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Calvin, Jean - Psalm 77.

Calvin, Jean - Psalm 77.

Inhaltsangabe : Wer auch der Verfasser des Psalms sein mag, jedenfalls hat der Geist ihm das Muster eines gemeinsamen Gebetes für die schwer betroffene Gottesgemeinde in den Mund gelegt, damit man in den schwersten Verfolgungen nichtsdestoweniger Gebete zum Himmel sende. Denn nur der Schmerz einer einzelnen Person, sondern das Seufzen und Klagen des erwählten Volkes wird hier ausgesprochen. Doch verkündigen die Gläubigen auch die Erlösung, die einmal geschehen ist, und die ein Denkmal der fortwährenden Gnade Gottes war. Dadurch sollen sie sich ermuntern und im Gebetseifer noch mehr bestärken.

V. 1 bis 3. Ich schreie mit meiner Stimme zu Gott.Ich halte nicht dafür, dass das Folgende, wie einige Ausleger meinen, eine bloße Klage der Gläubigen in dem Sinne sei, dass sie sich wundern, dass Gott, der doch sonst ihre Gebete zu erhören pflegte, nun taub sei und man ihn umsonst anrufe. Wahrscheinlicher ist mir, dass der Prophet entweder von seiner gegenwärtigen Gemütsbewegung spricht, oder dass er sich ins Gedächtnis zurückruft, wie geneigt und willig nach seiner Erfahrung Gott ist zur Erhörung seiner Bitten. Ich neige mich aber zur ersteren Auffassung, nämlich dass der Prophet angibt, welch große Traurigkeit ihn, und zwar anhaltend, drücke. Zuerst führt er aus, dass er nicht ins Blaue hinein geklagt habe, wie so viele, die planlos ihrem unmäßigen Schmerz Luft machen, sondern er habe sich mit seiner Rede geradeswegs an Gott gewandt, als die Not ihm die Angstrufe auspresste. Zugleich zeigt er an, dass er sich im Anhalten nicht habe beirren lassen, obschon das Rufen öfters wiederholt werden musste. Was nun unmittelbar folgt, ist eine Bestärkung des Glaubens. Denn das Bindewort „und“ im zweiten Versteil steht, wie auch anderswo öfter, für „weil“, so dass er Prophet sagen will: Ich schreie zu Gott, weil er mir gnädig zu sein und mich zu erhören pflegt. -

Im folgenden Vers spricht er sich deutlicher darüber aus, wie schwer und hart die damalige Unterdrückung der Gemeinde war. Wenn er aussagt, er suche Gott am Tage der Trübsal, und nachts seien seine Hände ausgestreckt, so will er damit andeuten, dass er mit unermüdlichem Eifer aufs Bitten bedacht ist. Die Schlussworte des Verses schließen sich in gegensätzlicher Weise daran an: obschon die Seele des Propheten keinen Trost zur Linderung seiner Pein finde, so strecke er dennoch die Hände aus zu Gott. Ebenso müssen auch wir gegen die Verzweiflung kämpfen, so dass der Schmerz, ob er auch unheilbar wäre, doch unsern Gebeten die Türe durchaus nicht verschließen darf.

V. 4 u. 5. Ich denke an Gott und bin unruhig.Weiter drückt der Psalmist seinen heftigen Schmerz und zugleich die Schwere des Unglücks aus. Und zwar klagt er, dass das, was doch das einzige Heilmittel zur Stillung der Traurigkeit sein sollte, ihm eine Ursache der Beunruhigung gewesen sei. Es könnte zwar widersinnig erscheinen, dass gläubige Gemüter durch das Gedenken an Gott verwirrt werden. Aber der Prophet will einfach sagen, seine Beunruhigung sei, obwohl er an Gott dachte, doch nicht gewichen. Es geschieht zwar oft, dass frommen Leuten in der Widerwärtigkeit das Denken an Gott die Qual geradezu vermehrt, indem sie nämlich die Empfindung haben, Gott zürne ihnen. Aber der Prophet will nicht sagen, dass sein Herz bei jeder Erinnerung an Gott aufs Neue angefochten worden sei. Er klagt nur, dass ihm kein Trost von Gott zu seiner Beruhigung zuteil geworden sei, und das ist eine überaus schwere Art von Anfechtung. Wenn Ungläubige von schrecklichen Leiden gequält werden, so wundert uns das nicht; sie leiden damit nur die gerechte Strafe für ihren Abfall von Gott. Wenn aber das Andenken an Gott, worin wir eine Linderung unseres Ungemachs suchen, unserm Gemüt keinen Frieden bringt, dann scheint es, als ob er unser spotte. Dagegen lehrt uns diese Stelle: wir sollen selbst, wenn das Herz voll Murren, Traurigkeit und Verwirrung ist, auch unter solchen Hemmnissen fortfahren, Gott anzurufen.

Denselben Sinn zeigt auch der folgende Vers, wo der Prophet sagt, er habe ganze Nächte durchwacht, weil Gott ihm keine Erleichterung gewährte. Der anhaltende Gram ließ keinen Schlaf in seine Augen kommen. Da er aber soeben gesagt hat, er rufe zu Gott mit flehentlicher Stimme, nun aber ausspricht, dass er nicht mehr reden kann und will, scheint er sich zu widersprechen. Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dass die Gläubigen unter dem Druck der Traurigkeit nicht immer dasselbe Verhalten beobachten, sondern bald brechen sie in Seufzer und Klagen aus, bald verstummen sie, als ob ihnen die Kehle zugeschnürt wäre. Es ist deshalb nicht zu verwundern, wenn der heilige Sänger bekennt, er sei von seinen Leiden so gedrückt und gleichsam verschlossen gewesen, dass er kein Wort hervorbrachte.

V. 6 u. 7. Ich denke der alten Zeit.Ohne Zweifel hat er versucht, seinen Schmerz durch den Gedanken an die Freuden vergangener Zeiten zu mildern; aber dass er bald einen Erfolg verspürt hätte, kann er nicht sagen. Und doch bezeichnet er mit dem Ausdruck „alte Zeit, vorige Jahre“ offenbar nicht bloß den kurzen Lauf seines eigenen Lebens, sondern umfasst damit mehrere Menschenalter. Und gewisslich sollen Gläubige nicht nur die Wohltaten Gottes, die sie selbst erfahren haben, sondern alle, die er im Lauf der Jahrhunderte seiner Gemeinde erwiesen, sich in trüben Zeiten vor Augen halten und ins Gedächtnis zurückrufen. Immerhin legt der Zusammenhang die Annahme nahe, dass der Prophet bei der Erinnerung an die früheren Gnadenerweisungen Gottes von der eigenen Erfahrung ausging.

Es steht mir nämlich außer Zweifel, dass er mit seinem „Saitenspiel“ die Danksagungen bezeichnet, in denen er sich in Zeiten der Freude und des Wohlergehens geübt hatte. Aber wenn es auch, wie ich bereits sagte, kein geeigneteres Mittel zur Heilung unserer Leiden gibt, so hält uns doch oft gerade Satans List die ehemaligen göttlichen Wohltaten unter Augen, um uns dadurch die gegenwärtige Entbehrung desto schmerzlicher fühlen zu lassen. Wahrscheinlich hat also der Prophet in seiner Seele herbe Stiche empfunden, als er die frühere, fröhliche Zeit mit den gegenwärtigen Leiden verglich. Sehr eindrücklich ist, dass er der Nacht gedenkt, die ja noch mehr Sorgen und Grübeln gebiert, weil wir dann einsam und den Blicken der Menschen entzogen sind. Denselben Sinn haben die folgenden Worte: Ich rede mit meinem Herzen.Das bringt nämlich das Alleinsein mit sich, dass man sich sammelt, sich selbst gründlich erforscht und ganz ungestört mit sich redet. Bei solchem Nachsinnen, da sein Geist forschte, überlegte der heilige Sänger, aus was für Ursachen er wohl geplagt würde, dann, welchen Ausgang die Leiden nehmen würden. Und es ist sicherlich etwas Heilsames um dieses Nachsinnen, wozu uns auch Gott selbst durch Ungemach reizen will; denn es gibt nichts Verkehrteres als die Stumpfheit derer, die unter den Schlägen Gottes ihr Herz verstocken. Nur gilt es Maß halten, damit uns nicht der Schmerz ganz hinnehme, und dass wir nicht, indem wir allen Gerichten Gottes auf den Grund zu kommen suchen, uns ins Bodenlose verlieren. Der Prophet gibt zu verstehen, es sei ihm bei solchen Überlegungen kein Trost mehr erschienen, der ihm den Schmerz gestillt hätte.

V. 8 u. 9. Wird denn der Herr usw. Das war ohne Zweifel ein Teil der Erwägungen, die der Psalmist in seinem Geiste bewegte. Dazwischen deutet er an, er sei durch die lang andauernden Leiden beinahe verzehrt worden. Denn er bricht in solchen Ruf nur aus nach langem Dulden, da er kaum noch zu hoffen wagte, dass Gott ihm jemals gnädig sein werde. Mit Recht überlegt er aber bei sich selbst, ob denn Gott nicht in seinem Wohlwollen fortfahre. Denn wenn Gott uns mit seiner Güte umfängt, so will er das nicht anders als bis ans Ende tun. Doch fordert das der Sänger nicht geradezu, sondern kommt auf Grund von Gottes Wesen zu dem Schluss, es sei nicht anders möglich, als dass Gott beharre in seiner freien Gunst gegen die Frommen, denen er sich einmal als Vater geoffenbart hat. Wie er nun aus dem Gnadenratschluss Gottes wie aus einer Quelle alle die Wohltaten herleitet, welche die Gläubigen aus seiner Hand empfangen, so fügt er auch gleich wieder Gottes Güte bei und will damit sagen: „Wie, sollte Gott, der sein Wesen nicht ablegen kann, in Erzeigung seiner Vatergunst auf einmal einhalten?“ Wir sehen hier, wie er die Anfechtungen dadurch aus dem Felde schlägt, dass er ihnen die Güte Gottes entgegenhält.

Wenn er fragt (V. 9): „Hat die Verheißung ein Ende?“, so drückt er damit aus, dass er jedes Trostes ermangle, weil seinem Glauben keine stützende Verheißung entgegenkomme. Das aber führt zum Abgrund der Verzweiflung, wenn Gott seine Verheißungen, in denen ja unser Heil beschlossen liegt, hinwegnimmt. Wenn jemand einwendet, die Aussprüche Gottes seien ja dem nicht entzogen, der das Gesetz zur Hand hat, so antworte ich: Um der zeitweiligen Schwachheit willen waren damals besondere Verheißungen notwendig. Darum haben im 74. Psalm (V. 9) die Gläubigen geklagt, dass sie die gewohnten Zeichen nicht mehr sähen und kein Prophet mehr da sei, der unter ihnen die Erkenntnis vermittle. Wenn David der Verfasser dieses Psalms ist, so wissen wir, dass er gewohnt war, in zweifelhaften und verwickelten Lagen Rat bei Gott zu suchen, und dass ihm Antworten zuteilwurden. Und wenn ihm nun diese Unterstützung im Leiden entzogen wurde, so beklagt er füglicherweise, dass ihm kein Ausspruch als Stütze seines Glaubens entgegenkomme. Ist aber der Verfasser ein anderer, so passt diese Klage auf die Zwischenzeit zwischen der Rückkehr aus der Gefangenschaft und der Ankunft Christi, weil damals gewissermaßen die Kette von Prophezeiungen unterbrochen und niemand vorhanden war, der, durch besondere Geistesgabe erleuchtet, die verzagten Gemüter aufgerichtet hätte. Man könnte auch anführen, dass bisweilen das Wort Gottes, obwohl es gepredigt wird, uns doch nicht erreicht, weil wir, in Kleinmut befangen, keinen Trost annehmen. Ich ziehe aber den ersteren Sinn vor, nämlich dass die Gemeinde der besonderen Prophezeiungen entbehrte, während sie doch einer täglichen Unterstützung ihres Glaubens bedurfte, da sie auf bloß schattenhafte Offenbarungen angewiesen war. Doch geht daraus die nützliche Mahnung hervor, dass wir nicht allzu sehr bestürzt sein sollen, wenn uns Gott einmal seinen Zuspruch entzieht; wie er denn etwa die Seinen außerordentlich schwer plagt, so dass sie meinen, die Schrift gehe nur andere an; und während sie wünschen, Gottes Sprache zu vernehmen, sind sie doch nicht dazu zu bringen, seine Worte sich zu eigen zu machen. Es ist dies zwar, wie gesagt, ungemein betrübend, soll uns aber am Bitten nicht hindern.

V. 10. Hat Gott vergessen gnädig zu sein?Der Prophet fährt noch fort in jener Untersuchung, die jedoch nicht dazu führt, die Hoffnung unsicher zu machen sondern vielmehr sie aufzurichten. Denn er stellt nicht Fragen über eine zweifelhafte Sache auf, sondern es ist, als ob er sagte: „Hat Gott sich selbst vergessen oder sein Wesen verändert?“ Denn Gott könne nach seiner Natur nicht anders, als barmherzig sein. Ich gebe zu, dass er nicht unerschüttert aufrecht geblieben ist, als hätte er ein Herz von Eisen gehabt, sondern je härter er angefochten wurde, desto mehr stützt er sich auf die Erkenntnis, mit Gottes Wesen sei die Güte so eng verbunden, dass es ihm unmöglich wäre, sich nicht zu erbarmen. Darum, so oft in Not und Schmerz Zweifelsgedanken uns bestürmen, wollen wir lernen, uns immer wieder auf diesen Standpunkt zu stellen: kann Gott seine Natur aufgeben, dass er aufhörte, barmherzig zu sein? Denselben Sinn hat das folgende Versglied: hat er seine Barmherzigkeit vor Zorn verschlossen? Bei den heiligen Vätern hört man oft den Lobpreis, dass Gott von großer Langmut sei, langsam zum Zorn, gern bereit, sich erbitten zu lassen. Daher auch jener Ausdruck Habakuks (3, 2) in seinem Liede: „Wenn Trübsal da ist, so denkst du der Barmherzigkeit.“ Der heilige Sänger zieht also den Schluss, die Züchtigung, die er erdulde, hindere nicht, dass Gott, wieder versöhnt, sich aufs Neue seinem gewohnten Brauche, Gutes zu tun, zuwende. Denn er zürnt den Seinen nur auf eine kleine Zeit. Ja, während er ihnen Zeichen seines Zornes gibt, liebt er die, die er züchtigt, aufs zärtlichste. Über den Abtrünnigen zwar dauert sein Zorn fort, aber für die Kinder Gottes, unter die der Prophet sich und die anderen Gläubigen zählt, zieht er aus dem, was er als unmöglich bezeichnet hat, den Schluss, dass der vorübergehende Zorn Gottes sein Erbarmen nicht abschneide.

V. 11. Aber doch sprach ich usw. Der Psalmist tröstet sich mit der Beobachtung, dass sein Leiden vorübergehender Art sei, etwa so, wie es Psalm 118, 18 heißt: „Der Herr züchtigt mich wohl, aber er gibt mich dem Tode nicht,“ – und: „Ich werde nicht sterben, sondern leben.“ Der Prophet erleichtert sein Gemüt, indem er sein Ungemach mit einer Krankheit vergleicht, die er geduldig tragen müsse. Sie sei ja nicht tödlich. Besonders nach den Worten des zweiten Versgliedes verspricht er sich einen Umschwung in seiner Lage, so dass er sich nicht dem Tode der Verzweiflung ergibt. Die Stelle kann zwar nach dem Grundtext verschieden ausgelegt werden. Manche glauben, der Sänger schaue zurück auf glücklichere Jahre, wo Gott seine Gerechtigkeit kundtat. Ähnlich wie Hiob (2, 10) spricht: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ Aber das Wahrscheinlichere ist doch, dass er auf die Zukunft blickt und die Hoffnung ausspricht, dass ähnlich dem Wechsel der Jahreszeiten auch wieder Zeiten kommen, wo die rechte Hand des Höchsten sich offenbaren und seine Gnade hervorleuchten wird.

V. 12 u. 13. Darum gedenke ich usw. Herzhafter erhebt sich der Prophet nun gegen die Versuchungen, die beinahe vermocht hatten, seinen Glauben zu unterdrücken. Diese Erinnerung, nämlich an die Taten Gottes, ist etwas verschieden von derjenigen, auf die er soeben (V. 6) hinwies. Dort betrachtete er die göttlichen Wohltaten aus der Ferne; so konnten sie seinen Schmerz nicht besänftigen. Hier aber bemächtigt er sich ihrer als gewisser Zeugnisse der fortdauernden Gnade. Darum bekräftigt er den vorliegenden Satz durch Wiederholung. Wie ein Sieger frohlockt er also beim Andenken an die Werke Gottes. Ist er doch überzeugt, Gott werde auch in Zukunft kein anderer sein, als wie er sich von Anbeginn an erzeigt hat. Im zweiten Satzglied hebt er rühmend hervor, welche Macht Gott bei der Bewahrung der Seinen an den Tag gelegt hat. Kurz, die wunderbare Güte Gottes, die er noch immer angewendet hat, um das Heil der Seinen zu schützen, reicht, wenn wir sie nur recht erwägen, hin, um alle Schmerzen zu überwinden. Daraus lasst uns lernen, dass, wenn auch manchmal die Erinnerung an Gottes Taten uns nicht genügend Trost verschafft, es alsdann gilt, dennoch zu kämpfen, damit nicht lähmende Verdrossenheit über uns komme. Das müssen wir uns ernstlich merken. Wir wünschen im Schmerz immer, etwas zu finden zur Milderung der herben Leiden. Der einzige Ausweg ist aber der, dass wir unsere Sorgen auf Gott werfen. Dabei mag es freilich oft geschehen, dass Gott, indem er uns näher tritt, unsere Pein scheinbar vermehrt. Darum meinen viele, wenn sie auf diesem Wege nichts erreichen, es sei das Beste, Gott zu vergessen. So verschmähen sie dann sein Wort, weil durch dessen Anhören ihre Traurigkeit eher verschärft als gelindert wird. Ja, sie wünschen, Gott möchte sich weit wegbegeben, anstatt ihre Schmerzen zu verschlimmern. Andere möchten die Gedanken an ihn begraben und geben sich deshalb weltlichen Vergnügungen ganz hin. Ganz anders der Prophet. Der ließ nicht ab, sich seinen Gott vor Augen zu stellen, obschon er dabei nicht sogleich den gewünschten Erfolg hatte. Er unterhält klugerweise seinen Glauben mit der Erwägung: weil Gott sein Herz und seine Gesinnung nicht wechselt, so ist es nicht anders möglich, als dass er den Seinen endlich wieder in Freundlichkeit erscheine. Wir wollen auch lernen, unsere Augen zu öffnen zum Betrachten der Taten Gottes, damit deren Herrlichkeit, infolge unserer stumpfen Sinne bei uns wenig geschätzt, uns wieder zu ihrer Bewunderung hinreiße. Dasselbe wiederholt der Verfasser im 13. Vers. Er hat sich entschlossen, in dieser Betrachtung zu beharren, bis er zu seiner Zeit die reife Frucht davon ernten wird. Dass nämlich so viele Beispiele der Gnade Gottes uns nichts nützen, rührt daher, dass wir gleich nach der ersten Empfindung derselben durch unsere Zerstreutheit uns wieder anderswohin ziehen lassen und es deshalb bei uns nur zu einem Anfang der Erfahrung kommt.

V. 14. Gott, dein Weg ist heilig, wörtlich: „im Heiligtum“, was ich auf den Himmel beziehe. Der Sinn ist der: Die Wege Gottes sind hoch über alle Welt erhaben, so dass wir, um sie wahrhaft zu verstehen, über alle Himmel emporsteigen müssten. Ob nämlich auch Gottes Werke nach irgendeiner Seite uns wohl bekannt sind, so bleibt diese unsere Kenntnis doch hinter der unendlichen Hoheit derselben weit zurück. Zudem muss man, um wahre Empfindung davon – und wäre es in noch so bescheidenem Maße – zu gewinnen, mit dem Glauben sich in den Himmel erheben; und auch dann kommt man nicht weiter, als dass man in Ehrfurcht aufschaut zu der verborgenen Weisheit und Kraft Gottes, die zwar in seinen Werken leuchtet, aber die Fassungskraft unseres Geistes weit übersteigt. Wendet jemand ein, es sei unpassend, bei den Wegen Gottes bloß an den Himmel zu denken, da sie doch durch die ganze Welt gehen, - so fällt die Lösung dieses Widerspruchs nicht schwer. Wenn auch kein Winkel auf Erden ist, wo Gott nicht irgendeinen Beweis seiner Vortrefflichkeit gäbe, so entzieht sich doch der wunderbare Urgrund seiner Taten den menschlichen Augen. Die Meinung des heiligen Sängers ist also die: Nachdem er sich anfänglich in stürmischen Klagen ergangen hat, bewundert er nun mit versöhntem Herzen die erhabenen Wege Gottes und betet sie an; er hält sich, seines Unverstandes bewusst, bescheiden und nüchtern innerhalb der ihm gezogenen Schranken, erlaubt sich auch nicht, mit seiner fleischlichen Vernunft über die verborgenen Gerichte Gottes zu urteilen. Darum ruft er im Folgenden aus: Wo ist so ein mächtiger Gott, als du, Gott, bist? Mit diesem Vergleich gibt er nicht zu, dass es mehrere Götter gebe, sondern er rügt die Torheit der Welt, dass sie, nicht zufrieden mit dem einigen Gott, dessen Herrlichkeit so offenbar ist, sich mehrere Götter zurechtmacht. Denn wenn die Menschen Gottes Werke mit einfältigen Augen betrachteten, so würden sie leicht dahin kommen, in ihm allein ihre Ruhe zu finden.

V. 15. Du bist der Gott, der Wunder tut. Der Psalmist bestätigt wieder denselben Gedanken, indem er die Größe Gottes aus seinen Wunderwerken dartut, und will damit sagen, er rede nicht vom verborgenen Wesen Gottes, das Himmel und Erde erfüllt, sondern von den Beweisen seiner Kraft, seiner Weisheit, seiner Güte und Gerechtigkeit, die ja offen am Tage liegen, obschon sie über das Maß unserer Einsicht hinausgehen. Daraus entnehmen wir, dass die Herrlichkeit Gottes uns zu nahe und zu deutlich erkennbar ist, als dass die Unwissenheit sich noch mit Recht entschuldigen könnte. Denn Gott wirkt wunderbare Dinge, so dass selbst heidnische Völker keine Entschuldigung für ihre Blindheit haben. Darum fügt er bei: Du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern. Obgleich das sich zunächst nur auf die Rettung der Gemeinde bezieht, so zeigt er doch damit, dass es immer lästerlich ist, Gottes Ehre zu verachten, die er deutlich und kraftvoll unter den Völkern kundgetan hat.

V. 16. Du hast dein Volk erlöst. Vor allen anderen Wundertaten Gottes wird hier die Erlösung des Volkes gepriesen, an welche der heilige Geist die Frommen stets erinnert, damit sie daran ihre Hoffnung nähren. Hatte doch der Herr damals für alle Zeiten einen Beweis seiner Liebe gegen die Auserwählten geliefert. „Gewaltiglich“, also nicht in heimlicher oder gewöhnlicher Weise hat Gott sein Volk erlöst. Indem sie der Psalmist Kinder Jakobs und Josephs nennt, gibt er an, warum Gott sie zu seinem Volke zählte, nämlich mit Rücksicht auf den Bund, den er mit ihren heiligen Vätern geschlossen hatte. Obschon es nun zwei Stämme waren, die, von den beiden Söhnen Josephs gezeugt, ihren Ursprung gemeinsam mit den anderen von Jakob herleiteten, wird doch der Ehre wegen der Name Josephs besonders genannt, weil durch seine Bemühung und Wohltat der ganze Same Abrahams unversehrt erhalten blieb.

V. 17. Die Wasser sahen dich. Der Verfasser berührt in Kürze einige Wunder, in denen Gott seinen Arm geoffenbart hatte. In bildlichem Sinne sagt er, Gott sei von den Wassern gesehen worden, indem sie wie durch einen verborgenen Antrieb ihm gehorchten und dem erwählten Volk freien Übergang gestatteten. Denn das Meer und der Jordan sind nicht freiwillig gewichen, noch haben sie ihre Natur geändert, sondern durch jenes Zurückweichen hat Gott gezeigt, dass auch die toten Elemente bereit stehen müssen, ihm zu gehorchen. Zwischen den Zeilen lesen wir auch die Andeutung eines beschämenden Gegensatzes gegen den Stumpfsinn von solchen Menschen, die in der Errettung des Volkes nicht Gottes Gegenwart erkennen, während die Wasser ihn „sahen“. Was von den „Tiefen“ gesagt ist, soll andeuten, dass nicht nur die Oberfläche der Gewässer durch den Anblick Gottes erregt wurde, sondern dass seine Gewalt auch in die tiefsten Abgründe drang.

V. 18 u. 19. Die dicken Wolken gossen usw. Nicht nur das Meer und der Jordan gaben Gott die schuldige Ehre, sondern auch die in den Wolken schwebenden Wasser, indem der Himmel, vom Donner erschüttert, sich in reichen Regenströmen ergoss. Es will uns der Psalmist unterweisen, überall wo Menschen ihre Blicke hinwenden mögen, oben wie unten, von den Himmeln an bis in die Abgründe sei die Ehre Gottes glänzend offenbar geworden bei der Erlösung des Volkes. Welches Ereignis übrigens hier berührt wird, ist nicht ganz sicher. Vielleicht ist es das, was 2. Mo. 9, 23 berichtet ist, wo Hagel, mit Donner und Blitzen vermischt, den Ägyptern furchtbaren Schaden beibrachte. Unter den „Strahlen“ sind nämlich ohne Zweifel Blitze zu verstehen.

Damit hängt der folgende Vers zusammen, wo es heißt, die Stimme des Donners habe sich am Himmel vernehmen lassen, und der Erdkreis sei erleuchtet worden von Blitzen so stark, dass der Boden erbebte. Das Ganze soll dartun, dass beim Auszug des Volkes die Macht Gottes genug und übergenug vor ihren Augen und Ohren erwiesen worden sei, da es durch den Himmel donnerte und die ganze Luft von blendendem Glanze durchzuckt wurde und die Erde zitterte.

V. 20 u. 21. Dein Weg war im Meer. Mit neuen Ausdrücken beschreibt der Sänger nochmals das Wunder vom trockengelegten Meere. Was nämlich zunächst die Israeliten selbst angeht, überträgt er auf Gott, unter dessen Befehl und Leitung jene durch das Rote Meer als durch trockenes Land gingen. Er sagt aus, dass ihnen der Weg auf ungewöhnliche Weise gebahnt wurde, da weder das Meer durch menschliche Vorkehrungen ausgeschöpft noch der Fluss anderswohin abgeleitet worden war: sondern das Volk wandelte mitten zwischen den Wassern hindurch, in welchen bald darauf Pharao mit seinem Heere versank. Daher heißt es: und man spürte doch deinen Fuß nicht, indem Gott nach dem Durchzug des Volkes den Wassern ihren gewohnten Lauf wiedergab. Als Zweck wird beigefügt die Erlösung der Gemeinde, die allen Frommen als bestes Pfand der Heilshoffnung gelten durfte.

Und indem der Prophet das Volk mit Schafen vergleicht, deutet er an, dass es demselben an Rat und Kraft ganz gefehlt hätte, wenn nicht Gott wie ein Hirt sich seiner gnädig angenommen hätte, indem er die hilflose und bedürftige Herde durch Meer und Wüste und andere Hindernisse ins verheißene Erbteil führte. Das bestätigen auch die Namen Mose und Aaron. Denn wenn ihr Dienst auch ruhmreich und des Andenkens wert gewesen ist, so hat Gott seine Macht nicht wenig eben dadurch ins Licht gestellt, dass er zwei so unbekannte und verachtete Männer der Wut und den ungeheuren Machtmitteln eines überaus hochfahrenden Königs entgegenstellte. Denn was vermochte gegen einen furchtbaren Tyrannen und gegen ein kriegerisches Volk der schwache Stab des heimatlosen Flüchtlings und die Stimme des elenden Sklaven? Umso glänzender also bekundete Gott seine Kraft, da er sie durch solche irdene Gefäße betätigte. Doch bestreite ich nicht, dass diese Diener auch zu ihrem Ruhme erwähnt werden, da Gott ihnen ein solch ehrenvolles Amt aufgetragen hat.

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