Calvin, Jean – 10. Das zehnte Gebot.

Calvin, Jean – 10. Das zehnte Gebot.

Abschnitt 215. – 2. Mose 20, 17. / 5. Mose 5, 21.

Dieses Gebot steht offensichtlich in nahem Zusammenhange mit den vorigen. Schon zuvor hatte Gott verboten, sein Begehren auf fremdes Eigentum zu richten, das Weib eines andern zum Ehebruch zu reizen, zum Nachteil seines Bruders auf Gewinn auszugehen usw. Demgemäß bringt unser Gebot nichts Neues, da doch schon die früheren, entsprechend der Natur des Gesetzgebers, nicht bloß die äußere Tat, sondern bereits die verkehrten inneren Regungen des Herzens treffen wollten. Es scheint also eine Wiederholung vorzuliegen, die umso überflüssiger wäre, als Gott in den zehn Geboten, die eine Regel für das gesamte Leben sein sollen, sonst mit äußerster Kürze und Knappheit redet. Indessen erforderte die heuchlerische Sicherheit der Menschen, die allerlei Ausflüchte sucht, in diesem Stück eine besonders klare und unmissverständliche Sprache. Den schlichten Geboten gegenüber: „Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen“, – hätte man vielleicht meinen können, dass die äußere Beobachtung schon genüge. So fügt Gott, nachdem er die Pflichten der Frömmigkeit und Gerechtigkeit einschärft, noch die besondere Mahnung hinzu, dass man nicht nur grobe Übeltaten unterlassen, sondern mit aufrichtigem Eifer des Herzens alles das tun solle, was er zuvor geboten hat. Aus diesem Gebot hat Paulus (Röm. 7, 14) den Schluss gezogen, dass das ganze Gesetz geistlich ist: denn wenn Gott schon die böse Lust verbietet, ist klar, dass er nicht bloß unsere Hände und Füße regieren, sondern auch unser Herz zügeln will, damit es nicht nach unerlaubten Dingen trachte. Paulus bekennt auch, dass ihn dies eine Wort aus dem Schlaf falschen Selbstbetruges erweckt habe. Da er vor Menschenaugen untadelig dastand, hielt er sich auch vor Gott für gerecht. Er berichtet, dass er „gelebt“ habe (Röm. 7, 9 ff.), so lange das Gesetz gleichsam fern und tot für ihn war und er selbst im hochmütigen Vertrauen auf eigene Gerechtigkeit um seiner Werke willen glaubte selig zu sein. Als er aber begriff, was das Gebot bedeutet: „Lass dich nicht gelüsten“ – da ward das Gesetz gleichsam lebendig, er selbst aber starb: denn seine Übertretung war ihm nun aufgedeckt, und er sah den Fluch Gottes vor Augen. Jetzt wusste er sich nicht bloß der Übertretung gegen das eine oder andere Gebot schuldig, sondern er wachte auf aus dem Schlafe und musste erkennen, dass Gott alle verborgenen Begierden, von denen er sich doch nicht freisprechen konnte, vor sein Gericht zog. Da half der Schein äußerer Tugenden nichts mehr. Nun werden wir es verstehen, dass zur Verurteilung der bösen Lust noch ein besonderes Gebot erforderlich war. Hatte Gott bis dahin nur in den gröbsten und verständlichsten Umrissen für das rohe Volk ein Bild eines gerechten Lebens gezeichnet, so dringt er endlich bis zur Quelle vor und deckt mit seinem Finger die Wurzel auf, aus welcher alle Früchte der Bosheit und der Sünde erwachsen. Wir müssen aber außerdem sagen, dass die Lust oder das Begehren, welchem Gott wehren will, etwas viel Feineres ist, als ein ausdrücklich erklärtes und bewusst auf sein Ziel hinarbeitendes Streben. Denn oft reizt uns das Fleisch zu diesem oder jenem Wunsch, in welchem sich ein böses Begehren verrät, wobei wir eine eigentliche Zustimmung vielleicht noch gar nicht geben. War der entschlossene Wille zum Bösen schon in den früheren Geboten verurteilt, so fordert Gott jetzt noch mehr, indem er bösen Wünschen schon einen Zügel anlegt, noch ehe sie die Oberhand gewinnen. Diese Stufenfolge kennt auch Jakobus (1, 15): „Wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod.“ Die Geburt der Sünde, die Jakobus meint, vollzieht sich nämlich nicht erst in einer äußeren Tat, sondern schon in dem Willen selbst, nachdem er sich mit der lockenden Versuchung eingelassen hat. Gewiss wird uns Gott böse Gedanken, die uns wie zufällig anfliegen und von selbst wieder verschwinden, bevor sie unser Herz wirklich erregten, nicht anrechnen. Aber wenn wir uns auch mit dem bösen Begehren nicht wirklich einlassen, so kitzelt es uns doch: und dies genügt bereits, uns schuldig zu machen. Um deutlicher zu reden: unsere mannigfaltigen Versuchungen sind wie Fächer und Blasbälge; wenn wie uns bis zur Zustimmung fortreißen, ward das Feuer angezündet; wenn sie aber gar das Herz zu verkehrten Begehrunge treiben, fangen in der bösen Lust schon die Funken an zu sprühen, wobei vielleicht ein voller Brand und eine helle Flamme noch gar nicht einmal ausbricht. Wo also böse Lust ist, findet sich stets eine schuldhafte Regung des Herzens, wenn auch der Wille noch nicht völlig unterlag. Daraus sehen wir, eine wie vollkommene und tadellose Gerechtigkeit wir beibringen müssten, wollten wir dem Gesetze Genüge tun: ist es doch nicht genug, nichts zu wollen, als was recht und dem Herrn wohlgefällig ist; es darf nicht einmal ein unreiner Trieb unser Herz reizen. Nur bei diesem Verständnis unseres Gebots hat die angeführte Rede des Paulus recht: es wäre gar nichts Besonderes, wenn das Gebot nur solche Lust treffen wollte, welche das Herz des Menschen schon ganz gefangen nimmt und beherrscht. Denn nicht bloß heidnische Weltweise, sondern auch irdische Gesetzgeber haben den unsittlichen Willen bereits verurteilt. Paulus aber sagt (Röm. 7, 13), dass, als das Lustverbot kam, die Sünde überaus sündig wurde. Es ist doch auch nicht glaublich, dass Paulus jemals in seinem Leben so sittlich stumpf gewesen wäre, dass er die Absicht, einen Menschen zu töten oder einen Ehebruch zu begehen, nicht für Sünde gehalten hätte. Und doch sagte er: „Ich wusste nichts von der Lust.“ Damit kann er nicht den entschlossenen Willen zur Sünde, sondern nur eine viel tiefere Krankheit verborgener böser Lust meinen, die ihm freilich erst durch Gottes Gebot aufgedeckt wurde. Aus alledem sieht man, wie schwer Satan die päpstlichen Lehrer betrogen hat, wenn er ihnen die Lehre eingab, dass in den getauften Christen die böse Lust keine Sünde sei: denn sie diene als Anreiz zum Kampf der Tugend. Als ob nicht Paulus ganz deutlich schon eine Lust verdammte, die uns mit ihren Lockungen ködert, auch wo der Wille noch nicht völlig zustimmt!

Quelle: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung. 2. Band. 2. – 5. Buch Mose. 1. Hälfte. Verlag der Buchhandlung des Erziehungsvereins; Neukirchen; Kreis Moers. (Die Auslegung der zehn Gebote wurde übersetzt von Prof. K. Müller in Erlangen.)

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