicht damit sie den Tod vergessen soll, sondern weil die Auferstehung uns Zeugnis von der Frucht und Wirkung des Todes gibt; auch birgt sie ja den Tod in sich. Übrigens fordert Paulus nicht einen bloßen Geschichtenglauben, sondern will auch den Zweck der Auferstehung uns vor Augen stellen. Es gilt zu fassen, warum und wozu Christus auferstanden ist: durch seine Auferstehung wollte nämlich der Vater uns allen ein neues Leben schenken.

V. 10. Denn so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht. Dieses Wort hilft uns, die Gerechtigkeit des Glaubens richtig zu verstehen. Es zeigt, dass die Gerechtigkeit uns zuteil wird, weil wir die Güte Gottes greifen und umfangen, welche im Evangelium angeboten wird. Dadurch sind wir gerecht, dass wir glauben: Gott ist uns in Christus gnädig. Dabei machen wir die Beobachtung, dass der Glaube seinen Sitz nicht im Kopf, sondern im Herzen hat. Ist vom Herzen die Rede, so denken wir an eine ernste und tiefe Bewegung des inneren Lebens. Demgemäß ist der Glaube nicht ein bloßer Gedankenbegriff, sondern eine feste und wirksame Zuversicht.

So man mit dem Munde bekennt, so wird man selig. Hier scheint der Apostel plötzlich aus dem Glauben nur den Anfang der Seligkeit abzuleiten, während er doch soeben noch gesagt hatte, dass wir allein durch den Glauben selig werden. Aber er meint hier gar nicht, dass wir durch das Bekenntnis die Seligkeit verdienen sollen, sondern will nur zeigen, wie Gott unser Heil seiner Vollendung entgegenführt: Gott lässt den Glauben, den er in unsere Herzen gepflanzt hat, im Bekenntnis zur äußeren Erscheinung kommen. Der Apostel erinnert also einfach daran, dass es sich um einen wahren, fruchtbringenden Glauben handelt. Niemand soll einen leeren Schein als Glauben ausgeben: vielmehr muss das Herz mit einem solchen Eifer für Gottes Ehre brennen, dass seine Flammen auch nach außen schlagen. In der Tat ist der Gerechtfertigte bereits in der Gegenwart selig: man kann also nicht bloß sagen, „so man mit dem Munde bekennt“, sondern auch „so man von Herzen glaubt“, so wird man selig. Aber der Apostel unterscheidet so, dass er dem Glauben die Rechtfertigung zuschreibt, dann aber hinzufügt, was zur Vollendung des Heils noch weiter nötig ist. Wer wirklich von Herzen glaubt, wird auch mit dem Munde bekennen: das folgt von selbst und begründet nicht etwa das Heil. Freilich sollen aber auch die Leute zusehen, was sie dem Paulus antworten wollen, die uns heutzutage mit einem Einbildungsglauben kommen, der sich mit dem tiefsten Herzensgrund zufrieden gibt und das Bekenntnis des Mundes für überflüssig und eitel hält und es nicht nötig zu haben vermeint. Es wäre doch sinnlos, den Glauben für ein Feuer zu halten, wenn da keine Flamme und keine Wärme hervorträte.

11 Denn die Schrift spricht: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zu Schanden werden.“ 12 Es ist hier kein Unterschied unter Juden und Griechen; es ist aller zumal ein Herr, reich über alle, die ihn anrufen. 13 Denn „wer den Namen des Herrn wird anrufen, soll selig werden.“

V. 11. Denn die Schrift usw. Nachdem der Apostel dargelegt, weshalb Gott mit Recht die Juden verworfen hat, kehrt er dazu zurück, die Berufung der Heiden zu behaupten und zu beweisen. Damit erreicht er die Kehrseite seiner Erörterung. Es hatte sich gezeigt, dass der Weg, den alle Menschen zum Heil gehen müssen, den Heiden nicht minder offen stand als den Juden. Nunmehr fügt der Apostel das allgemeine Kennzeichen des Heils hinzu (nämlich den Glauben und die Anrufung des Herrn) und erklärt dann offen auch von den Heiden, dass sie des Heils teilhaftig sind; alsdann beruft er sich auch ausdrücklich zu diesem Heil. Der zuvor schon benutzte Spruch aus Jesaja wird wiederholt, um der vorgetragenen Wahrheit desto mehr Nachdruck zu geben, zugleich auch, um zu zeigen, wie trefflich die auf Christus zielenden Weissagungen mit dem Gesetz zusammenstimmen.

V. 12. Es ist hier kein Unterschied usw. Ist allein Glaube nötig, so beantwortet ihn Gott überall mit seiner selig machenden Güte -, und es schwindet jeder Unterschied der Völker und Nationen. Dafür gibt der Apostel einen weiteren, unumstößlichen Grund an: wenn der Schöpfer und Bildner der ganzen Welt aller Menschen Gott ist, so wird er sich allen gütig erweisen, die ihn als Gott erkennen und anrufen. Denn da sein Erbarmen unermesslich ist, muss es sich auf alle ausgießen, die es begehren. Reich ist Gott, weil er freigebig seine Güte und seine Wohltaten austeilt. Und wir wissen, dass keine Gaben unseres Vaters Reichtum vermindert: es wird uns also nichts entgehen, wenn er auch noch so vielen andern Menschen den Reichtum seiner Gnade zuwendet. Keiner braucht neidisch und missgünstig auf den andern zu blicken, der ebenfalls seine Gabe empfängt. Diese Wahrheit ist ja an sich klar, aber der Apostel stützt sie noch (V. 13) durch ein Wort des Propheten Joel, welches ausdrücklich jedem, der den Herrn anruft, das Heil zuerkennt. Aus den genaueren Umständen und der Umgebung dieses prophetischen Wortes ergibt sich vollends, wie passend dasselbe hier angeführt wird. Denn einmal weissagt Joel dort auf Christi Königreich, und weiter hatte er kurz zuvor von Gottes schrecklichem Zorn geredet, dem doch alle entrinnen sollen, die des Herrn Namen anrufen. So sehen wir, dass Gottes Gnade bis in den Abgrund des Todes hinab dringt, wenn man sie daselbst nur suchen will. Sollte sie nun nicht bis zu den Heiden reichen?

14 Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? 15 Wie sollen sie aber predigen, wo sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht: „Wie lieblich sind die Füße derer, die den Frieden verkündigen, die das Gute verkündigen!“ 16 Aber sie sind nicht alle dem Evangelium gehorsam. Denn Jesaja spricht: „Herr, wer glaubt unserm Predigen?“ 17 So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes.

Dass Gott den Heiden das Heil zugedacht hat, beweist Paulus dadurch, dass sein eignes Predigtamt unter ihnen Frucht schaffte. Der Gedanke schreitet Stufe für Stufe vorwärts: Heiden und Juden offenbaren ihren Glauben damit, dass sie den Namen des Herrn anrufen. Denn niemand wird dies tun, wenn er nicht die rechte Erkenntnis Gottes besitzt. Solche Erkenntnis oder solcher Glaube erwächst aus dem Wort Gottes. Und wiederum lässt Gott sein Wort nur predigen, wo sein besonderer Rat und seine Vorsehung es haben will. Also wo man Gott anruft, da ist Glaube. Wo die Frucht des Glaubens wächst, da ward zuvor die Saat des Wortes ausgestreut. Wo das Wort erschallt, da ist Gottes Berufung. Und wo diese Berufung sich wirksam und fruchtbar zeigt, haben wir ein helles und zweifelloses Zeugnis von Gottes Gnade. Demgemäß steht fest, dass die Heiden in Gottes Reich gehören, da ihnen ja Gott die Tür des Heils aufgetan hat. Ihr Glaube ruht auf der Predigt des Evangeliums, die Predigt ruht auf Gottes Sendung: und damit wollte Gott ihre Seligkeit schaffen. Nunmehr können wir zur Betrachtung der einzelnen Stücke übergehen.

V. 14. Wie sollen sie aber den anrufen. Anrufung Gottes und Glaube gehören unzertrennlich zusammen. Wer Gott anruft, flieht damit zum einzigen Hafen seines Heils, will wie ein Kind im Schoße des besten und liebsten Vaters sich bergen, sucht unter seiner Obhut eine Schutz, bei seiner Verzeihung und Liebe eine Ruhestätte, bei seiner Güte eine Hilfe, bei seiner Kraft eine Stütze. Das kann aber niemand, er hätte denn zuvor in seinem Gemüt eine feste Zuversicht zu Gottes Gnade gefasst, so dass er nun wagt, von ihm etwas zu bitten und zu hoffen. Wer Gott anruft, muss gewisslich glauben, dass bei ihm seine Hilfe steht. Natürlich denkt Paulus hier nur an eine solche Anrufung, welche dem Herrn wohlgefällig ist. Denn auch die Heuchler rufen Gottes Namen an, aber nicht zu ihrem Heil, weil sie es ohne Glauben tun. Hier aber handelt es sich nicht um ungewisse Ahnungen und Vermutungen, sondern um eine völlige Gewissheit über Gottes Gnade, welche das Gemüt aus dem Evangelium schöpft, mit welchem Gott uns die Versöhnung und Kindschaft anbietet. Ohne diese Gewissheit kann man nicht richtig beten, ohne sie steht der Zugang zu Gott nicht offen (Eph. 3, 12). Umgekehrt ergibt sich auch der Schluss: der Glaube ist erst echt, wenn er zur Anrufung Gottes wird. Wer Gottes Güte wirklich geschmeckt hat, kann nicht anders, als mit allen seinen Anliegen stetig zu ihm kommen.

Wie sollen sie aber an den glauben usw. Solange nicht Gottes Gnadenzusage uns den Mund zum Gebet öffnet, müssen wir stumm bleiben. Diese Ordnung enthüllt auch das Prophetenwort (Sach. 13, 9): „Ich will sagen: Es ist mein Volk; und sie werden sagen: Herr, mein Gott!“ Wir selbst können uns keinen gnädigen Gott machen, wenn es uns beliebt. Nur die Erkenntnis, welche er uns in seinem Worte erschließt, ist zuverlässig und echt. Solange bloß unsere eignen Gedanken Gott für gut halten möchten, entsteht kein fester und ungezweifelter Glaube, sondern nur eine unsichere und schwankende Einbildung. Zur rechten Erkenntnis Gottes bedürfen wir seines Wortes. Unter diesem Worte versteht der Apostel die mündliche Predigt des Evangeliums: sie ist das Mittel, durch welches Gott seine Erkenntnis mitzuteilen beschlossen hat. Wollte aber jemand daraus schließen, dass Gott den Menschen diese Erkenntnis überhaupt auf eine andere Weise nicht mitteilen könne, so wäre dies nicht im Sinne des Apostels: Paulus wollte hier lediglich die ordentliche Weise ins Auge fassen, wie Gott Gnade austeilt, nicht aber seiner Gnade ein Gesetz vorschreiben.

V. 15. Wie sollen sie aber predigen, wo sie nicht gesandt werden? Wo Gott irgendein Volk der Predigt seines Evangeliums würdigt, da ist dies ein Zeichen und Unterpfand seiner Liebe. Denn es würde keinen Prediger des Evangeliums geben, wenn Gottes besondere Vorsehung ihn nicht erweckt hätte. So will ohne Zweifel Gottes Gnade das Volk heimsuchen, welchem er das Evangelium predigen lässt. Wie denn geschrieben steht usw. Das Wort, welches der Apostel hier aus Jes. 52, 7 anführt, handelt in seinem ursprünglichen Zusammenhang von der Befreiungshoffnung des Volkes Israel: solcher Freudenruf klingt den Boten entgegen, welche die frohe Kunde von der Befreiung aus der Gefangenschaft bringen. Darin liegt aber doch, dass das apostolische Predigtamt keine geringere Würde besitzt: bringt es uns doch die Kunde vom ewigen Leben. Daraus folgt, dass es von Gott stammen muss. Denn alles Gute und Lobenswerte in der Welt hat seinen Ursprung aus Gott. Wie lieb und wert muss uns also die Predigt des Evangeliums sein, welcher der Mund Gottes ein solches Zeugnis gibt! Die Füße derer, die den Frieden verkündigen, bezeichnen die Ankunft jener Boten.

V. 16. Aber sie sind nicht alle dem Evangelium gehorsam. Dieser Vers gehört nicht zu der bisherigen Gedankenkette, sondern bildet eine Nebenbemerkung. Paulus will damit der falschen Annahme zuvorkommen, als ob überall das Wort den Glauben mit sich bringe. Diese Annahme schien ja nahe zu liegen, weil wir hörten, das Wort sei die regelmäßige und ordentliche Grundlage des Glaubens und gehe diesem voraus, wie der Same der sprießenden Saat. Würde nun der Glaube notwendig aus dem Wort folgen, so hätte sich Israel wohl rühmen mögen: denn das Wort hatte es stets besessen. Also musste der Apostel im Vorbeigehen auch die Tatsache anrühren, dass viele äußerlich berufen werden, welche doch nicht zu den Auserwählten gehören (Matth. 22, 14). Dabei führt er eine Stelle aus Jes. 53, 1 an, wo der Prophet soeben beginnen wollte, seine herrliche Weissagung über Christi Tod und Königreich auszusprechen, wo ihm aber zuvor im Geiste klar ward, wie wenige daran gläubig sein werden: „Herr, wer glaubt unserm Predigen?“ Und der Prophet hat auch alsbald den Grund angeführt, weshalb so wenige glauben: „Wem wird der Arm des Herrn offenbart?“ Damit will er zu verstehen geben, dass das Wort nur Frucht schafft, wo Gott mit dem Lichte seines Geistes die Herzen erleuchtet. So steht hinter dem äußeren, von Menschen gepredigten Worte die innere Berufung: sie allein ist wirksam – selbstverständlich beschränkt sie sich auf die Auserwählten. Daraus lässt sich abnehmen, wie ungereimt die Rede ist, dass alle Menschen ohne Unterschied auserwählt seien. Man glaubt diese Ansicht daraus ableiten zu dürfen, dass die Heilslehre eine allumfassende ist und dass Gott unterschiedslos alle Menschen zu sich einlädt. Aber die allgemeine äußere Predigt an sich schafft noch nicht das Heil: dazu gehört vielmehr noch jene besondere Offenbarung an die Auserwählten, an welche der Prophet erinnert.

V. 17. So kommt der Glaube aus der Predigt. Jetzt folgt der eigentliche Schluss, welchen der Apostel ziehen will. Und er ganze Beweis zielt darauf, dass, wo Glaube ist, Gott eben damit ein Zeichen seiner Erwählung gegeben hat. Hat nun Gott solche Gnadengabe des Glaubens vermittelst der Predigt des Evangeliums verliehen, und hat der Glaube jene Anrufung des Namens Gottes geschenkt, in der nach Gottes Verheißung alle das Heil finden sollen (vgl. V. 12) -, so hat er damit das Zeichen gegeben, dass die Heiden an der Erbschaft des ewigen Lebens teilhaben sollen. Wir haben hier übrigens eine sehr bemerkenswerte Aussage über die Kraft der Predigt, den Glauben zu wirken. Freilich haben wir soeben gehört, dass die Predigt an sich nichts ausrichten kann: aber wo es Gott gefällt, durch sie zu wirken, da ist sie ein Werkzeug seiner Macht. Menschenwort würde vermöge eigner Kraft nicht bis in die Seele dringen, und man würde einem sterblichen Menschen zuviel Ehre geben, wenn man sagen wollte, er könne unsere Wiedergeburt vollbringen. Das Licht des Glaubens ist ein höheres Gut, als dass Menschen es zu verleihen vermöchten. Aber das alles hindert nicht, dass Gott eines Menschen Stimme als wirksames Mittel gebraucht, um durch dessen Dienst Glauben in uns zu schaffen. Dabei müssen wir merken, dass nur Gottes Lehre Glauben begründet. Denn Paulus sagt nicht, dass aus jeglicher Lehre Glaube erwächst, sondern beschränkt seine Aussage ausdrücklich auf das Wort Gottes. Diese Einschränkung wäre ja überflüssig, wenn der Glaube auf Menschenfündlein ausruhen könnte. Wenn wir Gewissheit des Glaubens suchen, müssen wir alle Menschengedichte fahren lassen.

18 Ich sage aber: Haben sie es nicht gehört? Wohl, es ist ja in alle Lande ausgegangen ihr Schall und in alle Welt ihre Worte. 19 Ich sage aber: Hat es Israel nicht erkannt? Aufs erste spricht Mose: „Ich will euch eifern machen über dem, das nicht ein Volk ist; und über ein unverständiges Volk will ich euch erzürnen.“ 20 Jesaja aber darf wohl sagen: „Ich bin gefunden von denen, die mich nicht gesucht haben, und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben.“ 21 Zu Israel aber spricht er: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht.“

V. 18. Ich sage aber: Haben sie es nicht gehört? Da die Menschen die Gotteserkenntnis, welche sie zur Anrufung des göttlichen Namens treibt, aus der Predigt empfangen, so blieb noch die Frage zu erörtern, ob denn nicht den Heiden nach Gottes Absicht längst eine Kunde von Gottes Wahrheit zuteil geworden wäre. Dass Paulus mit seiner eignen Predigt sich so plötzlich an die Heiden gewendet, schien ja vielen eine höchst anstößige Neuerung. Also wirft er die Frage auf, ob Gott nicht längst den Heiden sein Wort gesandt habe und somit ein Lehrer der ganzen Welt geworden sei. Denn allerdings ist es die Meinung des Apostels, dass Gottes Schule allen Völkern offen steht, und dass der Herr überall seine Jünger sammeln will. Zum Beweise dessen führt er ein Wort aus Ps. 19, 5 an. Dieses redet freilich im Zusammenhang des Psalms nicht von der apostolischen Predigt und darf auch unmöglich vermittelst einer gewaltsamen Allegorie auf dieselbe gedeutet werden. Die Knechte Gottes standen der Heiligen Schrift mit solcher Ehrfurcht gegenüber, dass sie dieselbe nicht willkürlich verdrehten, wie es ihnen gerade in den Sinn kam. Auch an unserer Stelle kann ich dem Apostel einen solchen Missbrauch nicht zutrauen. Ich nehme also an, dass er das beigebrachte Schriftwort in seinem wirklichen Sinn verstehen wollte. Dann ist sein Gedanke der folgende: Gott hat bereits von Anbeginn der Welt den Völkern sein göttliches Wesen geoffenbart, wenn auch nicht durch die Predigt der Menschen, so doch durch das Zeugnis seiner Kreaturen. Schwieg damals unter den Völkern die Stimme des Evangeliums, so redete doch der Wunderbau des Himmels und der Erde und pries seinen Schöpfer. So sehen wir, dass der Herr auch in den Zeiten, da er die Gnadenstiftung seines Bundes in den Grenzen Israels beschlossen hielt, den Heiden doch die Erkenntnis seines Wesens nicht derartig entzogen hat, dass nicht wenigstens ein Fünklein davon geglimmt hätte. Im eigentlichen Sinn hat ja Gott sich gewiss nur seinem auserwählten Volk offenbart: die Juden waren gleichsam Gottes Hausgenossen, zu welchen sein Mund aus vertrauter Nähe redete. Weil aber auch die Heiden die Stimme der Himmel aus der Ferne vernahmen, so wollte Gott dadurch wie mit einem Vorspiel zeigen, dass auch ihnen eine völligere Offenbarung zugedacht war.

V. 19. Ich sage aber: Hat es Israel nicht erkannt? Nach den letzten Ausführungen ergab sich die Frage folgendermaßen: Paulus hatte dargelegt, dass man die Heiden nicht von der Offenbarung Gottes ausschließen dürfe, da sich ihnen Gott schon von Anbeginn, wenn auch dunkel und noch verhüllt, kundgetan oder ihnen wenigstens einen Geschmack von seiner Wahrheit gegeben hat. Was musste man dann aber von Israel sagen, welches ein viel helleres Licht der Lehre empfangen hatte? Wie kommt es, dass ferne und fremde Menschen zum Licht eilen, das ihnen nur von weiter Ferne gezeigt ward, während Abrahams heiliges Geschlecht das Heil verwarf, welches ihm ganz nahe gebracht ward? Denn es galt doch Israels Auszeichnung (5. Mose 4, 7.8): „Wo ist so ein herrlich Volk, zu dem Götter also nach sich tun als der Herr, dein Gott, heute zu dir sich herabneigt?“ So muss der Apostel mit gutem Grund fragen, weshalb denn der Unterricht im Gesetz, den Israel empfangen hatte, nicht eine wahre Erkenntnis mit sich brachte. Aufs erste spricht Mose usw. Mose muss Zeugnis dafür geben, dass es nicht überraschen darf, wenn Gott den Heiden vor Israel den Vorzug gab. Der Spruch stammt aus jenem berühmten Liede, in welchem Gott den Juden ihre Untreue vorwirft und ihnen als Strafe ankündigt, dass er sie zur Eifersucht reizen will, indem er die Heiden in seinen Bund aufnimmt. Denn Israel war zu selbst gemachten Göttern abgefallen. So ruft Gott ihnen zu: Ihr habt mich verachtet und verworfen, habt meine Ehre den Götzen gegeben -, so will ich mich dafür rächen, will an eurer Statt Heiden berufen und ihnen übertragen, was ich zuvor euch gegeben habe. Dies geht natürlich, dass der Herr sein Volk Israel verwirft. Daher kommt dann die Eifersucht, von welcher Mose spricht: der Grund besteht darin, dass Gott zu seinem Volk gemacht hat, das nicht sein Volk war, dass er ein neues Volk sich aus dem Nichts erweckt hat, welches nun den Platz einnimmt, von welchem Israel verstoßen ward -, ganz ebenso, wie die Juden den wahren Gott verlassen und sich andern Göttern hingegeben hatten. Dass aber gerade zur Zeit der Ankunft Christi die Juden nicht solch grobem und äußerlichem Götzendienst abgefallen waren, gereicht ihnen nicht zur Entschuldigung: denn sie haben den Dienst Gottes mit ihren selbst erwählten Werken verunreinigt, ja sie haben endlich Gott den Vater, der sich ihnen in seinem eingeborenen Sohne anbot, verworfen und damit der denkbar schlimmsten Gottlosigkeit sich schuldig gemacht.

V. 20. Jesaja aber darf wohl sagen usw. Die folgenden Weissagungen lauten noch klarer. Darum macht der Apostel ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Jesaja so kühn und frei reden darf: der Prophet führt keine bildliche und verhüllte Sprache, sondern verkündet rückhaltlos und deutlich, dass die Heiden berufen werden sollen. Was Paulus in zwei getrennten Sprüchen gibt, bildet bei Jesaja einen lückenlosen Zusammenhang (Jes. 65, 1.2). Gott verkündigt, es werde die Zeit kommen, da er seine Gnade werde zu den Heiden kehren. Und er sagt sofort, weshalb es so kommen muss: Gott ist es müde geworden, den unerträglichen, unaufhörlichen Widerspruch Israels weiter zu ertragen. Darum spricht er: die früher nach mir nicht gefragt und meinen Namen verachtet haben, haben mich jetzt gesucht. Diese Vergangenheitsform weist freilich in die Zukunft, aber sie ist gewählt, um auszudrücken, dass die Weissagung schon so gut wie geschehen, also völlig unumstößlich sei. Die mich nicht gesucht haben, haben erreicht, was sie selbst nicht hofften und wünschten: sie haben mich gefunden. Allerdings weiß ich, dass manche Rabbiner diese ganze Prophetenstelle dahin verdrehen, als stünde hier eine Verheißung Gottes, dass Israel noch aus seinem Abfall umkehren würde. Dass aber von Leuten die Rede ist, die nicht aus Israel stammten, beweist die Fortsetzung (Jes. 65, 1): Ich will mich finden lassen von einem Volke, in welchem mein Name nicht angerufen ward. Der Prophet weissagt also ohne Zweifel, dass in Gottes Hausgenossenschaft neu aufgenommen werden sollen, die sonst nicht dazu gehörten. Diese Berufung der Heiden ist ein Vorbild für die Berufung aller Gläubigen. Ist doch niemand, welcher der Gnade Gottes zuvorkäme. Wir alle ohne Ausnahme werden durch sein freies Erbarmen aus dem tiefsten Abgrund des Todes gerissen, wo keine Erkenntnis Gottes war, keine Absicht, ihm zu dienen, überhaupt kein Gefühl für seine Wahrheit.

V. 21. Zu Israel aber spricht er usw. Gott sagt, er habe zu Israel seine Hände ausgestreckt, denn er hat es fortwährend mit seinem Worte zu sich geladen und hat nie aufgehört, es mit allerlei Wohltaten zu sich zu locken. Dies sind ja die beiden Mittel, die Gott überall gebraucht, um Menschen zu sich zu rufen und ihnen seine Güte zu beweisen. Insbesondere aber denkt der Prophetenspruch an die göttliche Lehre, welche Israel verachtet hat. Diese Verachtung ist umso abscheulicher, je herrlicher die väterliche Fürsorge des Gottes sich offenbarte, der die Menschen zu sich einlud. Dass dieser Gott die Hände ausbreitet, ist eine sehr nachdrückliche Redeweise: denn wenn Gott durch das Wort seiner Diener unsere Seligkeit schaffen will, so streckt er uns damit nicht weniger die Hände entgegen, als wenn ein Vater seinen Sohn liebevoll in seinen Schoß ziehen will und ihn mit den Armen umfängt. Dabei heißt es „den ganzen Tag“, genauer vielleicht noch: „täglich“. So kann man sich nicht wundern, wenn Gott endlich müde wird, Gutes zu tun, da selbst anhaltende Güte nichts ausrichtet (vgl. auch Jer. 7, 13; 11, 7). Den Unglauben des Volkes beschreiben zwei Worte: nämlich erstens: das Volk lässt sich nichts sagen -, es leistet beharrlichen Widerstand. Dann aber zweitens: es widerspricht sogar und verachtet die Mahnungen der heiligen Propheten geflissentlich in zügellosem Übermut und mit einem rebellischen und verbitterten Geiste.

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