Binde, Fritz - Zwei Menschen in der Gegenwart Jesu

Binde, Fritz - Zwei Menschen in der Gegenwart Jesu

“Es bat ihn aber der Pharisäer einer, daß er mit ihm äße. Und er ging hinein in des Pharisäers Haus und setzte sich zu Tisch. Und siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin. Da die vernahm, daß er zu Tische saß in des Pharisäers Haus, brachte sie ein Glas mit Salbe und trat hinten zu seinen Füßen und weinte und fing an, seine Füße zu benetzen mit Tränen und mit den Haaren ihres Haupts zu trocknen und küßte seine Füße und salbte sie mit Salbe. Da aber das der Pharisäer sah, der ihn geladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sage an. Es hatte ein Wucherer zwei Schuldner. Einer war schuldig fünfhundert Groschen, der andere fünfzig. Da sie aber nicht hatten, zu bezahlen, schenkte er's beiden. Sage an, welcher unter denen wird ihn am meisten lieben? Simon antwortete und sprach: Ich achte, dem er am meisten geschenkt hat. Er sprach aber zu ihm: Du hast recht gerichtet. Und er wandte sich zu dem Weibe und sprach zu Simon: Siehst du dieses Weib? Ich bin kommen in dein Haus, du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit den Haaren ihres Haupts getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber, nachdem sie hereinkommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salbe gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben; denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. Da fingen an, die mit zu Tische saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? Er aber sprach zu dem Weibe: Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin mit Frieden!“
Lukas 7,36-50

Diese altbekannte Geschichte habe ich mir erlaubt, zu überschreiben: Zwei Menschen in der Gegenwart Jesu. Ich hätte sie auch überschreiben können: Fünfzig und Fünfhundert! Die biblischen Geschichten erlauben eine Unmenge von Überschriften. Aber darauf kommt's nicht an. Sondern darauf kommt es an, diese auswendig gekannten Geschichten inwendig zu lernen. Das wollen wir jetzt tun. Sehen wir uns die beiden Menschen an! Der eine und erste ist der Pharisäer Simon. Er scheint nicht zu der Sorte gehört zu haben, die dem Herrn nach dem Leben trachtete. Fast möchte man glauben, er sei eine Nikodemusseele gewesen, ein Suchender nach dem Heil und dem Heiland. Er kommt zwar nicht zu ihm, aber er ladet ihn in sein Haus ein. Und er scheint der einzige Pharisäer gewesen zu sein, der das getan hat. War das nicht viel? Und Jesus geht hin, geht hinein ins Haus des Pharisäers. Warum auch nicht? Er liebt ja auch die Pharisäer, auch sie sollen Wahrheit und Gnade empfangen. Nun liegt der seltsame Rabbi, der umherwandernde Meister zu Tisch in Simons Hause, inmitten der pharisäischen Gesellschaft. Der Menschensohn wieder einmal in der Gegenwart der Pharisäer; aber er bleibt in der Gegenwart Gottes, seines Vaters. Simon in der Gegenwart Jesu; aber er bleibt vielmehr in der Gegenwart seiner selbst, die ganze Geschichte beweist es. Simon öffnet dem Herrn sein Haus; aber er öffnet ihm wohl kaum sein Herz. Er hat wohl den Meister nur eingeladen, um ihm vor Zeugen einmal auf den Zahn zu fühlen. Nichts ist dazu günstiger als solch eine Einladung zum Mittags- oder Abendtisch; denn so wird es wohl gewesen sein, und so geschieht's ja auch heute noch, wenn man jemand näher kennenlernen will. Nehmen wir also an, Simon habe dem Herrn auch die Gaben seines Hauses vorgesetzt. Aber das Wertvollste, was er ihm gewährt, ist wohl die Gesellschaft seiner eigenen hochwerten Person. Er würdigt Jesu seiner ehrbringenden Gastfreundschaft. Und doch, – die ganze Geschichte beweist es, – Simon bleibt Pharisäer. Er öffnet dem Gast sein Haus, setzt ihm seine Gaben vor, gibt sich selbst als herablassender Gastgeber; aber er reserviert sein pharisäisches Ich. Ich denke, er hat sich gesagt: Einladen kann man ihn ja einmal; ein wenig prüfen sollte man ihn schon. Aber sich nur nichts dabei vergeben! Nur nicht sich selbst geben! Also hält man sich diesem Jesus gegenüber – reserviert.

Wie viele machen's auch heute noch so. Sie wollen keine Gottes- und Christusleugner sein. O nein, sie sind, wo man von Jesus hört. Sie bekümmern sich um ihn. Sie laden ihn gewissermaßen zu sich selber ein, indem sie ihm ihre religiösen Leistungen und vor allen Dingen ihr geliebtes Ich anbieten und präsentieren; aber sich selbst geben sie nie. Denn wir sind geborene Pharisäer. Wir kommen alle ichverliebt zur Welt. Es geht uns von Haus aus nichts über uns selbst. Die Lust an uns selbst ist die Lust aller Lüste. So meinen wir sogar, Gott müsse seine Lust an uns haben. Das Gebet jenes Pharisäers, der Gott dafür dankte, daß er nicht war wie andere Leute, sondern regelmäßig so viele religiöse Werke tue, liegt in unser aller Herzen. Eigentlich sollte jenes pharisäische Gebet besagen: Lieber Gott, du kannst mir danken, daß du einen solchen mustergültigen, frommen Menschen an mir hast! Hättest du noch ein paar Dutzend, die so wären, wie ich bin, so bekämst du lauter ordentliche Leute in deinen Himmel! – So sind wir alle geneigt, unser Ich vor Jesus zu reservieren, obgleich wir's ihm gerne selbstgefällig präsentieren. Für Millionen ist dies Doppelspiel der Inhalt ihres sogenannten Gottesdienstes. Ihr „Gottesdienst“ ist in Wirklichkeit eine stete religiöse Ichparade. Scheinbar immer in der Gegenwart Christi, ist man in Wirklichkeit nie in seiner Gegenwart, sondern immer nur bei sich selbst. Man denkt gar nicht daran, der Lust an sich selbst zu entfliehen. – Mein teurer Hörer, geht es dir wirklich darum, jetzt in die Gegenwart Jesu zu kommen oder bist du nur der beharrlich reservierte Pharisäer? Sitzest du hier und denkst: Hören kann man ja! Aber nur sich nichts vergeben! Nur nicht sich geben! – Bitte, prüfe deinen „Gottesdienst“! Und nun höre weiter!

Wir wollen jetzt den zweiten Menschen in der Gegenwart Jesu ins Auge fassen. „Und siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin.“ Nicht wahr, das ist eine andere Lebensgeschichte als die des Pharisäers Simon. Ein stadtbekanntes sündiges Weib, wie häßlich! Gewiß viel häßlicher noch als Simons Dünkel. Das wird diese Frau wohl selbst gewußt haben; denn ich glaube, sie gefiel sich seit langem selbst nicht mehr. Ich glaube, eine heimliche Trauer über den Betrug der Sünde hat lange im Herzen dieser Frau gelegen. Nun hörte die tief mit sich selbst Unzufriedene von Jesus. – Du, wird man ihr gesagt haben, in des Pharisäers Simons Hause liegt ein etwa dreißigjähriger Mann zu Tisch, der ist ganz, ganz anders als alle Männer! – So, wie ist er denn? – O, er ist so ernst, und doch macht er die Trauernden fröhlich. Er ist ganz anders als die Pharisäer! – So? Wieso denn? – O, er ist so gut und – so rein! Er läßt die Sünder zu sich kommen, ganz dicht an sich herankommen – und spricht sie von ihren Sünden los. – Was sagst du? Er spricht von Sünde los? Den muß ich sehen! Den muß ich hören! Aber ach, es geht ja nicht! Er ist ja in des Pharisäers Haus! Wie dürfte eine solche wie ich in jenes fromme Haus eintreten! Schade, schade! Und doch, ich wage es! Mehr als hinauswerfen lassen kann mich ja dieser Pharisäer nicht! – Sie will dem sündigen Treiben enteilen und vielleicht – ich weiß es nicht – denkt sie, könnte ich dem seltsamen Manne etwas Gutes tun! greift nach einer Alabasterflasche, die ins faltige Gewand verschwindet – und eilt hinweg. –

Sieh sie eilen! Rückhaltlos, vorbehaltlos, unaufhaltsam dringt sie in Simons Haus ein. Welch ein anderes Kommen in die Gegenwart Jesu! Sie will nicht überlegen prüfen, ohne alle Reserve kommt sie, um zu sehen, zu hören und zu empfangen. Nichts möchte sie zurückbehalten! Alles ist sie bereit zu geben! Was denn? Ach, höre! – Ein Leben voll Sünde – ein Herz voll Reue – und eine Alabasterflasche voll Salbe. Mit dem dringt sie bebend ein in Jesu Gegenwart. Sieh, entweder kommt man wie der Pharisäer oder wie diese Sünderin in die Gegenwart Jesu. Entweder ladet man ihn unter allem Vorbehalt zu Gast bei eigenem Besitz und Ruhm und erwartet von ihm die Anerkennung und Belohnung der eigenen Tugend, oder man eilt zu ihm mit einer hungernden Seele und erwartet von ihm nichts Geringeres als den Losspruch von der eigenen Sünde. Entweder wollen wir selbstgefällig ihn prüfen, oder er soll als Richter unseres Wesens unser Erbarmer werden.

Ich denke, dies sündige Weib drang mit einer solchen Unaufhaltsamkeit in des Pharisäers Haus ein, daß niemand es abzuweisen wagte. Und ich denke, sie brauchte nicht erst zu fragen, welcher von den Gästen Jesus sei. Ich denke, sie erkannte ihn sofort an der Einzigartigkeit seiner Erscheinung, am Glanz seiner Reinheit und am Strahl seiner Güte. Ich denke, sie glaubte sofort unbedenklich an seine göttliche Vollmacht. Und kaum sah sie die Hoheit des Reinen, so entsetzte sie derart die Niedrigkeit ihres eigenen Wesens und Lebens, daß sie rückhaltslos über beides weinen mußte. Die erste Wirkung der Gegenwart Jesu auf sie waren Tränen der Buße über ihre Sünden. Welch ein Unterschied zwischen dem Pharisäer und ihr! Tränen der Buße, kennst du ihren Wert? Gott hält die Waagschalen: Lege in die eine den größten Diamanten der Erde und laß in die andere eine Bußträne tropfen, – du weißt, der Edelstein schnellt wie gewichtlos in die Höhe. Die Perlen solcher Tränen bringt das Weib dem zu Tisch liegenden Gottessohn. Sie tritt hinten zu seinen Füßen und weint. Und bemerkt wohl gar nicht, wie der Fall ihrer Tränenperlen seine Füße trifft, die nicht zucken, nicht fliehen. Bis sie entsetzt sieht: Tränen aus ihren Augen auf diesen Füßen! Muß sie diese Tränen nicht wegwischen wie Schandflecke, die den Reinen entehren? Aber womit abwischen? Ach, hat die ungestüme Eile des Eindringens in seine Gegenwart ihr schon das lange Haar gelöst oder löst es jetzt der Schreck über die benetzten Füße oder löst es die verlegene Hand? Sie ergreift die vornüberfallende Haarsträhne und wischt ab und trocknet die immer noch stillen Füße. Und beugt sich, um noch besser, noch reiner zu trocknen. Da kommt ihr Angesicht so nahe, oder ist es der Schreck, daß nun auch ihr Haar, – ihr Haar sein reines Fleisch befleckt, und muß sie auch diese Schmach sühnen? – Ihr Mund stürzt sich auf die stillen Füße und küßt und küßt, wie er noch nie geküßt. Zucken die Füße noch immer nicht? Nein, aber der Schreck mag jetzt zucken durch den küssenden und sogleich erstarrenden Mund, – wie durften die unreinen Lippen den Frevel wagen? Sind die Küsse nicht schlimmer als die Tränen? Womit jetzt sein entweihtes Fleisch heiligen? – Soll sie mit den Falten ihres Gewandes die Spur ihrer Küsse tilgen? Schon greift sie, – da fühlt sie die Alabasterflasche mit der kostbaren Salbe. Ah, die Salbe, die duftende Salbe für ihn! Und salbte seine Füße mit Salbe.

Ach, dies Bild! Dies einzig große wunderbare Geschehen! So unmittelbar menschlich! So unmittelbar göttlich! Niemand kann es ganz beschreiben, weder mit Stift noch Farben, noch Worten; denn niemand kann es ganz enträtseln, ganz deuten. Und doch hat's eine einwandfreie Deutung, es ist die der rückhaltslosen, unbedenklichen, ungestümen und zugleich zagend ehrerbietigen Hingabe einer nach Reinheit und Erlösung dürstenden Frauenseele an Jesus. Es ist das Bild der Gegenwartswirkung des Gottessohnes auf eine aufrichtig in seinen Kreis getretene Sünderin. Es ist das Bild der Buße einer leidenschaftlichen Frauennatur und zugleich das Bild der Befreiung von aller Sünde und allem Leid der Leidenschaft. Es ist auch das Bild des Trostes für alle großen Sünderinnen und Sünder. Der so seine Füße der ehrlichen Büßerin gab, ohne Zucken, ohne Abwehr, ohne ein Wort der Unterbrechung des großen schönen Geschehens, der hat mit seinem Verhalten in diesem Bilde dir aufs trostreichste erläutert, was es heißt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ Nur daß du wirklich in seine Gegenwart, wirklich zu ihm kommst! Du siehst, deine Sünden trennen dich nicht von ihm, sondern nur dein Nichtkommen! Also komm rückhaltlos in seine Gegenwart! Wisse dich jetzt in seiner Gegenwart! Und so höre und sieh jetzt weiter! Der Pharisäer Simon denkt jetzt einen echt pharisäischen Gedanken. Das stadtbekannte sündige Weib von der Schwelle zu jagen, hatte er nicht gewagt. Des Weibes Ungestüm, mit dem es Jesus huldigte und des Meisters hingebende Hoheit, mit der er diese Huldigung annahm, haben ihn bisher gebannt. Kein Wort wagte er zu sagen. Aber um so pharisäischer hat er gedacht. Pharisäer denken gerne. Ihre Gedanken sind immer heimliche und selbstherrlich überlegene Gedanken. So auch jetzt. Die unmittelbare Herzensgewalt des Vorgangs, den er eben beobachtet, die große schöne Hingabe des Weibes an Jesus, lassen in Simons Pharisäerherz keinen anderen Gedanken ausreifen als den: „Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.“ – Ich nenne diesen Gedanken einen echt pharisäischen; denn er strotzt von ichbewußter, selbstgefälliger Überlegenheit. Anstatt Mitfreude über die Buße der Sünderin, anstatt Beschämung angesichts der rückhaltlosen Innigkeit solcher Buße, nur gesteigerter, beinahe höhnischer, schadenfroher, selbstzufriedener Pharisäerdünkel. Mit innerlich lächelnder Wonne wird festgestellt: Jesus ist kein Prophet! Denn wäre er ein Prophet, so müßte er doch wissen, daß dies Weib, das ihn da so gemein anrührt, eine ekle Sünderin ist; wie dürfte er sich so verunreinigen lassen! Ah, ihm, dem Simon, hätte sie so kommen sollen! Wie eine giftige Natter hätte er sie von sich geschnellt und wäre in ein Bad gestiegen und hätte laut gebetet, um sich von der geschehenen Schmach zu reinigen. Also ist der Gast entlarvt. Er ist ein Unwissender und Unheiliger. Man ist bereits mit ihm fertig. Es lohnt sich eigentlich gar nicht weiter, ihn noch im Hause zu haben. Der Fall ist bereits entschieden und erledigt. Das Ergebnis ist: Jesus kein Prophet, das Weib die bekannte ekle und nun widerlich dreist gewordene Sünderin, und er, Simon, gottlob, der ausgezeichnete fromme Mann. – Teure Hörer, nicht wahr, dieses pharisäische Denken lebt von Haus aus in uns allen. Du weißt, wie die Menschen von dem innerlichen wonnigen Triumph, anderen überlegen zu sein, die Hoffart ihres Daseins bestreiten. Immer rechnet man heraus, daß man klüger und besser ist als andere. Immer entscheidet und leitet das heimliche und offenbare Wohlgefallen, das man an sich selber hat. Siehe, ich sage es noch einmal: Wir sind geborene Pharisäer. Aber nun siehe Jesus an, wie er den Pharisäer Simon und uns alle in die Schule nimmt. Laßt uns in dieser Schule lernen!

Wunderbar erweist jetzt Jesus sein wahres Prophetentum, indem er als wahrer Herzenskündiger, der da weiß, was im Menschen ist, auf Simons bloßen Gedanken antwortet. Es heißt so treffend schön in der Geschichte: Jesus antwortete. Es ist tatsächlich die Antwort auf einen Gedanken. Aber welch eine Antwort! Sie ist die Einleitung zu einer einzig weisheitsvollen Erziehung, die die Liebe des wahren Propheten mit dem ichverblendeten Pharisäer beginnt. „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“ Welch eine milde und gelinde Antwort auf den dünkelhaften pharisäischen Gedanken Simons! – O ja, Jesus hat uns immer etwas zu sagen, dem Simon, dir, mir, uns allen! – Aber Simon merkt noch nichts. In aller Selbstsicherheit spricht er: „Meister, sage an.“ – Beachte, wie er schönrednerisch – und das ist wiederum echt pharisäisch – den noch Meister nennt, den er soeben innerlich als Stümper verworfen hat. Sage an, spricht er. Das soll aber nur noch heißen: Rede du nur! Ich weiß bereits, woran ich mit dir bin. Was kannst du mir jetzt noch Sonderliches sagen. Aber die Höflichkeit überwindet mich noch, dir zuzuhören.

Und der Meister, der Lehrer sagt an. Es ist gerade, als bekäme nun erst sein Besuch in diesem Hause deutlichen Zweck und klares Ziel. Während die Sünderin immer noch zu seinen Füßen liegen mag, unternimmt der Meister die erzieherische Zurechtweisung des Pharisäers durch die einfache Erzählung einer Geschichte, eines Gleichnisses. Er erzählt von einem gewissen Gläubiger, der zwei Schuldner hatte; der eine schuldete fünfhundert, der andere fünfzig „Groschen“ oder Denare; nimm‘s, wie du's willst, die Geldsorte ist Nebensache. Die Hauptsache kommt jetzt. Nämlich, da sie nicht hatten zu bezahlen, schenkte er's beiden. Und dann die eigentliche Zweckfrage: Welcher unter denen, sage, wird ihn am meisten lieben? – O Simon, merkst du noch nichts? Siehst du noch nicht, wer in dein Haus getreten ist? Verstehst du noch nicht, daß dir der gottbevollmächtigte Lehrer in dieser deiner Stunde die Rechnung deiner Lebensschuld vorzeigt und überweist? Hast du noch nicht herausgehört: Fünfhundert und Fünfzig? Du hast recht, die Fünfhundert, diese große Summe, schuldet das sündige Weib; aber Simon, wer schuldet denn die Fünfzig? Sieh, die solltest du als deine Schuld herausfinden und anerkennen! Wirst du es jetzt tun? – Ach, nichts fällt uns geborenen Pharisäern schwerer, als aus allen Berichten vom Leben und von Menschenschuld unsere eigene Schuld, meine Schuld, deine Schuld herauszuhören und anzuerkennen! O, das gelingt vollkommen nur in der Gegenwart Jesu! Aber Simon war eben nicht in der Gegenwart Jesu, obgleich Jesus bei ihm war. Höre: Die Gegenwart Jesu bringt uns Erkenntnis unserer Schuld vor Gott! Das Gleichnis, das uns Jesus erzählt, gilt uns allen. Es ist das Gleichnis von Schuld und Gnade. Der Schuldherr ist Gott, die Schuldner sind wir. Was meinst du wohl, wie es mit deiner Schuld vor Gott stehe?

Gibt es ein Gebot Gottes, das du nicht übertreten hast? Denn hast du nicht grob übertreten, so hast du doch fein übertreten. Du hast nicht mit dem Beil getötet, aber du hast mit dem Herzen gehaßt, und gerade Jesus hat uns gesagt, daß beides vor Gott gleich gilt. Du hast nicht mit grober Tat die Ehe gebrochen, aber du hast in deinem Herzen begehrt, und wiederum sagt uns Jesus, daß beides vor Gott ein und dasselbe ist. Wer ist denn hier kein Mörder und Ehebrecher? Wer hat denn hier nicht die Gebote Gottes übertreten? Wer ist denn hier in Jesu Gegenwart unschuldig? – Niemand! Wer will seine Hundert anerkennen? Wer seine Fünfzig? Denn die Erzählung des Gleichnisses von Schuld und Gnade aus dem Munde Jesu im Hause des Pharisäers Simon bedeutet auch die Überreichung der Schuldrechnung Gottes durch Jesu Hand an uns. Glückselig, wer diese Rechnung willig in Empfang nimmt!

Denn – höre ganz deutlich! – Die Schuldrechnung, die Jesus damals dem Simon überreichte, war quittiert. Es stand darauf: „Da sie aber nicht hatten, zu bezahlen, schenkte er's beiden.“ – Wer nicht hat zu bezahlen, was er schuldig ist, und die Schuldsumme auch nirgends aufbringen kann, ist ein Bankrotteur. Zwei Menschen in der Gegenwart Jesu bedeutet also: Zwei Bankrotteure in der Gegenwart Jesu. Das war damals so und das ist noch heute so. Wer wirklich in Jesu Gegenwart kommt, der erkennt seine Zahlungsunfähigkeit. Aber wer wirklich in Jesu Gegenwart kommt, wird auch zugleich von jeglichem Fehlbetrag und Bankrott seines Lebens geheilt. Immer ist es ein Dreifaches, was uns der gottbevollmächtigte Heiland bringt, erstens, Erkenntnis unserer Schuld, zweitens, Erkenntnis unseres Bankrotts, drittens, Erkenntnis der Vergebung unserer Schuld. – Simon, der Pharisäer, hat von allen dreien an jenem Tage nicht eins erlebt. Und keiner, der Pharisäer bleibt, das heißt, sich Jesus gegenüber reserviert verhält, wird jemals etwas von diesem dreifachen Heil erleben. – Simon will seine Fünfzig nicht sehen. Er sieht nur die Fünfhundert der großen Sünderin, der gegenüber er sich in unvergleichlichem Vorteil glaubt. Es ist wahr, des sündigen Weibes augenscheinliche Lebensschuld ist im Gleichnis zehnmal höher in Rechnung gesetzt als die des Pharisäers. Aber was nützt der geringere Schuldbetrag des einen, wenn beide darin gleich sind, daß sie nicht haben zu bezahlen! Ob ich mit Fünfhundert oder mit Fünfzig bankrott bin, ist doch schließlich gleich. Bankrott ist bankrott! Eigentlich ist's ja noch beschämender, Fünfzig nicht bezahlen können, als keine Fünfhundert haben. Ach, wie viele rühmen sich, nicht so schlecht, keine so großen Sünder gewesen zu sein, als ob das ihre Zahlungsunfähigkeit vor Gott verringerte! Machst du's auch noch so? Frage dich! Denn der halbe Pharisäismus ist so schlimm wie der ganze. – Simon sieht also weder seine Schuld noch seinen Bankrott. Aber er sieht auch nicht die Quittung, die liebreich und erbarmungsvoll entgegenkommende Gnade des Schuldherrn. Er versagt in allen dreien, versagt gänzlich, versagt aufs bedauerlichste und bleibt, was er war und ist, eben ein Pharisäer, das heißt, ein Mensch, der weder schuldig noch bankrott noch begnadigt sein will. Der so milde Versuch Jesu, den Pharisäer durch das erzählte Gleichnis vom Pharisäismus zu heilen, erweist sich jetzt schon als gescheitert.

Dennoch tritt gerade jetzt noch das meisterhaft Feine des Verfahrens, das Jesus zur Heilung Simons eingeschlagen, besonders zutage. Höre! Simon, der ichverliebte Pharisäer, der vom göttlichen und menschlichen Leben und von hingebender Dankbarkeit so gut wie nichts versteht, muß jetzt sagen, wer am meisten liebt. O, er sollte über diese Frage stolpern und purzeln! Er sollte durch sie aufs Angesicht fallen. Er sollte seine ganze Lieblosigkeit und Undankbarkeit vor ihr erkennen. Er sollte seinen ganzen bisherigen Gottesdienst als lieblosen eitlen Ichdienst quittieren lernen. Aber dergleichen tut ein Pharisäer nicht. Nicht um eine Linie sinkt die Höhe seiner Selbstbewertung, nicht um einen Grad das Fieber seiner Selbstgefälligkeit. Nein, sondern pharisäisch, sachlich und korrekt gibt Simon die äußerlich richtige Antwort: „Ich achte, der wird am meisten lieben, dem er am meisten geschenkt hat.“ – Sag, hörst du den ausgezeichneten Mann nicht reden? Volltönig, gewichtig, selbstbewußt und sachbewußt hat er sein maßgebendes Urteil abgegeben; denn das können die Pharisäer alle ausgezeichnet. Auch ich und du. O, der Unterschied zwischen religiösem Wissen und ichverneinender Tat! Und doch werden wir einmal alle aus unseren Worten, gemäß unserem aufblähenden Wissen gerichtet werden, wenn wir uns nicht jetzt schon selbst richten. So ist nun auch Simon dem Gericht verfallen. Das Gastzimmer wird zum Gerichtssaal.

Jesus sprach: „Du hast recht gerichtet.“ Mit diesen Worten beginnt das Gericht über Simon. Sein eigenes Urteil wird nun ihm zum Urteil. Nun kommt der Aufruf zur Verantwortung wegen seiner Fünfzig, die ihm geschenkt worden, und für die er Jesus gegenüber die demütige, dankbare Liebe unterlassen. In einem dreimaligen Gerichtsgang erhebt und vollendet sich jetzt die Anklage gegen Simon, den Pharisäer. Jesus „wandte sich zu dem Weibe und sprach zu Simon.“ Wie sonderbar! – Dem Weibe das Licht seines Angesichts schenkend, erhebt Jesus die erste Anklage gegen Simon. „Simon, siehst du dies Weib?“ beginnt sie. Teurer Hörer, hörst und siehst du hier die göttlich strafende Weisheit? An der Gestalt einer büßenden Sünderin knüpft sie an. Das niedrige Weib wird zum Muster und Beispiel erhoben, an dem nun der stolze Pharisäer gemessen wird. Welch ein Gericht! Konnte es eine größere Demütigung für Simon geben, als die Frage: „Simon, siehst du dieses Weib?“ Hatte Simon sie nicht immer gesehen, mit Ärger und Zorn gesehen, seitdem sie vor seinen Augen in seinem Hause erschien? Hatte er ihr Gebaren vor Jesus nicht mit steigendem Unwillen beobachtet? War ihm die Ekle nicht während all der Zeit der Dorn im Auge gewesen?

Und jetzt muß er die Frage hören: „Simon, siehst du dieses Weib?“ Ja, nun soll er die büßende Sünderin recht sehen lernen! Ihre Hundert hatte er gesehen, ihre Buße nicht. Das Gleichnis von Schuld und Gnade hatte Simon nicht begriffen, – nun soll er vor dem lebendigen Wirklichkeitsbilde der büßenden Sünderin zur Selbsterkenntnis und Selbstbeschämung hinabgeführt werden. Der verhängnisvolle Vergleich zwischen ihr und ihm als erster Gerichtsgang beginnt. Höre und sieh! – „Ich bin gekommen in dein Haus, du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet.“ – „Du hast nicht,“ – „diese aber hat!“ – zwischen diesem furchtbaren Gegensatz wuchtet nun das Gericht über Simon. Es wird offenbar, Simon, der Pharisäer, hatte die landesübliche Sitte, dem eingetretenen Gast Wasser für das Waschen der Füße zu geben, nicht beobachtet. Es hatte diese Verweigerung wohl mit zu dem Vorbehalt und der Reserve gehört, mit denen der kluge Mann sich vor einer verfrühten Anerkennung und Ehrung Jesu zu schützen suchte. Nun hatten die Tränen der hereingeeilten Sünderin tun müssen, was der Pharisäer nicht getan. Freund, wenn Jesus in dein Haus kommt, erwartet er von dir unbedingte Anerkennung und Huldigung, als Zeichen deines demütigen Selbstgerichtes, das dir seine Gegenwart bringen will. Bist du dazu nicht bereit, so wird dir Jesu Eintritt in dein Haus zum Gericht, wie jetzt beim Pharisäer Simon, und die Zöllner und Huren, die in der Gegenwart Jesu ihren Sinn ändern, werden dich richten und beschämen. Nun siehst du auch, wie Jesus die Perlen der Bußtränen, die aus der Sünderin Augen fallend, seine Füße schwemmen mußten, so unvergleichlich doppelt hoch wertet, und wie das Trocknen seiner Füße mit der Sünderin Haar ihm zur schönen Tat wurde, die er jetzt vollwertig quittiert. Rückhaltslos erfolgt die Verurteilung Simons in seinem eigenen Hause durch den geschmähten Gast, der sich jetzt mit göttlicher Vollmacht zum Richter des Hausherrn erhebt. Der von Simon innerlich abgewiesene Gast weist nun den Gastgeber hinaus und stellt ihn außerhalb aller wirklichen Gemeinschaft mit sich selbst. Jesus ist Herr hier und sonst niemand.

Nun kann der zweite Gerichtsgang folgen. „Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber, nachdem sie hereinkommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.“ – Wiederum derselbe verhängnisvolle Gegensatz: „Du hast nicht,“ – „diese aber hat“! – Ob wohl Jesus bei seinem Eintritt den Kuß von Simons Munde erwartet hatte? Ich glaube kaum. Denn das wäre wohl zu viel vom reservierten Pharisäer verlangt gewesen. Nein, aber als des Weibes Herz in der Gegenwart Jesu brach, da sollte auch des Pharisäers Herz in der Gegenwart Jesu brechen. Als die Sünderin dem Heiland für seine reine befreiende Gegenwart mit ihren Küssen dankte, da hätte auch der Pharisäer in demütiger Erkenntnis des in sein Haus eingetretenen Gottessohnes wissen sollen, daß es im zweiten Psalm heißt: „Küsset den Sohn, daß er nicht zürne und ihr umkommet auf dem Wege …!“ – Zu solchem Wissen und Tun ist der kritische Pharisäer in dieser seiner Stunde leider nicht reif geworden. Von dem Weibe aber bezeugt jetzt Jesus, daß es während der ganzen Zeit nicht abgelassen hat, seine Füße zu küssen. Weit entfernt, diese Tat zu tadeln, wird sie jetzt vielmehr dem Weibe als Zeichen ihrer innigen Hingabe an den Herrn bestätigt und nur dem Simon zur Schande gerechnet. Siehe, deshalb haben vorhin Jesu Füße nicht gezuckt und ruhen auch jetzt noch stille unter den Küssen, von denen gewissermaßen jeder einzelne durch Jesu Hoheit und des Weibes Niedriggesinntsein zu des Gottessohnes Ehre gebucht wird. Liebe Seele, siehe, so lohnt dein Heiland jede Tat des Glaubens, jedes Zeugnis deiner Herzenshingabe an ihn, deinen Erretter! Aber so bucht er auch jede Verweigerung deines Herzens dir zu Gericht und Schande! Was willst du? Wähle!

Der dritte Gerichtsgang beginnt. „Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salbe gesalbt.“ Es wäre wohl das höchste Zeichen des demütigen Glaubens an den „Messias“, den Christus, den Gesalbten gewesen, wenn Simon, ihm huldigend, das Haupt mit Öl gesalbt hätte. Ach, wie weit war der Pharisäer davon entfernt! Darum wird bei diesem dritten Gerichtsgang wesentlich sein Unglaube gerichtet. Das ichverblendete Hochmutsauge erkannte in Jesus den Messias nicht, – das war der verhängnisvolle Fehlbetrag jener Stunde in des Pharisäers Leben. „Du hast nicht, …“ – „diese aber hat …“, diese zum dritten Male aus Jesu Munde sich wiederholende Gegenüberstellung kann jetzt so vollendet werden: Du hast nicht geglaubt, – diese aber hat geglaubt. – An Jesus, als an den Gesalbten Gottes, wird immer nur der wahrhaft und selig glauben, der wahrhaft und unselig aufhört, an sich selbst zu glauben. Das kann kein Pharisäer; denn eben der Pharisäer lebt ja vom Glauben an sich selbst! Er macht ja sich selbst zum Mittel-, Höhe-, Ausgangs- und Endpunkt; wie sollte Christus so hoch und er selbst so gering werden? Nein, nein, er hatte kein Öl für das Haupt des Messias; denn er hatte keinen Glauben in seinem Herzen für ihn. – O, teurer Hörer, beachte aber mit welchem Anspruch Jesus ins Haus des Pharisäers getreten ist; denn nicht anders will er auch in dein Haus und Herz treten. Er fordert nichts Geringeres von dir, als daß du im vollen Umfange seiner Gottessohneswürde gedemütigten Geistes an ihn glaubst. An den Propheten hätte wohl Simon noch zur Not geglaubt, aber siehe, hier war mehr als ein Prophet! – Doch nun gedenke der wahrscheinlich entleerten Alabasterflasche des sündigen Weibes. Nicht das Haupt des Herrn, nur seine Füße hat die Büßerin mit ihrer aus der schwülen Sündenstube mitgebrachten Salbe gesalbt, aber wie eine Salbung des Hauptes wird ihr jetzt diese Tat angerechnet. Denn nicht die Füße meinte ja das Weib, sondern das Haupt, an das sie unbedenklich geglaubt, als sie in das Haus eindringend seine Hoheit geschaut. Von diesem Haupt wird nun Simon gerichtet, das Weib aber gerechtfertigt.

Keine Zusammenfassung des Urteils über Simon erfolgt. „Du hast nicht …“, das ist die eine Anklage, das ist auch das furchtbare Urteil, bei dem es bleibt. Kein Wort mehr über Simons Schuld an Simon. Sein Unglaube trägt nun sein Gericht in sich selbst: „Wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet“ (Joh. 3,18). Aber hören soll Simon trotzdem noch etwas. Was denn? Der Pharisäer soll hören den in göttlicher Vollmacht gegebenen Freispruch des sündigen Weibes von seiner Sünde. Und so wie vorhin sich Jesus dem Weibe zuwandte und von ihrem Tun ausgehend zu Simon sprach, so wendet sich jetzt Jesus dem Simon zu und spricht, von seinem Nichttun ausgehend, zu ihm von ihr. „Deshalb sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ – Ganz im Anschluß an das Gleichnis von Schuld und Gnade, das vorhin Simon belehren sollte, erfolgt nun der Sünderin Losspruch. Ganz nach dem Verhältnis der Schuldangabe im Gleichnis wird nun von ihr verkündigt: Ihr sind viele Sünden, – nämlich im Verhältnis von Fünfhundert zu Fünfzig, – vergeben, und wird hinzugefügt: denn sie hat viel geliebt. – Es gibt eine gemeine und ganz niederträchtige Auslegung, richtiger, Verdrehung dieses Erlöserwortes, die kurz so lautet: Weil dieses Weib viele Liebhaber gehabt, also viel sinnlich, fleischlich, leidenschaftlich geliebt, darum sind ihr jetzt viele Sünden vergeben. Wie oft habe ich, als ich noch im Kreise geistreich sein wollender Sündenknechte lebte, die lästerliche Redensart gehört: Wer viel geliebt hat, dem wird ja wie der großen Sünderin, einmal viel vergeben werden! – Wer unter uns wagt von nun an, das Jesuswort unserer Geschichte so zu mißbrauchen? Ich hoffe, dieser Frevel ist uns heute Abend vergangen. Wie hat denn Jesus sein Wort gemeint? Nun, nicht anders, als es die ganze Geschichte zuläßt. Nie und nimmer ist die leidenschaftliche Größe des früheren Trieb- und Lustlebens die Ursache der Größe der Sündenvergebung. Nicht des Weibes früheres Leben ist gemeint, sondern der Büßenden jetziges Lieben vor Jesus. Des Heilandes Worte wollen sagen: Sieh nur, wie viel sie eben geliebt hat, also muß sie wissen, daß ihr in dieser Stunde viele Sünden vergeben worden sind; denn so liebt nur, wer weiß, daß ihm viel vergeben ist. Und dazu paßt der Schlußsatz: „Welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Diese Worte gelten dem Simon beinahe zur Entschuldigung. Ihm sind ja nur Fünfzig vergeben; wie könnte er lieben wie jemand, dem Fünfhundert erlassen? Aber die Entschuldigung ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit wird sie Simon zum völligen Gericht; denn er hat ja nicht einmal für seine Fünfzig geliebt! Sein Pharisäerauge hat ja weder Schuld noch Bankrott noch Vergebung gesehen! Darum ist der Herr auch jetzt nach dieser letzten Erklärung mit dem unbelehrbar gebliebenen, unbußfertigen Pharisäer fertig. Kein Wort fällt ihm mehr zu! Jesu Auge und Angesicht verlassen ihn. Für den einen Menschen in der Gegenwart Jesu ist der Ausgang dieser Lebensstunde entschieden; er heißt: Gerichtet!

Aber noch hat Jesus kein Wort zu dem anderen Menschen in seiner Gegenwart geredet. Noch hat die büßende Sünderin nicht in Worten gehört, was sie längst im Herzen vernommen und empfangen. Noch harrt ihr äußeres Ohr auf den Vollklang des ihr persönlich zugesprochenen Freispruchs von allen ihren Sünden. Da läßt der gottbevollmächtigte Messias ihr den vollen Glanz seines Angesichts leuchten und spricht zu ihr: „Dir sind deine Sünde vergeben.“

– Hört ihr den Himmelston seiner Worte? Hört ihr den weichen runden Vollklang seiner Güte? Hört ihr den jedes Wort durchströmenden Einklang seiner Liebe? – Freund, durchquere die weite, weite Welt, vernimm die Rede aller Großen dieser Erde, lausche den Gesängen der reifsten Dichter, schlürfe mit deinem Ohr die überwältigendsten Symphonien der größten Tonkünstler, berausche dich an den Wohlklängen ihrer gewaltigsten Schöpfungen, und dann lerne vergleichen mit diesem einen Satz aus des Einen Munde, des Einen, der an Gebärden auch als ein Mensch erfunden wurde und der doch geredet, wie nie ein Mensch geredet. Freund, wer je in Jesu Gegenwart gestanden, wer je vor ihm geängstigten Herzens geatmet, wer je vor seiner Hoheit in der Niedrigkeit bis zum Vergehenmögen gelegen, wem je vom Blitzstrahl der Reinheit des Gottessohnes das eigene unreine Herz gespalten und zerschlagen wurde, wer jemals vor dem allein Sündlosen über die eigene Sünde in tränender Buße überfloß, harrend auf das Friedenswort der Erlösung von der entsetzlichsten Qual, die es auf Erden gibt, von der Qual und dem Übel der Schuld, der weiß, daß es keinen hehreren Klang für das Menschenohr und Menschenherz geben kann, als den aus deines Erlösers Munde: „Dir sind deine Sünden vergeben.“

Freund, hast du das erlebt? – Seit Jesus auf Erden geschaut ward, gibt es zweierlei Menschen – die einen sind noch immer hingenommen von der Lust an sich selbst, sie sind Pharisäer geblieben, die die Welt mit dem Posaunenschall ihres Ruhmes zu erfüllen suchen, und gerät ihnen doch nichts als Unruhe, Sünde, Betrug und Verderben –, die anderen sind mühselig und beladen in Jesu Gegenwart gelangt, wo sie verzweifelt an sich selbst, aber glaubend an ihn, das Vollmachtswort des Gottessohnes sich aneignen durften: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ – Sie wissen:

Ach, es wär zum Weinen,
Wenn kein Heiland wär,
Aber sein Erscheinen
Bracht den Himmel her.

Die einen zweifeln und haben ihre Lust an sich selber und an allem, was diese Lust begehrt; die anderen glauben und haben ihre Lust am Herrn, der ihnen gibt, was ihr Herz wünscht, das ja fortan nichts mehr wünschen kann als ihn. – Freund, zu welchen von beiden Menschenarten gehörst du? Wisse, daß dich nichts vom Empfang der Vergebung deiner Sünden abhält, als nur der arme Unglaube deiner unseligen pharisäischen Ichbehauptung! Komm, gib dich in der Gegenwart Jesu preis! Laß dich los! Erkenne deinen Bankrott! Glaube nicht mehr an dich! Erwarte nichts mehr von dir! Laß fahren die Ursache all deines Irrtums, Betrugs und Unfriedens, – dich selbst laß fahren! Tue den größten Schritt, den menschliche Einsicht und menschlicher Wille tun können, – tue den Schritt von dir selbst hinweg über dich selbst hinaus zu Jesus hin, der der Urheber, Erretter und Herr deines Lebens ist! Willst du diesen Schritt zu Jesus hin nicht tun, dann weiß ich dich jetzt am Schluß dieser Geschichte und dieser Stunde auf der Seite der Gegner Jesu, nämlich auf der Seite der nun innerlich ingrimmig murrenden Pharisäer. Denn höre, – allemal, wenn eine Menschenseele sich für Jesus entscheidet und Vergebung ihrer Sünden durch ihn empfängt, gibt's zweierlei, nämlich Jubel der Errettung beim begnadigten Sünder und Murren der Entrüstung beim beleidigten Pharisäer. Wie mag es dem Weibe zumute gewesen sein, als endlich die ersehnten Worte: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ wie aller Liebe Gottes Glockenklang auf sie niederschwangen! Das wage ich gar nicht zu beschreiben, weil es nicht beschrieben, sondern nur erlebt werden kann. Aber das andere kann und muß noch beschrieben werden. Nämlich, während die begnadigte stadtbekannte Sünderin im Himmel der Gemeinschaft mit Jesus ist, sind Simon und das ganze Pharisäernest, das den entscheidungsreichen Vorgang miterleben mußte in der Hölle des fressenden Ärgers. Wie mag diese Hintergrundsgesellschaft jedes Geschehen in jener Stunde in prinzipienfester Teilnahme für den Kollegen Simon miterlebt haben! Wie mögen sie gegen das unreine Weib die Stirne gerunzelt haben!

Aber nun ist das Weib beinahe vergessen. Die ganze innere Empörung geht jetzt gegen den, der erst diese eklige Sünderin geduldet, dann sie gelobt und dem ehrenwerten Hausherrn und Kollegen sogar zum Vorbild gesetzt, und nunmehr sich anmaßt, – o es ist zum Zähneknirschen! – sich anmaßt und vermißt, Sünden zu vergeben, dieser Verworfenen da ihre Sünden zu vergeben! – O sie beben vor Ärger! In jedem bohrt der gleiche Ingrimm, ballt sich die gleiche Entrüstung zur Frage: „Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?“ Siehe, das ist aller Pharisäer letzter Ärger: „Wer ist dieser …?“ Mit dem Aufwerfen dieser Frage steht ihr bedrohtes Ich zum Kampf und Angriff auf gegen Jesus. Siehst du, wie sie sich bereits innerlich zusammenrotten wider ihn? Bemerkst du, wie das Haus des Simon ein Heerlager und eine Waffenstätte werden muß gegen Jesus?

Siehst du sie schon von hier aus ausziehen, um teilzuhaben an dem Triumph der Rache, der sich vollendete vor dem Kreuz auf Golgatha? – O ja, entweder wird man vor dem herniedergekommenen Gottessohn ein armer Sünder und erfreut sich seiner mit nie gekannter Freude oder man bleibt vor ihm ein ichbewußter, selbstherrlicher Pharisäer und ärgert sich an ihm mit nie gekanntem Ärger! Ein anderes gibt es nicht; denn niemand kann vor ihm neutral bleiben. Vor jedem Großen aus der Menschheit kannst du dich der Entscheidung für oder gegen ihn entziehen, aber vor dem einen und einzig Großen vom Himmel her nicht. Vor Christus Jesus entscheidet sich unser Schicksal. Wer sich da nicht entscheiden will, der hat sich schon gegen ihn entschieden. Er, der allein Sanftmütige und von Herzen Demütige ist auch zugleich der Stein des Anstoßes und der Fels des Ärgernisses. Wer im Anschritt des Ärgers gegen ihn auf ihn fällt, der wird zermalmt werden, wen aber er in Erfüllung heiliger Gottesgerichte anfällt, der wird zerschmettert werden. Darum selig, wer sich nicht an ihm ärgert! Und höre! – du wirst dich genau so lange an ihm ärgern, bis du dich einmal endgültig gründlich an dir geärgert hast! Von da ab liebst du ihn und hassest dich! Das hatte die Sünderin in Simons Hause erlebt; wann willst du es erleben?

Siehe, aller Pharisäer Ärger gegen Jesus gipfelt stets in der Entrüstungsfrage: „Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?“ Ich habe es vorhin schon gesagt: als Prophet hätte man Jesus im Hause des Pharisäers zur Not noch geehrt, vorausgesetzt, daß er keinerlei Ichruhm verletzt hätte. Aber nun hatte er sich nicht nur der Sünderin zugeneigt, sondern ihr klar und unmißverständlich die Vergebung ihrer Sünden zugesichert. Das war zu arg. War es nicht schon genug gewesen, daß er, der Zweifelhafte, den man doch erst einmal kritisch prüfen wollte, einfach eine Huldigung im Glauben erwartete, wie sie mit dem Wissen und der Ehre eines Pharisäers unvereinbar war? Aber nun noch die unerhörte Anmaßung, sich zu gebärden, als habe er Macht, Sünden zu vergeben, eine Macht, die doch nur Gott allein zukommt! Damit stellte er sich ja geradezu außerhalb der Reihe der Menschheit! Ja, damit setzte er sich ja an Gottes Statt! Und das mußte doch Wahn sein, frevelhafter Wahn! Also hatte er hier gar nichts mit weise sein sollenden Reden zu richten, sondern war selbst nur ein vermessener Tor, ein irrender Mensch, vor dem man sich zu nichts mehr verpflichtet wußte, nein, zu nichts mehr, – doch, doch, noch zu einem, zu dem einen, daß man ihn als … Gotteslästerer greife und …

Ah, sieh, – dahin kommt der pharisäische Unglaube! So ist's jetzt seit zwei Jahrtausenden. Immer ist's der gleiche Kampf, immer dasselbe Ergebnis! Als besonders begabten, als prophetisch veranlagten Menschen, als religiöses Genie ließe man schließlich Jesus noch gelten, nur müßte er sich auch da noch der Kritik aller Religions- und Bildungspharisäer unterwerfen, aber als im Fleisch der Menschen erschienenen eingeborenen Sohn Gottes, in dessen Gegenwart wir zu armen, verlorenen Sündern werden, denen er dann in der Macht, die ihm sein Vater gegeben, Vergebung der Sünden schenkt um deswillen, daß er, wie er selbst gesagt, sein Blut für unsere Sünden vergösse, – o da bäumt sich alles im Pharisäer auf! Nur das nicht hören müssen, nur das nicht! Nur keine Vergebung der Sünden durch ihn! Nur nicht durch sein Blut! Nur Jesus nicht als Gottessohn und Gotteslamm, das für unsere Sünden hat sterben müssen! Hinweg, hinweg mit einem solchen Christus! – Siehe, so bringen sie ihn immer wieder ans Kreuz – und sein Blut fließt dennoch wieder für sie und kommt dennoch wieder über sie und ihre Kinder! – Das ist die stete Tat der Pharisäer aller Zeiten. Denn Jesus Christus erschien und starb für die Sünde der Menschheit; des Menschen Sünde aber ist seine Selbstliebe und Ichgröße, die allezeit Auflehnung gegen Gott und seinen Christus bedeutet, in welchen Formen sie sich auch zeige. Diese Auflehnung als selbstweise, selbstgerechte Ichbehauptung soll in der Gegenwart Jesu ihren Bankrott, ihr Ende, ihren Tod finden. Es ist der Tod jedes Pharisäismus, sei es der des religiösen oder der des intellektuellen Dünkels. Und siehe, das will der Mensch als geborener Pharisäer nicht!

Er will vor diesem Jesus kein armer, verlorener Bankrotteur und Sünder werden! Er will sein Eigenleben nicht hassen und lassen und sich Jesus als dem Erretter und Herrn seines Lebens bedingungslos überlassen. Und siehe, darum gibt's zum Schluß immer nur das eine heilige Entweder-Oder! –: Entweder man verwirft sich oder man verwirft Jesus, – entweder man wird ein armer Sünder oder man bleibt ein Pharisäer. Das ist der inwendigste Sinn der göttlich schönen Geschichte, von der ich einleitend sagte, wir wollen sie inwendig lernen. O, daß du gelernt hättest, teurer Hörer! Denn unsere Geschichte und Stunde gehen zu Ende. Kein Wort mehr hat Jesus für die verblendeten Gegner. Währenddem sie ihr Ärger frißt, steht er vor ihren Augen auf in ihrer Mitte. Denn ich denke, er hat sich nun erhoben, um das Haus zu verlassen, das ihn doch nie wirklich aufgenommen. Zuvor aber entläßt er das begnadigte Weib zu seinen Füßen. Daß es über die ganze Gesellschaft hintönt wie allein gültiger Gottesgedanke und Gottesbeschluß, hoch über alle pharisäischen Menschengedanken und Menschenbeschlüsse, spricht er zu dem Weibe: „Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin mit Frieden!“

Ich möchte so schließen. Die verstehen wollen, haben ja längst verstanden. Aber doch sei das Zweifache noch aus Jesu Schlußwort gelernt. Nicht sagt Jesus: Deine Tränen, deine Küsse, deine an mich gewandte Salbe haben dir geholfen. Er sagt auch nicht: Deine ehrliche Buße hat dir geholfen. Nein, er sagt: Dein Glaube hat dich errettet. So löst er die entsühnte Frau los von jeder zukünftigen Selbstsicherheit, als ob etwa das Werk ihrer Hände den Freispruch von Sünde veranlaßt hätte, nein, nur ihr Glaube, der ihrem bereiten Herzen durch Jesu Gegenwart geschenkt ward, dieser Glaube an den gottbevollmächtigten Sünderheiland, dieser Glaube, dem sogleich die lebendig schöne Tatenblüte entsprossen, – dieser Glaube allein hat sie gerettet. – Auch dich und mich rettet in Ewigkeit nichts anderes! Und noch einmal sei es gesagt: Solcher rettende Glaube an den Herrn wird nur empfangen, wenn wir den trügerischen Glauben an uns selbst lassen. Nun noch das andere: Wer solchen Glauben empfangen, der geht hin mit Frieden. – Was ist das für ein Friede? Du weißt, es ist der Friede, der höher ist als alle Vernunft.

Er ist die Ruhe in der Entlastung von uns selbst. Er ist die Feierstille in der Erlösung von unserem eigenen wirren Tun und aller Unruhe und allem Lärm unseres angeborenen pharisäischen Wesens, mit all seiner Mühe und Last und – Schuld. Es ist der Friede mit Gott; denn da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus (Röm. 5,1). Und es ist der Friede als Ruhe im Werk und Wesen Christi, der mich erlöst, als er Friede gemacht durch das Blut seines Kreuzes (Kol. 1,20). Und es ist der Friede Christi in mir, als Innewohnung seines Geistes in mir, der durch ihn neu gewordenen Kreatur. Denn er selbst ist unser Friede.

O Menschenkind, dieser alles Denken übersteigende Friede soll dein Teil werden durch den Glauben an den Sünderheiland Jesus Christus, in dessen Gegenwart du ihn empfangen sollst! – Friede als gottgewirkte Erlösung von deinem größten Feinde, nämlich Friede als Erlösung von deinem angeborenen pharisäischen Ich! Wie gehst du jetzt hinaus aus dieser Geschichte und dieser Stunde? Mit Ärger an Christus oder mit Frieden in ihm? Ich glaube, jenes entsühnte Weib hat, seitdem es in Jesu Gegenwart gewesen, nie mehr leben können, wie es zuvor gelebt hatte. Der Geist des Herrn, der es überwältigt, war der Bringer eines neuen Lebens geworden. So sei es jetzt bei all denen, die in dieser Stunde in die Gegenwart Jesu gekommen sind! Wirst du zu diesen gehören?

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