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Calvin, Jean - Psalm 91

Calvin, Jean - Psalm 91

1 Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, wird unter dem Schatten des Allmächtigen bleiben.
2 Ich will zu dem Herrn sprechen: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.

Der Psalm lehrt, dass das Heil der Frommen dem Herrn am Herzen liegt, der sie in Gefahren nie verlässt. Darum ermahnt er die Gläubigen, im Vertrauen auf seinen Schutz wohlgemut durch alle Gefahren zu gehen. Das ist eine überaus nützliche Belehrung; denn es redet zwar jedermann von Gottes Vorsehung und bekennt ihn als Hüter der Gläubigen, aber unter hundert legt kaum einer sein Wohlergehen in Gottes treue Hand.

Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt usw. Die hebräischen Ausleger lesen die drei ersten Verse als einen zusammenhängenden Satz, und zwar folgendermaßen: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, zu dem werde ich sprechen von dem Herrn, dass er seine Zuversicht und seine Burg ist, der Gott, auf den er hoffen kann: denn er wird ihn erretten vom Strick“ usw. Aber das ist offensichtlich gezwungen. Allerdings stützt sich diese Auslegung auf einen Scheingrund, indem man darauf hinweist, dass bei unsrer Übersetzung des ersten Verses der Nachsatz in sinnloser Weise den Vordersatz einfach wiederhole, aber das ist ein Irrtum. Denn der Dichter, wer er auch sei, spricht von zwei verschiedenen Dingen, in folgendem Sinne: Wer unter Gottes Schirm sich bergen darf, ist keinem Wurfgeschoss ausgesetzt, sondern wohnt in sicherem, ungestörtem Ort. Er wird spüren, was Gottes Schutz vermag. Während die meisten Menschen sich allerlei Schlupfwinkel suchen und in demselben Maße, als sie sich von Übeln umringt sehen, hierhin und dorthin ausschauen, lehrt uns der Dichter, dass allein in Gottes Schutz die sichere und unüberwindliche Burg der Rettung zu finden ist. So stellt er gegen alle in der Regel täuschenden Hoffnungen die Sicherheit der Leute, die sich auf Gott stützen. Eben diesen Gedanken bekräftigt er im zweiten Verse, wobei er zugleich ersehen lässt, dass er aus eigener Empfindung und aus Erfahrung des Glaubens redet, was ja bei einem Lehrer ein Haupterfordernis ist. Denn erst das ist die wahre Erkenntnis, die wir andern überliefern dürfen, die wir nicht bloß mit den Lippen vortragen, sondern auf Grund einer Offenbarung Gottes aus innerstem Herzen schöpfen. Darum bezeugt der Prophet, dass aus innerster Ergriffenheit hervorging, was er soeben vortrug. Er sagt nicht einfach aus, dass Gott seine Burg ist, sondern redet im Vertrauen auf seine Verheißungen den Herrn ganz persönlich an: Ich will zu dem Herrn sprechen: Meine Zuversicht usw. Dies zuversichtliche Gebet zeigt besonders kräftig, wie sicher man unter Gottes Schatten wohnt. Denn dies heilige Rühmen stellt den höchsten Triumph des Glaubens dar, indem wir ohne Furcht zu Gott fliehen, was auch kommen möge, und fest überzeugt sind, dass nicht bloß unsre Bitten bei ihm Erhörung finden, sondern auch genug und übergenug Hilfe für uns in seiner Hand liegt.

3 Denn Er errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz.
4 Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild.

Der dritte Vers aber prägt ein, dass die Hoffnung, von der die Rede war, nicht trügerisch und vergeblich sein wird, weil Gott sich allezeit als Retter der Seinen erweist. Ohne Zweifel will sich der Dichter zu guter Hoffnung ermuntern, indem er die Rede an sich selbst richtet:

Er rettet dich. Manche Ausleger unterscheiden den Strick des Jägers von der Pestilenz wie das verborgene Übel von dem offenbaren. Sie lassen den Propheten etwa sagen: Mag uns Satan mit verborgenen Künsten aus dem Hinterhalt angreifen oder in offenem Krieg befehden, so wird Gottes Hilfe bereitstehen. Mir missfällt diese Deutung nicht. Immerhin darf man die Worte auch einfacher verstehen, wobei es doch immer wahrscheinlich bleibt, dass ein Hinweis auf mancherlei Übel vorliegt. Wir sollen eben wissen, dass gegen allerlei Gefahren Gott uns zu Hilfe kommt.

Er wird dich mit seinen Fittichen decken. Dies Bild, dessen sich die Schrift auch sonst bedient, schildert die wunderbare Fürsorge Gottes für unser Heil besonders schön. Betrachtet man Gottes Majestät an sich, so findet man gewiss nichts, das ihn einer Henne oder sonst einem Vogel ähnlich erscheinen ließe, der seine Flügel ausbreiten muss, um seine Jungen zu schützen. Um aber unsrer Schwachheit entgegenzukommen, steigt er unbedenklich gleichsam von seiner himmlischen Herrlichkeit herab und ladet uns unter dem Bilde einer Henne schmeichelnd zu sich ein. Wenn er so freundlich sich herablässt, gibt es nichts, was uns hindern dürfte, in vertrauter Weise ihm zu nahen.

Dass Gottes Wahrheit unser Schirm und Schild ist, deutet auf seine Treue und Zuverlässigkeit, kraft deren er die Seinen nie verlässt, wenn sie seiner bedürfen. Ohne Zweifel denkt der Prophet dabei an Gottes Verheißungen, ohne welche niemand wagen würde, sich in Gottes Schoß zu werfen. Weil wir ohne Wort die Güte Gottes nicht schmecken können, werden wir daran erinnert, dass er selbst als Zeuge für dieselbe aufgetreten ist. Wie nun der Herr zuvor mit einer Burg verglichen wurde, in welcher sicher und geborgen sind, die in ihm ausruhen, so wird er jetzt als ein Schild dargestellt, welcher sich zwischen uns und jeden Angriff schiebt.

5 Du wirst nicht erschrecken vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen,
6 vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbet.

Du wirst nicht erschrecken usw. Der Prophet führt weiter aus, was wir schon kurz zuvor hörten, dass Satan uns von allen Seiten belästigen und mit allerlei Geschossen angreifen möge, - wenn wir uns allein mit dem Schutz Gottes begnügen, wird es uns nichts schaden. Es ist wertvoll sich einzuprägen: wen Gott in seinen Schutz genommen, der ist von allen Seiten völlig verwahrt. Hätten wir selbst das schwierige Ziel erreicht und den hohen Fortschritt gemacht, Gott als unsern Befreier völlig zu umfangen, so schleicht sich doch nur zu leicht der Zweifel und in seinem Gefolge die Unruhe und Angst ein, wenn so oft unser Leben vom Tod und allerlei Schädlichkeiten umlagert wird. Darum zählt der Prophet mit gutem Grunde verschiedene Arten von Übeln auf, damit die Gläubigen auf mehr als eine Rettung hoffen lernen und zahllosen Anfechtungen tapferen Widerstand leisten.

An das Grauen der Nacht erinnert er, weil in der Finsternis die Menschen sich fürchten und in der Nacht besondere Gefahren drohen: erhebt sich ein Geräusch, so schwillt die eingebildete Furcht. Die Pfeile, die des Tages fliegen, hebt der Prophet meines Erachtens heraus, weil sie weiter reichen als andere Geschosse und man ihnen wegen ihrer Schnelligkeit nicht leicht ausweichen kann.

Der nächste Vers führt mit andern Worten weiter aus, dass es keine Art von Übel gibt, die Gott nicht mit dem Schild seiner Hilfe zurücktriebe.

7 Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.
8 Ja, du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen, und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird.

Ob tausend fallen zu deiner Seite usw. Der Dichter verfolgt den gleichen Gedanken weiter: scheinen auch alle Sterblichen sich in gleicher Lage zu befinden, so werden doch die Gläubigen durch besondere Gnadenführungen den drohenden Übeln entnommen, die schon auf ihr Haupt zu fallen schienen. Sonst müssten sie ja alsbald denken: Wie, bist nicht auch du ein Glied des Menschenvolks, dessen Leben von tausend Todesgefahren umgeben wird? Diesem Zweifel will der Prophet begegnen, indem er ausdrücklich erinnert, dass Gott eine besondere Fürsorge seinen Knechten zuwendet, so dass sie nicht mit dem allgemeinen Schwarm untergehen, selbst wenn die ganze Welt in Trümmern durcheinander fiele.

Eine sehr nötige Erinnerung, die uns in allen Gefahren sicher macht; sind wir auch von Natur den allgemeinen Mühsalen unterworfen, so hebt uns doch eine besondere Gnadenführung darüber hinaus.

Der nächste Vers prägt ein, dass uns die Erfahrung dies lehren wird: die Gläubigen werden es tatsächlich fühlen und gleichsam mit Augen sehen, dass ihr Heil in Gottes Hand liegt. Ein weiterer Beweis muss diese Wahrheit bekräftigen: Gott, der gerechte Richter der Welt, wird die Seinen dadurch schützen, dass er über die Gottlosen und Verworfenen das verdiente Verderben verhängt. So werden die Gläubigen in dem verworrensten Dunkel dieser Welt Gottes Gerichte erkennen und daraus den Schluss ziehen, dass sie nicht vergebens auf ihn gehofft haben. Angeredet werden aber Leute, die Augen haben und mit dem wahren Licht des Glaubens begabt sind, die sich auch Mühe geben, ernstlich nach Gottes Gericht auszuschauen, die endlich geduldig und schweigend die rechte Zeit erwarten: denn die meisten Menschen wollen das Gericht überstürzt sehen und verwirren sich in ihrer Eile, so dass ihr fleischlicher Sinn gegen Gottes Vorsehungswalten blind wird. Außerdem müssen wir uns damit begnügen, dass Gott seine Gerichte zum größeren Teil bis auf den Tag seiner vollen Offenbarung aufschiebt und uns jetzt nur ein weniges davon schmecken lässt.

9 Denn du, Herr, bist meine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht.
10 Es wird dir kein Übels begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.

Denn du, Herr, bist meine Zuversicht. Der Prophet ist unerschöpflich im Lobe der Vorsehung Gottes, weil die Menschen schwerfällig sind und vieler Antriebe bedürfen, damit sie weltliche Stützen fahren lassen, an die sich zu klammern pflegen, und sich ganz dem Herrn ergeben. Wie es die Art des Dichters im ganzen Psalm ist, die Personen zu wechseln, so redet er in diesem Verse zuerst Gott an, um dann die Rede wieder an sich selbst zu richten. Indem er den Herrn seine Zuversicht nennt, will er durch sein Beispiel die anderen Gläubigen umso kräftiger zu ihm ziehen. Dies ist auch der Grund, weshalb er darauf mit sich selbst redet: er will es dadurch glaubhafter machen, dass er innerlich tief ergriffen ist. Denn dies erst ist die wahre Bewährung des Glaubens, dass ein Mensch sich völlig sammelt und ohne Zeugen seine Gesinnung prüft: wo wir uns nicht allein vor Gott stellen, sondern die Augen auf Menschen abschweifen lassen, muss sich beinahe unvermeidlich ein ehrgeiziges Streben in den Glauben mischen. Weiter heißt es, dass Gott unsre Zuflucht oder Wohnstätte ist (vgl. Ps. 90, 1), weil er uns nach allen Seiten gegen jeglichen Schaden deckt. So könnte man unsern und den nächsten Vers als einen zusammenhängenden Satz lesen: Weil der Herr deine Zuversicht und Zuflucht ist, wird dir kein Übels begegnen. Kann doch das Übel nur dadurch von uns abgelenkt werden, dass wir uns unter Gottes Schutz sicher bergen. Allerdings ist es richtig, dass auch den Gläubigen viele Widrigkeiten zustoßen; aber der Prophet will sagen, dass Gottes Hand sie gegen derartig gewaltsame Angriffe deckt, die sie völlig vernichten müssten. Darauf lässt er diese Behütung auch auf die Hütte, d. h. das ganze Haus, des Frommen, sich erstrecken: wissen wir doch, dass Gott in die väterliche Gunst, deren er seine Knechte würdigt, auch deren Kinder einschließt. Doch lässt sich die Aussage auch einfach so deuten, dass Leute, die den Herrn zu ihrer Wohnstätte erwählen, auch in ihren Wohnungen sicher hausen dürfen.

11 Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,

Denn er hat seinen Engeln usw. Dies fügt der Prophet ausdrücklich hinzu, um unsrer Schwachheit zu begegnen. Wir sehen daraus, wie freundlich der Herr sich zu uns herablässt, indem er die Sünde unseres Unglaubens nicht nur vergibt, sondern uns auch ein Heilmittel dagegen bietet. Wenn er verheißt, uns eine Burg und ein Schild zu sein, wenn er den Schatten seiner Hand uns anbietet, wenn er sich eine Zuflucht nennt und seine Flügel ausbreitet, um uns zu schützen, - wären wir dann nicht mehr als undankbar, wollten wir uns an so vielen und so klaren Verheißungen nicht genügen lassen? Schreckt uns seine Majestät, so vergleicht er sich mit einer Henne, zittern wir vor der Feinde Macht, oder bringt uns eine Fülle von Gefahren außer Atem, so tritt er auf mit seiner unbesiegten Kraft, die alle anstürmenden Gefahren aufzehrt. Aber nachdem er versucht hat, uns auf so mancherlei Weise zu sich zu locken, sieht er, dass wir bisher nur müde und zögernd uns nahen; darum fügt er, als könnten wir uns mit ihm allein nicht begnügen, auch noch die Engel hinzu und bietet sie uns als Hüter unseres Heils an. Welch unvergleichliches Zeugnis seiner Herablassung! Um unser Misstrauen zu überwinden erklärt er uns, dass er mit starken Heeren gerüstet ist, uns zu schützen. Er gibt nicht bloß jedem Menschen etwa einen Engel, sondern befiehlt seinen himmlischen Heeren, für das Heil jedes einzelnen Gläubigen zu wachen. Denn der Prophet redet jeden einzelnen Gläubigen an: über dir, - wie wir auch im 34. Psalm (V. 8) hörten, dass sich die Engel des Herrn um die lagern, die ihn fürchten. Daraus ergibt sich, dass es eine falsche Einbildung ist, einem jeglichen nur einen Engel zuzuschreiben. Und es liegt viel daran, dies festzuhalten: wie uns ein Kampf mit vielen Feinden verordnet ist, so sind uns auch viele Hüter gesetzt. Es wäre schon etwas, wenn Gott mir einen einzigen Schutzengel gegeben hätte; aber noch viel gewichtiger ist die Verheißung, wenn ich vernehmen darf, dass vielen Engeln die Sorge für mein Heil anbefohlen ward, wie denn Elisa in dieser Zuversicht ungeheure Feindesscharen für nichts achtete (2. Kön. 6, 16). Dagegen streiten auch nicht solche Schriftstellen (z. B. Matth. 18, 10), welche die Aufgaben der Engel derartig zu verteilen scheinen, als wären sie einzelnen Menschen beigegeben. Denn ohne Zweifel wirkt Gott durch die Engel in verschiedener Weise: zuweilen bestimmt er einen für mehrere Völker, dann wieder mehrere für einen einzigen Menschen. Wie sie aber in der Sorge für unser Heil zusammenwirken, brauchen wir nicht allzu peinlich zu untersuchen. Wir wollen mit der Belehrung des Apostels (Hebr. 1, 14) zufrieden sein, dass sie als für uns bestimmte dienstbare Geister unermüdlich ihr Amt versehen. Wenn es anderwärts heißt (Ps. 103, 20 f.), dass sie bereitstehen, Gottes Befehle auszurichten, so kann auch dies unsern Glauben stärken: denn Gott gebraucht ihren Dienst zu unserm Schutz. Obwohl nun der Prophet an die einzelnen Glieder der Gottesgemeinde denkt, so hat der Teufel diesen Satz doch nicht ohne Grund auf Christi Person angewendet (Matth. 4, 6). Denn wenn er auch immer darauf ausgeht, Gottes Wahrheit zu verkehren und zu verderben, so braucht er doch bei solchen Hauptgrundsätzen eine besondere Kunst und zeigt sich als einen sehr scharfsinnigen Theologen. In der Tat: da Adams ganzes Geschlecht aus Gottes Reich vertrieben ward, haben wir keine Gemeinschaft mit den Engeln, und sie haben mit uns nichts zu schaffen.

Es ist also allein Christus, der den Zwiespalt aufhebt und uns die Engel zu Freunden macht, wie es ja sein Amt ist (Eph. 1, 10), alles zusammenzufassen, was im Himmel und auf Erden zerrissen war. Dies wurde dem heiligen Erzvater Jakob unter dem Bilde der Himmelsleiter gezeigt (1. Mos. 28, 12). Und weil wir durch Christus mit den Engeln zu einem Leibe zusammenwachsen, hat er selbst gesagt (Joh. 1, 51): „Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab steigen.“ Wir sehen also, dass es im eigentlichen Sinne von dem Haupte gilt, was durch seine Wohltat sich dann auch auf alle Glieder erstreckt.

Weiter sagt der Prophet ganz trefflich in der Mehrzahl: Die Engel werden dich behüten auf allen deinen Wegen, womit er sehr eindrücklich lehrt, dass die Engel immer unsere Führer sein werden, wohin wir auch gehen müssen. Wir sehen ja, wie gewunden und viel verschlungen der Lauf unsres Lebens ist, wie immer neue Ungewitter uns hierhin und dorthin treiben. So mussten für jede Tat und jede Entschließung die Engel ausdrücklich zu unseren Führern gemacht werden, damit wir wissen: sie gehen uns voran, ob uns die Notwendigkeit zur Rechten oder zur Linken treibe. Dabei ist es wahrscheinlich, dass der Hinweis auf unsre Wege uns zur Bescheidenheit anleiten will; wir sollen nicht durch einen überstürzten Wurf den Herrn versuchen, sondern uns in den Schranken unserer Berufung halten. Wollte jemand tollkühn springen und mehr angreifen, als Gott ihm erlaubt, um gewissermaßen wider Gottes Willen über die Wolken zu fliegen, so dürfte er sich nicht versprechen, dass die Engel ihm bei dieser Tollkühnheit beistehen würden. So scheint der Satan dies kleine Wort in seiner List unterschlagen zu haben, als er Christus treiben wollte, sich tollkühn herabzulassen.

12 dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößest.

Dass sie dich auf den Händen tragen usw. Dieser Satz steigert noch, was soeben vom Schutz der Engel gesagt ward; sie wachen nicht nur gegen jede Gefahr und stehen zur Hilfe bereit, sondern stützen uns auch bei jedem Schritt mit ihren Händen, damit wir ohne Anstoß unsre Straße ziehen können. Allerdings sieht man nichts davon, dass die Gläubigen in die Lüfte gehoben werden; sie müssen vielmehr oft keuchend und müde sich auf dem Wege dahinschleppen, stoßen sich und gleiten oft. Aber weil sie in ihrer großen Schwachheit in jedem Augenblick nicht bloß fallen, sondern ganz vergehen müssten, wenn nicht Gott sie wunderbar stützte, so rühmt der Prophet mit Recht die Erleichterung, die ihnen durch Engeldienst zuteil wird. Hielte Gott uns nicht aufrecht, so wären wir zudem den besonders schroffen Hindernissen, die Satan uns in den Weg wirft, nicht im Entferntesten gewachsen. Da steht auf der einen Seite unsre gebrechliche Schwachheit, auf der andern die Dornen, Glätten, Klüfte, Rauheiten und Engpässe des Weges, dazu auf der einen Seite unsre Geistesstumpfheit, auf der andern Satans Schlauheit, die uns allerlei Fallen legt; wer dies miteinander vergleicht, wird hier nicht einen überschwänglichen Lobspruch finden, sondern zugeben, dass wir nicht drei Schritte vorankommen könnten, wenn uns nicht über alle natürliche Kraft die Engel gleichsam in der Luft trügen. Dass wir aber oft uns stoßen, verschulden wir selbst, weil uns von unsrem Haupte trennen. Gott will uns von unsrer Schwachheit überführen, wenn wir straucheln und fallen; da er uns aber nicht ganz zusammenbrechen lässt, ist es, als trüge er uns mit seiner Hand.

13 Auf Löwen und Ottern wirst du gehen, und treten auf junge Löwen und Drachen.
14 „Er begehret mein, so will ich ihm aushelfen; er kennet meinen Namen, darum will ich ihn schützen.

Auf Löwen und Ottern wirst du gehen. Der gleiche Gedanke wird mit andern Worten fortgesetzt. Wurden zuvor alle Hindernisse, mit denen Satan unsern Heilsweg abzubrechen strebt, als Steine dargestellt, so deuten jetzt Löwen, Ottern, junge Löwen und Drachen auf todbringende Zufälle, denen wir in der Welt ausgesetzt sind. Sicherlich müssen wir auf Erden unsern Weg zwischen wilden Tieren und giftigen Geschöpfen gehen. Was sollte aus uns werden, wenn Gott uns nicht den Sieg verhieße gegen soviel Schädigungen, die uns unablässig drohen? Wer also seine Anfechtungen überrechnet, wird diese Worte, mit welchen der Prophet die Gläubigen über Zittern und Furcht erheben will, nicht für überschwänglich ansehen, zumal ihnen der Erfolg entspricht. Solange wir fern vom Schuss sind, dünken wir uns tapfer; sobald aber die geringste Unruhe kommt, sehen wir Löwen und Drachen und glauben schon zur Schlachtbank geführt zu werden. Der Prophet hat also seine Rede der Empfindung unsres Fleisches angepasst. Die einzelnen Worte mag man so unterscheiden, dass man bei den Löwen an offenbare und gewaltsame Unglücksfälle, bei den Ottern und Drachen an verborgene Schädigungen denkt, die uns unvermutet und gleichsam aus dem Hinterhalt eines Schlangenwinkels überfallen.

Er begehret mein. Vielleicht verdrießt es uns, dass der Prophet immer wieder das Gleiche sagt. Aber wir wollen bedenken, dass er dies aus Fürsorge für unsre Schwachheit tut; denn sobald irgendeine Gefahr sich zeigt, kommt unser Glaube an Gottes Vorsehung ins Wanken. Darum wird auch jetzt Gott selbst redend eingeführt, damit er persönlich bekräftige, was der Psalm bisher lehrte. Indem nun Gott vom Himmel her verkündigt, dass wir unter dem Schatten seiner Flügel geborgen sein sollen, fordert er von den Seinen lediglich, dass sie auf ihn hoffen. Denn das Wort, das wir mit „begehren“ übersetzen, bezeichnet eigentlich die liebende Sehnsucht, mit der jemand sich nach seinem Geliebten ausstreckt, beschreibt also unser friedliches Ausruhen bei Gott und den Genuss seiner Gnade. Er verheißt, mit seiner Hilfe für uns bereitstehen zu wollen, wenn wir ihn von Herzen suchen. Hilft er nun auch oft ungläubigen Menschen, so reicht er doch nur den Gläubigen seine Hand in einer solchen Weise, dass sie wirklich und dauernd gerettet werden. An die Hoffnung und die Sehnsucht nach Gott schließt sich sehr passend: er kennet meinen Namen. Denn dass die Menschen hierhin und dorthin ausschauen und durch zitternde Furcht sich umtreiben lassen, kommt nur daher, dass sie Gottes Kraft nicht kennen. Oft haben sie sogar keine Ahnung und Empfindung davon, was Gott ist, weil sie an seine Stelle ein totes Gebilde setzen. Weil also allein die wahre Erkenntnis des göttlichen Namens Zuversicht und Anrufung gebiert, und weil nur von denen entschieden gesucht wird, die im Vertrauen auf seine Verheißungen ihm die volle Ehre geben, so bezeichnet der Prophet richtig und treffend diese Erkenntnis als den Quell der Hoffnung.

Ich will ihn schützen; buchstäblich: „erhöhen“ oder „erheben“. Denn eben dadurch schützt Gott die Seinen wunderbar, dass er sie gleichsam in eine hochgelegene Burg empor führt.

15 Er rufet mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen;
16 ich will ihn sättigen mit langem Leben, \\und will ihm zeigen mein Heil.“

Er rufet mich an. Jetzt wird erklärt, was jenes Begehren nach Gott und jenes liebende Wohlgefallen an ihm bedeutet, von welchem die Rede war. Denn jene Liebe und Sehnsucht, die aus dem Glauben erwachsen, treiben uns, ihn anzurufen. Ein neuer Beweis für das, was ich schon früher andeutete, dass ein rechtes Beten sich auf Gottes Wort gründet; denn hier dürfen wir nichts nach eignem Gutdünken wagen, sondern müssen den Herrn dementsprechend suchen, wie er uns einlädt. So wollen wir aus dem Zusammenhang dieser Sätze lernen, dass der Glaube kein müßiges Ding ist, sondern daran als echt erprobt wird, dass man geradeswegs zu Gott flieht, wenn man von ihm Rettung erwartet. Zugleich müssen wir freilich lernen, dass die Gläubigen niemals von Sorgen und Beschwerden frei sein werden; denn Gott verheißt nicht, sie einen weichen und bequemen Weg zu führen, sondern ihnen in ihren Bedrängnissen zu helfen. Dass er sie zu Ehren bringen will, deutet darauf, dass seine Hilfe nicht bloß zeitlich ist, sondern sie bis zur völligen Glückseligkeit geleitet. Er schmückt sie freilich auch in dieser Welt und lässt an ihnen seine Herrlichkeit sehen; aber völligen Triumph gewährt er ihnen erst, wenn sie den Weg ihres Heils vollendet haben.

Ich will ihn sättigen mit langem Leben. Dies scheint unpassend geredet, weil ja sehr oft gläubige Leute besonders schnell die Welt verlassen müssen. Aber wenn auch Gottes Segnungen, welche dies hinfällige Leben betreffen, uns nicht immer und ununterbrochen zufließen, so bedeutet für die Gläubigen ein kurzes Leben jedenfalls eine tiefere Sättigung, als für die Ungläubigen zehn Jahrhunderte. So wird es keinem gottlosen Menschen gelten, dass er mit langem Leben gesättigt wird; denn auch, wenn er tausend Jahre lebt, wird er nicht satt; er schlingt sein Leben hinunter und kennt in keinem Augenblick den Genuss der Güte Gottes, welche allein die Seele still macht. Darum erteilt der Prophet nicht mit Unrecht den Gläubigen das unvergleichliche Vorrecht zu, mit ihrem Leben gesättigt zu werden; denn ihnen ist es genug und übergenug, den Lauf zu vollenden, zu dem sie berufen sind. Da nun die Ewigkeit viel mehr wert ist als langes Leben, auch das Heil Gottes durchaus nicht in die engen Schranken des Erdenlebens gebannt ist, so sollen auf diese Ewigkeit vornehmlich fromme Herzen im Leben und im Sterben gerichtet sein. Denn ausdrücklich zählt der letzte Schlusssatz zu allen Wohltaten Gottes auch diese auf: und will ihm zeigen mein Heil. Das erfüllt Gott, nachdem er die Gläubigen durch ihr ganzes Leben mit väterlicher Huld geleitet hat.

Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter

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