Bengel, Johann Albrecht - Predigt über Röm. 6, 12-14.

Bengel, Johann Albrecht - Predigt über Röm. 6, 12-14.

Wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht; die Knechtschaft der Sünde aber ist ein erschreckliches Elend. Dieses Elend nimmt jedoch ein Ende, wenn man der Wahrheit Gehör schenkt. „Wenn ihr die Wahrheit erkennet,“ - sagt uns der Heiland, - „so wird euch die Wahrheit frey machen.“ Denn nachdem sie die, von Ihm dargebotene Gnade genommen haben, waltet diese in ihnen, und stärkt und regiert ihren Willen, so daß sie nicht mehr der Sünde Knechte sind. Von diesen wichtigen Materien handelt der Apostel Paulus insbesondere im 7. und 8. Kap. seines Briefes an die Römer, aus welchen die Episteln auf den letzten und nächstbevorstehenden Sonntag genommen sind. Es wird aber gewiß heilsam für uns seyn, auch die dazwischen liegenden Verse ausführlich zu betrachten, daher wir uns dießmal insbesondere mit dem 12 - 14. Verse beschäftigen und solchen gemäß vorstellen wollen:

die alleredelste Freiheit, nämlich die Freiheit der Kinder Gottes von der Sünde.

I.

Der Grund dieser Freiheit ist: Sie sind nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Gnade ist ein fröhliches Wort, Gnade Gottes das fröhlichste unter allen. Sie ist der Vernunft zwar unbekannt, aber tröstlich dem Glauben. Sie macht ein gut, munter, freudig Herz. Eine jede Sache wird desto klarer erkannt, wenn man auch ihr Gegentheil betrachtet, daher wollen wir es hier auch so machen. Dem „unter der Gnade seyn“ wird entgegengesetzt das „unter dem Gesetz seyn,“ und das „unter etwas seyn“ heißt so viel, als unter dem Trieb, der Macht und Gewalt des Gesetzes oder der Gnade dergestalt stehen, daß man im Herzen und Gewissen dadurch eingenommen, und in allem seinem Thun und Lassen dadurch regiert wird. In einem dieser beyden Stände ist Jeder, dem es auf einige Weise um Gott zu thun ist, und der da glaubt, daß ihm etwas an Gott gelegen sey. Es gibt aber auch Leute, die Gott nicht suchen, und diese sind weder unter dem Gesetz noch unter der Gnade; sondern sie sind ohne Gesetz. Röm. 7,9. Es gibt also drey Klassen:

  1. Die ohne Gesetz sind, leben in Sicherheit dahin.
  2. Die unter dem Gesetz sind, leben in Angst und Furcht.
  3. Die unter der Gnade sind, die leben in Zufriedenheit.

Es gibt Niemand, der nicht in einer von diesen drey Klassen stände. Wir werden aber keine ohne die andere recht kennen lernen, daher wollen wir sie alle betrachten, auf daß

  1. die Sicheren sich fürchten lernen;
  2. in den Furchtsamen die Sehnsucht nach Freiheit erwache, und
  3. die Freigemachten gegen Sicherheit und Furcht sich wahren.

1.

Wir wollen mit dem Zustand der erstern beginnen. Da ist der Mensch weder unter dem Gesetz noch unter der Gnade. Das Gesetz verdammt ihn zwar, aber er fühlt es nicht. So sind die Meisten zu dieser Zeit. Da gehen die Lüste ihren ungehinderten Lauf, und der Mensch folgt denselben frey, und läßt sich nichts abgehen; Alles ist ihm süße, er thut, was er will. Das Gesetz, das er hat, ist nichts als sein eigener Wille und roher Sinn. Wenn Gott mit Seiner Forderung kommt, so spricht er entweder: Hebe dich von uns, oder läßt es doch allmählig so vorbey rauschen. Er geht in Eigenliebe und Blindheit dahin, und weil Gott stille schweigt, so meinet er, es habe keine Noth. Wenn es ihm aber beyfällt, daß Gott gerecht und ein Rächer des Bösen, aber auch barmherzig sey, so ergreift er unbesonnener Weise etliche Sprüche zu seinem Stichblatt, und stirbt darauf hin, ohne auch nur einen Augenblick vor der Hölle zu erschrecken, bis er wirklich darin ist. Er ist der Leibeigenschaft so gewohnt, daß er keine Freyheit verlangt, selbst wenn sie ihm angeboten wird. Gewinnt er auch einmal Wohlgefallen an der Tugend, so währt es nicht lange; er stirbt über seinen Wünschen, zu deren Ziel ihn seine Unwissenheit und Bosheit niemals kommen lassen.

2.

Es ist also eine große Gnade, wenn Gott solchen Leuten Seinen heil. Ernst und Eifer zu erkennen gibt, und durch eine scharfe Ahndung sie züchtiget. Das erfahren die in der zweyten Klasse befindlichen, d. i. die unter dem Zwang und Drang des Gesetzes stehenden. Es sollen zwar alle Menschen dem Gesetze gehorchen, und in sofern stehen Alle unter demselben, aber es werden hier solche bezeichnet, welche nichts Anderes fühlen, als das Gesetz. Da kommt das Gesetz mit seiner Forderung, straft und richtet alles Thun und Lassen, auch das Verborgenste und Unschuldigste. Es verbietet dem Menschen Alles, dräuet. drücket und verfolgt das Gewissen mit dem Fluch. Das Gesetz gibt Erkenntniß der Sünde, und richtet nur Zorn an. Die Sünde wird recht sündig. Da wird Alles rege. Der Mensch entsetzt sich, versucht's auf diese und jene Art mit allerley äußerlichen Uebungen, aber aus eigenen Kräften; aber wie diese nichts taugen, so kann auch nichts Tüchtiges daraus kommen. Und wie der Mensch vorhin nichts hat für Sünde gehalten, also wird ihm nun Alles zur Sünde; er weiß sich weder zu rathen, noch zu helfen. Das Gewissen ist schwach, schüchtern, zaghaft, ergo, reich in Jammer und Noth, Mühe und Arbeit. Er will Gutes thun, und es will ihm doch nicht von Herzen gehen. Er gibt zwar dem Willen Gottes Recht, aber er hat die Kraft nicht, ihn zu erfüllen.

Der zuerst geschilderte Zustand und dieser zweyte stießen oft in einander, oder wechseln mit einander in einem und demselben Menschen schnell ab. Die Menschen beyder Gattung sind beschlossen unter die Sünde, und es findet nur der Unterschied statt, daß die Letzteren es fühlen. Beyde sind gefangen; aber jene gehen gerne in ihren Banden, diese wären gern los, aber wissen es nur nicht anzugreifen. Doch sucht das Gesetz die Letzteren nach seinem eigenthümlichen Amte zu Christo hinzuleiten und zum Glauben zu bringen. Bey welchen ihm dieß gelingt, die gehören zu der dritten seligen Klasse, welche unter der Gnade ist. Durch den Glauben werden sie frey von ihrer Schuld. Durch das Gefühl der Gnade wird das Gewissen erheitert, der Verstand wird erleuchtet durch die Erkenntniß des Willens Gottes; Vertrauen und Liebe wird in die Seele gegossen und eine lebendige Hoffnung, Leben und Kraft aus Gott und willigem Gehorsam. So findet denn das Gesetz nichts mehr, das tadelnswerth wäre. Die Sünde hat kein weiteres Recht mehr. Die Seele wacht. Der Geist ahndet auch die geringste Verirrung des Menschen. Der Mensch bewahrt sich in Allem. Er zieht Kräfte an sich aus Christo. Welch eine wichtige Sache! Hienach hat ein Jeder unter uns vor Allem zu forschen und zu trachten.

Wer noch genaueren Bericht hierüber begehrt, der wolle sich auf's Beste anbefohlen seyn lassen die Vorrede des sel. Luther über das Alte Testament, wo er insonderheit dieser dreierley Schüler des Gesetzes Meldung thut, und dieselben deutlich beschreibt. Dabey kann ein Jeder sehen, in welche Klasse er gehört. Außerdem lese man das 6-8. Kap. an die Römer.

3.

Wie nun die beyden ersten Klassen unglückliche sind, so ist diese dritte eine glückliche. Aber wie die zu jenen gehörigen sich bemühen sollen, zu dieser zu gelangen, so haben die Letztern Acht zu geben, daß sie nicht zurückfallen. Dieß leitet auf den zweyten Theil, die Pflicht der Frommen, daß sie nämlich nicht der Sünde, sondern Gott gehorchen und auf solche Weise ihre Freiheit behaupten sollen.

2.

Den unter der Gnade Stehenden gibt der Apostel die Ermahnung: „Lasset die Sünde nicht herrschen“ u. s. w. Die Sünde ist auch noch in den Gläubigen, als eine Wurzel, und ist noch thätig. Daher kommt die Lust und ihr Gefühl. Sie treibt den Willen an, sucht die Glieder zu ihren Werkzeugen zu gebrauchen, und wo ihr dieses gestattet wird, da herrscht sie. Die äußerlichen Glieder, Augen, Ohren, Zungen, Hände, Füße, stehen ihr zu Gebot. Wo es so weit kommt, da fällt der Mensch wieder aus einer Sünde in die andere, und sodann unter das Gesetz. Wir müssen daher die Sünde unterdrücken in der Kraft des HErrn, z. B. den Zorn, die Unmäßigkeit, die Trägheit, den Geiz, Matth. 5, 29. Im Gegentheil müssen wir uns Gott zu Diensten überlassen, und die Glieder zu Waffen der Gerechtigkeit brauchen. Röm. 12, 1.

Das ist unsere Pflicht. Das Sündigen ist eine traurige und schimpfliche Knechtschaft. Wir tragen zwar noch an uns den Leib des Todes, aber wir sollen uns als Lebendige erzeigen. Gal. 2, 19. 20. Und wir können es auch. Tod und Leben Christi wirket in uns. Ja die Frommen können nicht anders, als Gutes thun; denn wenn sie eo nicht thun, fallen sie wieder unter das Gesetz. Die andern können es freilich nicht. Ihnen sagt man vergeblich: Laßt die Sünde nicht herrschen. - Die äußere That können sie wohl verhindern zuweilen, aber innerlich sind sie eben böse. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn sie sich über die Unmöglichkeit beklagen, das Gesetz Gottes zu halten. Sie verrathen sich damit selbst. Fragt nun ein solcher, was soll ich thun, soll ich also fortfahren? so ist die Antwort: Sobald Gott uns die Sünde entleibet, und ein aufrichtiges Verlangen schenkt, davon los zu werden, Ist schon Gnad dabey, und es ist ein Anzeichen, daß Er uns frey machen wolle. Wir müssen Ihm also entgegen kommen mit Gebet, und die ersten Eindrücke wohl anwenden. Denn wofern wir in der Sünde beharren, bleiben wir immer unter dem Gesetz.

Hienach können wir auch beurtheilen den Zustand der Christen unserer Tage. Gebt also ein wenig Achtung. Wir haben Gesetz und Evangelium so reichlich; aber die Wenigsten brauchen beides auf die rechte Art, daher haben sie keiner Freiheit sich zu erfreuen, ja sie ist ihnen sogar unbekannt, sie stehen weder unter dem Gesetz noch unter der Gnade. Es ist nicht zu viel, wenn man sagt: Sie treten Gottes Gesetz mit Füßen, und ziehen Seine Gnade auf Muthwillen, und wo es möglich wäre, so stürmten sie Ihm den Himmel gar, daß Er sie dereinst nicht richten könnte. Ist doch Alles so gar aus der Art geschlagen, daß, wenn man nur die ersten Grundlehren vom rechten Christenthum berührt, man fast keine Anwendung auszusinnen weiß, weil nämlich solches Alles sich so gar nicht auf dieses unchristliche, ja widerchristliche Christenleben reimet. Sie maaßen sich mit einem ehebrecherischen Herzen die Gnade an, und von dem Gesetz thun sie, was ihnen gelegen, und ihrem eigenen Willen, Ehre und Nutzen ohnedem zuträglich ist, damit sie gleichwohl noch etwas haben, daß sie sich selbst für Christen halten können, im Uebrigen achten sie der Gnade und des Gesetzes sowenig, daß, wenn Moses alle Stunden und Augenblicke zu ihnen käme, er jedesmal seine Gesetztafel beym Anblick eines so losen Volkes zerbrechen würde. Die Hauptursache liegt in der verkehrten Kinder-Erziehung, da werden die Leute von Jugend auf des Bösen gewohnt. Sie thun, was sie wollen, sowohl die Obern als die Untern, jedes Alter und jedes Geschlecht. Und wer weiß, was erst im Verborgenen geschieht. Solchen Leuten ist nun, wie die Erfahrung beweist, nicht beyzukommen, bis Gott sie selber aufs Nachdrücklichste angreift; das Aergste bey ihrem Zustande ist der gefährliche Betrug, der darunter vorgehet, da denn diese erbarmungswürdigen Leute durch ungeschickten Gebrauch der an sich heilsamen Gnadenmittel sich in ihren Sünden noch weiter stärken, und sich nach ihrem eigenen Willen und Phantasie bald in diese, bald in jene Klasse setzen. Das sieht man allermeist zu solchen Zeiten, da sie, wie sie sagen, fromm werden (ja immer werden, und niemals bleiben) wollen; das ist, wenn sie zur Beicht und Communion gehen wollen. Da wandern sie geschwind nach eigenem Gutdünken, und gleich als im Traume alle diese Klassen durch. Am Freitag sind sie noch ohne Gesetz; am Samstag unter dem Gesetz; am Sonntag unter der Gnade, und das verrichten sie mit unvernünftiger Andacht und kaltsinnigem Eifer. Darnach vergessen sie wieder Alles, und am Montag wollen sie wiederum sich weder von dem Gesetz noch von der Gnade leiten lassen, zum Zeugniß, daß auch ihre Samstagsbuße und ihr Sonntags-Glaube nur Heucheley gewesen, oder doch, daß sie die dazwischen gekommene Wirkung des H. Geistes nicht dankbarlich angenommen haben. Ach, daß über solchen Jammer, denen, die darin stecken, die Augen aufgehen möchten! denn es ist gewiß, daß dieß eben diejenige Schanze ist, dahinter sich alle diejenigen, die ihrem Gnadenkönige noch nicht haben unterthänig werden wollen, stellen, damit man ihnen mit keiner Buß- oder Gnaden-Predigt beykommen kann. Will man sie dadurch auf etwas Besseres führen, daß man ihnen Anleitung zu einer schärferen Prüfung ihres Seelenzustandes gibt, so sehen sie dasselbe für unnöthig, verdächtig oder gar seelenverderblich an, und meinen, man wolle ihnen den Glauben aus dem Herzen reißen, welchen sie doch vorhin in der That nicht haben, sondern erst darnach ringen sollten. Andere dagegen behelfen sich mit allerhand Uebungen; sie bemühen sich, aber nicht auf eine freie Art. Ihnen ist zu wünschen, daß sie die Gnade mit vollem Herzen annehmen, und sich ganz an Gott ergeben möchten. Die aber, welche stehen, sollen fortfahren.

Quelle: Burk, Johann Christian Friedrich - Dr. Johann Albrecht Bengel's Leben und Wirken

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