Bengel, Johann Albrecht - An Fr. Chr. Oetinger.

Bengel, Johann Albrecht - An Fr. Chr. Oetinger.

1733

Ich preise die göttliche Treue, die mich gegen Andere immer besser lässet offenbar sein, als gegen mir selbst, und mich doch auch bewahret, daß ich mich dessen, was mir so milde entgegenscheint, nicht annehmen kann. Je ein dürrer Land nun das meinige ist, desto mehr freuet es mich, daß ich andere so wacker daher grünen, blühen und Frucht tragen sehe, sowohl an sich selber, als um der Hoffnung willen, daß ihr Ueberfluß durch viele Erträglichkeit und Fürbitte meinen Mangel erstatten wird. Ich muß immer Luft und Athem haben zum Leben; aber was alle Augenblicke durch Athem holen (per respirationem) vorbei ist, daran gedenke ich nimmer und muß immer neues schöpfen. So verhält es sich auch mit meinem innern Stand und mit allen Reden und Wirkungen, die daraus fließen, und deßwegen fürchte ich mich fast vor einer Affectation, wenn ich von demjenigen, was meinethalben sonst vor allen Kreaturen entdeckt sein dürfte, etwas entdecken solle, was meine innere Verfassung betrifft. Doch bin ich meiner selbst schon lang gewohnt und warte in Geduld, bis ich zeitig werde, aus dieser Hülle auszuschließen, der guten Zuversicht lebend, der Meister der neuen Schöpfung werde dasjenige, was ich Andern schuldig bleibe, auf andere Weise hereinbringen. Ich sorge, wenn man ausführlich darlegt, wie sich Viele, als sie dem prophetischen Wort zu folgen vermeint, in vorigen Zeiten betrogen haben, so möchte man ein Mißtrauen schöpfen und diesem Licht noch weniger folgen wollen, welches doch in seinem rechten Gebrauch und Glanz dem Volke Gottes auf seiner Reise die beste Leitung gibt. Ich muß die Schrift immer mit einem Lagerbuch vergleichen, woraus ein jeder Bürger seine Pflichten und Beneficien erlernt; aber noch wichtiger ist dasjenige, was darin die sämmtliche Commune angeht, wiewohl sich nicht eben ein Jeder darum bekümmert. Also geht die Lehre von der Buße, Glauben, Liebe, Geduld, Hoffnung u. s. w. in etlichen Sprüchen zur Genüge für einen Jeden in das Besondere nahe genug zusammen; aber wenn wir uns in diese Lection gefunden haben, so muß uns das ganze Wort Gottes theuer und werth sein, und sollen wir keine solche Schüler abgeben, die aus Ihres Meisters Vorrath nur dasjenige herauslesen wollen, was sie selber nach ihrem Begriff für das Tauglichste achten, zu einer Zeit vornehmlich, da es besondere Versuchungen sehen will, muß man sich um das Specifische, was uns im Wort der Wahrheit an die Hand gegeben wird, bewerben; sonst möchte man mit allgemeinen Mitteln nicht zureichen, wenn man jenes, da es angeboten wird, aus eigener Klugheit unter dem Schein einer bescheidenen Vergnüglichkeit ausschlägt: Gott führt seine Gemeine von Anbeginn her durch das Warten auf das Zukünftige, und zwar nicht nur auf das Aeußerste, sondern je und je auf das nächst Künftige. Ich sehne mich, der Arbeit, die der Buchstabe erfordert, ein Ende zu machen und besser zu Kraft zu dringen, doch muß gewiß eben diese aus jener herkommen. Es hat Alles seine Zeit, Maß und Ordnung. Ich klebe weder an diesen noch an jenen Dingen. Laßt uns nur eindringen zur Wahrheit selbst. Das Licht wird sich hernach immer durch mehrere Farben äußern und doch die Oberhand behalten. Nur nichts gar von sich abgewiesen, im Uebrigen aber immer an der Hauptsache geblieben. Ob wir selbst oder Andere um ein Geschlecht nach uns das gute Ziel erleben werden, liegt nichts daran. Wer sich indessen darnach richtet, wird es doch hier und dort auf vielerlei Weise zu genießen haben und sich und Andern nütze sein.

Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren

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