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Calvin, Jean - Psalm 86.

Calvin, Jean - Psalm 86.

Inhaltsangabe: Dieser Psalm enthält Bitten, unter welche fromme Betrachtungen, die zur Nahrung und Befestigung des Glaubens dienen, ferner Lobsprüche und Danksagungen gemischt sind. Weil nämlich, fleischlich geurteilt, der Ausgang aus den Nöten, von denen David bedrängt wurde, schwierig war, setzt er ihnen Gottes unermessliche Güte und Macht entgegen. Er bittet aber nicht nur um Befreiung von den Feinden, sondern auch darum, dass sein Herz zur Gottesfurcht zubereitet und darin beständig befestigt werde.

V. 1. Herr, neige deine Ohren. Obschon weder die Überschrift uns belehrt, noch aus dem Zusammenhang des Inhalts gewisser Aufschluss darüber zu holen ist, über welche Gefahren David hier klagt, so ist doch anzunehmen, dass er unter der Verfolgung durch Saul die Gedanken gehegt hat, die er hier später in Worte kleidete, als er dazu in Zeiten des Friedens bessere Gelegenheit fand. – Nicht ohne Grund legt er nun, um Gottes Gunst zu erlangen, ihm seine Leiden vor. Denn nichts liegt mehr in Gottes Art, als den Leidenden zu helfen und umso gütiger uns beizustehen, je härter wir bedrängt und je mehr wir von menschlicher Hilfe entblößt sind. Damit also in der tiefsten Trübsal die Verzweiflung uns nicht übermanne, möge uns das aufrechterhalten, dass den Armen und Elenden dieses Gebet vom heiligen Geist in den Mund gelegt wird.

V. 2. Bewahre meine Seele. Zwei weitere Beweggründe führt David an, die ihm Gottes Beistand verschaffen sollen, nämlich sein freundliches Verhalten gegen den Nächsten und sodann, dass er seine Hoffnung auf Gott gesetzt habe. Obschon es nun im ersten Versgliede den Anschein hat, als ob er sich selbst eine gewisse Würdigkeit beilege, so beweist doch das, was er vorbringt, nichts weniger, als dass er mit irgendwelchen Verdiensten den Herrn sich verpflichten wollte. Wenn er sagt: denn ich bin liebreich, so zielt das dahin, seine Feinde an den Pranger zu stellen, da sie einen unschuldigen und sogar verdienstvollen Mann so schmählich und unmenschlich quälten. Und weil Gott verheißt, er wolle ein Schutzherr sein, sowohl für die gerechte Sache als für unbescholtene Menschen, die sich der Gerechtigkeit befleißigen, so bezeugt David nicht ohne Veranlassung, dass er der Wohltätigkeit gepflegt habe. Es soll dadurch ans Licht kommen, welch ungerechten Lohn die Feinde ihm erstatten, da sie ohne Grund gegen ihn, den Barmherzigen, grausam sind. Weil es aber nicht genügt, in der Welt gerecht und menschenfreundlich zu wandeln, so fügt er bei: Hilf … deinen Knechte, der sich verlässt auf dich. Denn dieses Vertrauen ist die Mutter der Frömmigkeit. Bekanntlich hat es gewisse Leute gegeben, die von solcher Rechtschaffenheit waren, dass sie bei den Menschen im Ruhm der höchsten Gerechtigkeit standen, wie z. B. ein Aristides sich rühmen konnte, er habe keinem Menschen Leid verursacht. Aber weil jene Leute mit ihren vortrefflichen Tugenden bald von Ehrgeiz erfüllt, bald von Stolz aufgeblasen waren, so dass sie mehr auf sich als auf Gott vertrauten, so ist es nicht befremdlich, dass sie für ihre Eitelkeit gestraft wurden; wie wir denn, wenn wir die Weltgeschichte lesen, nicht die törichte Frage aufwerfen sollen, wie es komme, dass Gott anständige, würdige und sich selbst beherrschende Männer dem gottlosen Pöbel preisgab. In ihrem Vertrauen auf ihre eigene Tugend haben sie eben mit lästerlichem Stolz Gottes Gnade verachtet. Weil ihnen ihre Tugend zum Götzen geworden war, hielten sie es unter ihrer Würde, zu Gott aufzuschauen. Wenn wir also gleich ein gutes Gewissen und Gott zum Zeugen unserer Unschuld haben, so ist es doch nötig, unsere Hoffnungen und Sorgen auf ihn zu werfen, wenn wir wollen, dass er mit uns sei. Wenn jemand einwendet, auf diese Weise werden den Sündern die Hoffnung abgeschnitten, so antworte ich: Wenn Gott die Unschuldigen zu sich beruft, so weist er deshalb nicht alle die ab, die verschuldeterweise Schläge leiden. Es steht ihnen ja frei, Abbitte zu tun. Wenn uns übrigens Leute, die wir nie verletzt haben, ohne Recht zusetzen, so haben wir doppelte Ursache zu guter Zuversicht.

V. 3 u. 4. Herr, sei mir gnädig. Aufs Neue nimmt der Psalmist seine Zuflucht zu Gottes Gnade. Er deutet damit an, er bringe nichts von eigenem Verdienst mit, sondern bitte demütiglich Gottes reine Gnade um Errettung. Wenn er nun sagt: Ich rufe täglich, so zeugt das von der Hoffnung und dem Vertrauen, von dem wir soeben hörten. Das Rufen bezeichnet, wie wir schon öfter erinnerten, ein heftiges Bitten. Obschon nämlich die Frommen nicht immer mit vernehmbarer Stimme ihre Bitten äußern, so schreien sie doch im Herzen zu Gott, und ihre Seufzer dringen ebenso zum Himmel. Auch von seiner Beharrlichkeit im Gebet redet der Psalmist und lässt dadurch erkennen, dass er nicht gleich nach dem ersten oder zweiten Anlauf den Mut verloren, sondern mit unermüdlichem Eifer sein Bitten fortgesetzt habe.

Im folgenden Vers drückt er sich näher darüber aus, zu welchem Zweck er Gottes Gnade wünscht, nämlich um von seiner Traurigkeit los zu werden. Und im zweiten Versglied erklärt er, sein Schreien sei kein bloß eingebildetes, da er seine Seele zu Gott erhebe, - die beste Art zu beten!

V. 5. Denn du, Herr, bist gut. Mit dem Hinweis auf Gottes Wesen bestätigt er die ganze, vorhin dargelegte Lehre, weil die Elenden ja umsonst zu Gott fliehen und sich vergeblich mit ihren Bitten zum Himmel erheben würden, wenn sie nicht überzeugt sein dürften, dass er allen, die ihn anrufen, ein treuer Vergelter sei. Darum betont David nun eben dies, dass Gott wohltätig und für Bitten zugänglich sei, so dass er nach seiner großen Huld es nicht über sich bringe, die zurückzuweisen, die seine Hilfe erflehen. Der Ausdruck „gut“ wird durch „gnädig“ näher bestimmt. Denn Güte im allgemeinen Sinne würde nicht genügen, wenn Gott nicht auch den Sündern vergäbe. Diese Huld Gottes, deren Größer der Psalmist uns anpreist, bezieht er nun aber doch nur auf die Gläubigen, die Gott anrufen, damit wir erkennen, dass Leute, die Gott missachten und seiner Zucht trotzig widerstreben, verdientermaßen in ihrem Elend untergehen. Den Gläubigen aber gilt es allen, damit jeder ohne Ausnahme, vom Kleinsten bis zum Größten, es wage, sich zu Gottes Erbarmen zu halten.

V. 6 u. 7. Vernimm, Herr usw. Mit den wiederholten, inbrünstigen Bitten in diesem und dem folgenden Vers zeigt der Psalmist, dass sein Schmerz und auch seine Sorgen nicht geringfügig sind. Viel zu lau und lässig sind also die Menschen, welche gleich nach der ersten Bitte, wenn Gott sie nicht alsbald erhört, müde werden. Die Wiederholung der Bitten ist auch keine müßige, indem die Gläubigen dadurch ihre Sorgen, eine nach der anderen, von sich weg auf Gott legen, und vor Gott gilt solche Zudringlichkeit wie ein gutes Rauchopfer. Mit den Worten: In der Not rufe ich dich an; du wollest mich erhören, wendet der Psalmist das persönlich auf sich an, was er vorhin gesagt, dass Gott allen, die ihn anrufen, gütig und zugänglich sei.

V. 8. Herr, es ist dir keiner gleich. Entweder bricht hier der Psalmist in Danksagung aus, als hätte er bereits Erhörung erfahren, oder er holt sich Mut und neue Kraft zum Beten. Das Letztere ist vorzuziehen, wenn man nicht etwa beide Deutungen zugleich annehmen will. Unter den „Göttern“ verstehen manche die Engel, die David dann mit Gott, dem Höchsten, vergleichen würde. Das scheint mir aber an dieser Stelle nicht zutreffend. Er weist nicht den Engeln ihre Schranken an, dass sie, gewissermaßen als geringere Götter, der Kraft Gottes den Vorrang lassen müssen, sondern er spottet über alle die erfundenen Götter, von denen die Ungläubigen meinten, es sei irgendwelche Hilfe bei ihnen zu holen, und die doch nicht im Geringsten mit der Tat ihre Gottheit beweisen. Wenn er zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern nur einen gradweisen Unterschied größerer oder geringerer Tatkraft feststellte, so würde er dem Anspruch Gottes nicht gerecht werden. Er sagt also, dass bei ihnen in Wirklichkeit keine Spur von göttlichem Wesen zu merken sei. Und anstatt, wie manche Gelehrte, sich müßigen Spekulationen über Gottes verborgenes Wesen hinzugeben, legt er alles Gewicht auf den Tatbeweis der Herrlichkeit Gottes, an welchem jene vorübergehen. Mit unseren Sinnen erreichen wir ja Gottes Hoheit nicht. Darum begnügt sich David wohlweislich an Gottes Werken und sagt, das seien nur erdichtete Götter, die keine Kraft beweisen. Wenn jemand einwendet, es habe keinen Sinn, Gott mit Wahngebilden zu vergleichen, so ist das leicht zu beantworten: die Darlegung des Psalmisten passt sich der Unwissenheit des Volkes an. Ist es doch bekannt, wie keck die Abergläubischen ihre Hirngespinste in den Himmel erheben. Und trefflich macht David ihren Wahnwitz zuschanden, da sie sich Götter machen, von deren Dasein sie kein Zeugnis besitzen.

V. 9 u. 10. Alle Heiden usw. Wenn jemand die Tragweite dieser Worte auf die Lage des Psalmisten, also auf seine Rechtfertigung vor den Heiden beschränken will, so verwehre ich es ihm nicht. David erhebt ja in der Tat oft seine persönlichen Gnadenerfahrungen mit solchen Lobpreisungen. Es wird jedoch auch nicht falsch sein, die Stelle auf Gottes Macht überhaupt zu beziehen. Mag er aber von der ihm erwiesenen Gnade insbesondere oder von Gottes Werken im Allgemeinen reden, jedenfalls ist das festzuhalten, was wir anderswo gesagt haben, dass er, so oft er von den Heiden eine solche Glaubensübereinstimmung aussagt, das Reich Christi im Auge hat. Vor der Ankunft Christi hat Gott nur einige kleine Anfänge von Offenbarung seiner Herrlichkeit gespendet, die dann erst durch den Schall des Evangeliums über den ganzen Erdkreis ausgebreitet worden ist. Die künftige Berufung der Heiden war zwar David nicht verborgen. Aber unter den Juden war es neu und nicht leicht zu verkündigen, dass die Heiden kommen würden, um zugleich mit den Kindern Abrahams Gott zu dienen; und dass sie der himmlischen Lehre teilhaftig werden sollten, nachdem die Scheidewand gefallen sei. Deshalb fügt der Psalmist zur Beruhigung den Hinweis bei: „die du gemacht hast“. Man brauche also durchaus keinen Anstoß zu nehmen, wenn auch sie erleuchtet werden und ihren Schöpfer und Helfer endlich erkennen. Und nun wiederholt er denselben Erkenntnisgrund wie vorhin: dass du so groß bist und Wunder tust, was denn auch die rechte Weise, Gottesfurcht zu lernen, ist. Wohl möchte unser stolzer Fleischessinn immer wieder mit forschenden Gedanken zum Himmel vordringen; weil das aber für unsere schwachen Sinne zu schwer ist, so ist für uns nichts ersprießlicher, als nach dem Maß unserer kleinen Kräfte Gott in den Zeugnissen seiner Werke zu suchen. Lernen wir also unsere Sinne erwecken zur Erwägung von Gottes Werken! Die Stolzen aber überlassen wir ihren Irrwegen, die immer in einem Abgrund von Wirnissen endigen werden. Damit wir uns aber diese Selbstbescheidung nicht verdrießen lassen, preist David Gottes Werke, indem er sie „Wunder“ nennt, wenn sie auch bei blinden, unverständigen Leuten gering geachtet sind. Vor allem haben wir uns ernstlich die Grundwahrheit einzuprägen, dass göttliche Herrlichkeit nur dem einen Gott zukommt, indem anderswo weder Weisheit noch Macht noch Gerechtigkeit zu finden ist, dagegen aus seinen wundervollen Werken alles, was zum göttlichen Wesen gehört, hervorleuchtet.

V. 11. Weise mir deinen Weg. David strebt nun noch weiter aufwärts. Er wünscht vom Geiste heilsamer Erkenntnis zu einem heiligen Lebenswandel angeleitet und vom Geist der Kraft in diesem Bestreben gestärkt zu werden. Vom „Weg Gottes“ redet er im unausgesprochenen Gegensatz zu all denjenigen Entschlüssen, deren er auch von Fleischeswegen fähig wäre. Denn indem er sich dem Herrn unterwirft und seine Führung erbittet, bekennt er, dass ein richtiger Wandel nicht anders möglich ist, als wenn Gott uns vorangeht und wir ihm nachfolgen, dass hingegen Leute, die im Geringsten vom Gesetz abweichen und ihre Weisheit aus dem eigenen Kopfe schöpfen, auf Irrwege geraten. Zur Bestätigung dessen fährt er sogleich fort: dass ich wandle in deiner Wahrheit. Alle die, welche sich nicht an diese Richtschnur der Wahrheit halten, beschuldigt er also der Eitelkeit und Lüge. In den Wegen des Herrn wünscht er unterrichtet zu werden, nicht als ob er zuvor alle Unterweisung entbehrt hätte, sondern weil er wusste, dass er bisher in viel Unwissenheit befangen war, so trachtet er nach größeren Fortschritten in der Erkenntnis. Auch ist zu bemerken, dass er nicht nur von äußerlichem Unterricht redet, - er hatte ja das Gesetz zur Hand, - sondern er begehrt das innere Licht des heiligen Geistes, um nicht nutzlos sich mit Lernen von Worten abzumühen. Wie er an anderer Stelle (Ps. 119, 18) sagt: „Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz!“ Wenn nun ein so großer, mit dem Geiste so reichlich begabter Prophet doch seine Unwissenheit von Herzen bekennt, welch ein Unverstand gehört dann dazu, nicht zu merken, was uns fehlt, und durch die Erkenntnis unserer Dürftigkeit uns nicht zu weiterem Fortschritt aufmuntern zu lassen! Und gerade je mehr einer in der heilsamen Erkenntnis zunimmt, desto besser sieht er ein, wie weit er noch vom Ziele entfernt ist. Und ferner ist zu bemerken, dass Lesen und Hören allein nicht genügt; Gott muss uns innerlich durch seinen Geist erleuchten. Dazu bittet David, es möchte sein Herz zum Gehorsam gegen Gott herangebildet und darin beständig befestigt werden. Denn wie unser Verstand des Lichtes, so bedarf unser Wille der guten Richtung. Die Worte: Erhalte mein Herz bei dem Einigen usw. nehmen Bezug auf den Gegensatz zwischen dem ernstlichen Vorsatz, mit dem das Herz des Menschen unter der Leitung des Geistes Gottes anhängt – und der Unruhe, von der es umgetrieben, bald da, bald dorthin fortgerissen wird, so lange es zwischen seinen Neigungen hin und her schwankt. Nachdem also die Gläubigen das Gute erkannt haben, muss eine entschiedene Zustimmung dazu kommen, damit das Herz nicht in schlechte Begierden ausbreche. Denn es ist ein unruhiges Ding, bis Gott es an sich zieht und ihm eine feste und gleichmäßig gehorsame Haltung verleiht. Daraus wird uns auch klar, was der freie Wille aus sich vermag. Denn von beiden Fähigkeiten, aus denen er besteht, bekennt David, dass er ihrer ermangele: das Licht des heiligen Geistes stellt er der Blindheit seines Verstandes entgegen, und von der guten Richtung des Herzens versichert er, sie sei ein reines Gottesgeschenk.

V. 12 u. 13. Ich danke dir. David verspricht, dem Herrn dankbar sein zu wollen, nachdem er ihn auf jede Weise als väterlichen Wohltäter erfahren hatte. Und wie er gebeten hat, dass sein Herz auf das Eine gerichtet sein möge, Gott zu fürchten, so sagt er jetzt, dass er nicht nur mit dem Munde, sondern von ganzem Herzen sein Lob verkündigen werde, und das fortwährend. Das begründet er sodann damit, dass Gott ihn errettet und dadurch einen seltenen und denkwürdigen Beweis seines Erbarmens gegeben habe. Und um die Größe dieser Gnade anschaulich zu schildern, vergleicht er die gefährliche Lage, aus der er gerissen ward, mit „der tiefen Hölle“; mit andern Worten: er lag nicht nur in einfachem Tode, sondern war in die tiefste Todesstätte versenkt, so dass es nötig war, dass Gott in wunderbarer Weise die Hand nach ihm ausstreckte. Nun, nachdem wir durch die Gnade Christi aus dem noch tieferen Abgrund des Todes herausgerissen worden sind, ist es ein vollends unentschuldbarer Undank, wenn nicht ein jeder nach Kräften sich darin übt, diese Errettung zu preisen. Denn wenn David wegen einer kleinen Verlängerung seiner Lebensfrist Gottes „Namen“ so gepriesen hat, was für Lobeserhebungen verdient dann jene Erlösung ohnegleichen, durch die wir aus der Hölle in den Himmel versetzt worden sind!

V. 14 u. 15. Gott, es setzen sich die Stolzen wider mich. In derselben Bedeutung wie die „Stolzen“ wird gleich darauf „der Haufe der Gewalttätigen“ genannt, die mit heftiger Wut gegen ihn anstürmten, um ihn zu verderben. Wir wissen ja: Wo der Stolz regiert, da gibt es keine Zurückhaltung. Der Psalmist drückt hier ohne Bild dasselbe aus, was er vorhin mit der Hölle verglichen hat. Nämlich da er wie ein Lamm mitten unter den Wölfen war, wäre er bald verzehrt worden, wenn nicht Gott durch ein Wunder ihn sozusagen mitten aus dem Tode gerissen hätte. Die äußerste, maßlose Wut seiner Widersacher deutet er an, indem er sagt, sie nähmen gar keine Rücksicht auf Gott. Wenn nämlich uns nicht die Scheu vor Gott und der Gedanke an das Gericht zügeln, dann übersteigt unsere gewalttätige Willkür jedes Maß und nimmt sich alles heraus. Beim barmherzigen Gott nun sucht David die Abhilfe von diesen Leiden. Wenn er nämlich sogleich zu dem Lobpreis übergeht: Du aber, Herr Gott, bist barmherzig usw., so will er sagen: gegen dies freche Wüten der Gottlosen haben wir genug Schutz in Gottes Güte, Huld und Treue. Es ist auch möglich, dass er in der Erkenntnis, dass die Gottlosen Geißeln in Gottes Hand sind, zur Stillung der übergroßen Angst sich Gottes Erbarmen vor Augen stellt. Denn das gewährt den wahren und einzigen Trost, dass Gott, wenn er uns auch züchtigt, doch seiner Barmherzigkeit nicht vergisst. Übrigens ist es hinreichend bekannt, dass dieser Satz aus 2. Mo. 34, 6, der berühmtesten Darstellung der Eigenschaften Gottes, herübergenommen ist. Zuerst wird Gott „barmherzig“ genannt, dann „gnädig“, da er unsere Leiden mitfühlt. Drittens heißt er „geduldig“, weil er nicht gleich von Zorn entbrennt, sobald man ihn beleidigt hat, sondern nach seiner Huld Vergebung übt. Endlich ist er „von großer Güte und Treue“, d. h., so wie ich es verstehe, fortwährend wohltätig und zuverlässig in seinen Verheißungen. Seine Strenge ist ja nicht weniger lobenswürdig als seine Güte; trotzdem ist er nur gegen unsere Unbotmäßigkeit streng, indem er durch dieselbe sich zum Strafen genötigt sieht. Und so sagt die Schrift, er sei von Natur gütig und gnädig, und erst in zweiter Linie streng und hart. Es mag etwas unpassend und roh ausgedrückt sein, entspricht aber doch dem vorliegenden Lobpreis über Gottes Natur, wenn wir sagen: Gott ist von Natur so gnädig und zum Vergeben geneigt, dass er seine Heiligkeit verbirgt, die Strafen hinausschiebt und sich zur Vergeltung erst dann anschickt, wenn unsere Bosheit ihn dazu zwingt. Mit Gottes Güte zusammen wird seine Treue genannt. Unter uns Menschen möchten auch die Gütigsten zuweilen gern ein gegebenes Versprechen zurückziehen, weil es sie gereut. Weil wir nun die verkehrte Gewohnheit haben, Gott an unserem Maßstabe zu messen, so misstrauen wir seinen Verheißungen. Darum verkündigt Gott, dass er nicht wie Menschen sei, indem es ihn nicht mehr kostet, das Versprochene reichlich zu gewähren, als mit dem Versprechen selbst freigebig zu sein.

V. 16 u. 17. Wende dich zu mir. Was der Psalmist vorhin von Gottes Milde und Güte gesagt, wendet er nun noch deutlicher auf seine gegenwärtige Lage an. Weil Gott barmherzig ist, so traut er ihm zu, dass er für sein Heil sorgen werde. Zum Schluss bekennt er, dass er nur durch eine von Gott erbetene Kraft wohl erhalten bleiben könne; in seiner eigenen Macht stehe es nicht. Wenn er von sich als von „deinem Knecht“ und „Sohn deiner Magd“ spricht, so will er sich damit nicht seines Gehorsams rühmen, sondern denkt an die schon so lange genossene Gnade Gottes uns erhofft auf Grund derselben umso mehr Gunst. Er will sagen, er sei schon von Mutterleibe an sozusagen Gottes Haussklave.

Im letzten Vers bestätigt er aufs Neue, er sei von Gott wie verlassen gewesen. Denn nur deshalb begehrt er ein Zeichen der Gnade, weil er von allen Seiten zum Verzweifeln versucht wurde und Gottes Gunst nicht erblicken konnte, die ihm Kraft zur Geduld geben sollte. Das war aber ein Beweis außerordentlicher Standhaftigkeit, dass er trotz dieser Versuchung nicht nachließ, im Dunkel nach dem Lichte auszuschauen. Wenn er endlich begehrt, dass „die mich hassen, … sich schämen müssen“, so ist es deshalb, weil sie ihn damit quälten, dass sie über seine Einfalt spotteten, als ob er törichterweise auf Gott gehofft hätte.

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