Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 17. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 17. Predigt

Text: Matth. V., V. 43-48.

Ihr habt gehöret, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben, und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen: auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn Er läßt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Wir stehen, Geliebte, am Schlusse unserer Betrachtungen über den ersten Theil der Bergpredigt. Es ist der sechste Fall, welchen Jesus im Texte zur Erläuterung seines Hauptsatzes: daß Er nicht gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, anführt. Es ist die höchste und herrlichste Offenbarung des christlichen Sinnes, durch dessen Entwickelung und Förderung der wahre Christ als das Salz der Erde und als das Licht der Welt sich darstellt. Der Christ liebt nicht nur seine Freunde auf eine ganz andere Weise, als die Welt sie liebt; er liebt sogar seine erbittertsten Feinde, und in dieser Feindesliebe offenbart sich der höchste Adel seiner Gesinnung und der höchste Schwung, den der Glaube an den Herrn hienieden nehmen kann. Darum bildet auch dieses Gebot den herrlichen Schluß aller einzelnen Erläuterungen der Pflichten wahrer Jünger Jesu Christi. Wie Jesus sie begonnen hat mit dem Gebote der Nächstenliebe, so schließt Er sie mit dem Gebote der Feindesliebe und zeigt 1) wie Christen ihre Feinde lieben, und 2) warum sie ihre Feinde lieben können und müssen.

I.

Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und dein Feind hassen. Eigentlich lautet das Gebot des Alten Testaments nur: “Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst; denn ich bin der Herr.” (3. Mose 19,16.) Die Pharisäer und Schriftgelehrten aber, auch in diesem Punkte wieder, wie in den früheren, die Schrift verfälschend, hatten eigenmächtig den Zusatz gemacht: “Und deinen Feind hassen.” Wie entfernt das Alte Testament von jenem Feindeshasse war, leuchtet nicht nur aus den ausdrücklichen Vorschriften des Gegentheils hervor, sondern auch aus manchen köstlichen Erweisungen der rührendsten Feindesliebe. Hatte Gott doch bestimmt genug geboten, daß jeder Israelit die Fremden, die nicht seiner Nation waren, die Feinde, ja jeden Menschen, lieben solle.

(2. Mos. 23,4.5. Wenn du deines Feindes Ochsen oder Esel begegnest, daß er irret: so sollst du ihm denselben wieder zuführen. Wenn du deß, der dich hasset, Esel siehest unter seiner Last liegen, hüte dich, laß ihn nicht, sondern versäume gerne das Deine um seinetwillen.

Spr. 24,17. Freue dich des Falles deines Feindes nicht, und dein Herz sei nicht froh über seinem Unglück.

Spr. 25,21.22. Hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brod, durstet ihn, so tränke ihn mit Wasser; denn du wirst Kohlen auf sein Haupt häufen, und der Herr wird dir’s vergelten.

Hiob 31,29. Habe ich mich gefreuet, wenn’s meinem Feinde übel ging, und habe mich erhoben, daß ihn Unglück betreten hatte?)

Und wenn Joseph, weit entfernt, sich an seinen Brüdern zu rächen, nachdem er sie hinlänglich auf die Probe gesetzt und von den Gesinnungen ihrer Reue sich überzeugt hatte, sich ihnen zu erkennen giebt und für alles Böse, das sie ihm gethan, ihnen nur Gutes erweiset; wenn David seinen Todfeind Saul in der Höhle verschonet, und nicht die Hand legen will an den Gesalbten seines Herrn, sondern ihm nur den Zipfel seines Rocks abschneidet, so daß der menschenfeindliche König, durch solche Großmuth überwunden, weint und ausruft: “Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Du bist gerechter, denn ich;” (1. Sam. 24,18.) wenn derselbe David dem Simei, der ihn auf der Flucht mit Steinen geworfen, Alles vergiebt, und jede Schmach, die ihm dadurch widerfahren, aus Gottes Hand annimmt; (2. Sam. 16,10. 19,23.) wenn Salomo bei der Einweihung des Tempels sogar für die Heiden zu Gott betet, daß Er erhören wolle jedes Gebet, das sie in diesem Heiligthume vor ihn brächten; (1. Kön. 8,41-43.) wenn Elisa dem Könige Joram befiehlt, die in Samaria gefangenen Syrer nicht zu tödten, sondern zu speisen und zu tränken und dann frei nach ihrem Vaterlande zu entlassen (2. Kön. 6,22.); wenn Israel endlich unter dem Könige Pekah auf die Erinnerung des Propheten Obed die Gefangenen aus Juda kleidet, ihnen zu essen und zu trinken giebt und die Schwachen auf Eseln gen Jericho zur Palmenstadt führt zu ihren Brüdern (2. Chron. 28,15.): kann es herrlichere Vorschriften und Beispiele der Feindesliebe geben, als die angeführten? Dennoch hatten die Pharisäer in frevelnder Willkür aus dem Gesetz: “Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst,” den Gegensatz gezogen: “Den aber, der nicht dein Nächster ist, sollst du hassen;” sie stellten einen Gradunterschied auf zwischen dem Nahen, Näheren und Nächsten; sie machten zum Gegenstande ihrer Spitzfindigkeit und Grübelei die Frage: Wer ist denn mein Nächster? und schlossen aus den früheren göttlichen Verordnungen an Moses und Josua über die Ausrottung der Kananiter und über die Vermeidung eines zu nahen Umgangs mit den Heiden (2. Mos. 23,32.33. 5. Mos. 7,1.), daß fortan kein Liebes- und Freundschaftsverhältniß obwalten dürfe zu den Feinden ihres Glaubens und Volkes, sondern nur Spannung, Haß, Feindschaft und Verfolgung; ja, wählten sich sogar als eins der Hauptkennzeichen der messianischen Zeit den Umstand aus, daß Israel dann herrschen würde über alle seine Feinde. Dieser Verfälschung des göttlichen Gebotes tritt nun Jesus im Texte scharf und bestimmt entgegen durch die Erklärung: ”Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.” Der wahre Jünger Jesu Christi soll also nicht bloß seinen Nächsten lieben und gegen ihn versöhnlich (v. 22-26.), treu (v. 28-32.), wahr (v. 33-37.), und friedliebend (v. 38-40.) sein, sondern auch seinen Feind; ja, diese Feindesliebe soll sich auf vierfache Weise offenbaren: durch Lieben, Segnen, Wohlthun, und Fürbitten.

Also zuerst: Liebet eure Feinde, als wären sie nicht eure Feinde, sondern Freunde und Nächsten. Lieben heißt: wohlwollende Gesinnungen gegen Andere hegen. Die Feindesliebe hat demnach keine Bitterkeit im Herzen gegen den Andern; sie denkt nicht an das Böse, das er ihr erwiesen: sie hat es ihm längst vergeben und vergessen. Sie zankt und zürnt nicht seinen teuflischen Gesinnungen und Handlungen; sie weiß sie zu entschuldigen, zu verkleinern, durch fehlerhafte Erziehung, durch verhängnißvolle Umstände, durch Einflüsterungen anderer Menschen zu erklären. Sie legt nicht jedes seiner Worte und Thaten auf das Böseste aus, sondern denkt immer bei sich selbst: am Ende hat er es doch nicht so arg gemeint und selbst nicht einmal gewußt, was er gethan hat. Sie weiß: Frieden hat er doch nicht bei diesem seinem feindlichen Treiben, im Herzen ist er doch ein unglücklicher Mensch; warum wollte ich durch gleiche feindselige Gesinnung ihm nun noch das Leben schwer machen und vergällen. Nein, ich will ihn nach wie vor lieb haben, als wäre nichts zwischen uns vorgefallen, und von dem Allen, was er gethan hat, nicht geschehen. So verharrt sie in ihrer wohlwollenden Gesinnung; läßt sich auch von Andern nichts einflüstern und einreden; freut sich, wenn es ihrem Feinde wohlgeht, und trauert, wenn ihm Unglück widerfährt; weint mit dem Weinenden und freut sich mit dem Fröhlichen; wünscht ihm Heil und Segen zu Allem, und nimmt den herzlichsten Anteil an seinen Schicksalen, möchte lieber selbst leiden, wenn dadurch ihm geholfen werden könnte, geholfen an Leib und Seele, geholfen in Zeit und Ewigkeit.

Sodann: Segnet, die euch fluchen! Segnen heißt sowohl freundliche, als bessernde Worte aussprechen. Die Feindesliebe spricht demnach nur Gutes von ihrem Feinde und zu ihrem Feinde; denn sie weiß: Worte sind auch Waffen und Schwerdter, mit denen man tödtlich verwunden kann, wenn sie nicht in der Scheide der Weisheit und Liebe stecken und mit zarter Hand geführt werden. So kommt denn keine Bitterkeit aus ihrem Munde, keine Kränkung, keine Verläumdung und Lästerung, keine Befleckung seines guten Namens; es ist ihr daran gelegen, daß jeder gut denke von ihrem Feinde und es mit ihm ebenso meine, wie sie es mit ihm meint. Wichtiger aber noch, als das Glück und die Freude, ist ihr die Besserung ihres Feindes, daß er wirklich ein anderer Mensch werde, statt der Lieblosigkeit Liebe, statt des Argwohns Vertrauen, statt der Abneigung Uebereinstimmung, statt des Fluches Segen in seinem Herzen fühle und belebe und es einsehe, daß sie es nicht böse, sondern allezeit wahrhaft gut mit ihm gemeint hat. So beobachtet sie denn die apostolische Ermahnung: “Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach.” (Ps. 4,8.) So läßt sie über ihre Lippen nur kommen, was nützlich ist zur Besserung und holdselig ist zu hören. So hilft sie dem Gefallenen wieder zurecht mit sanftmüthigem Geiste und giebt ihm Winke und Anweisung, wie auch er könne Frieden finden für sein unruhiges, getrübtes Herz.

Dann: Thut wohl denen, die euch hassen: Wohlthun heißt: durch die That am Wohle des Andern arbeiten und in Werken der Liebe ihm seine Liebe offenbaren. Die Feindesliebe handelt daher auch in demselben Geiste, in welchem sie denkt, fühlt und spricht; sie beweiset ihrem Gegner alle nur möglichen Freundschaftsdienste, Gefälligkeiten, Hülfsleistungen, Unterstützungen, und entzieht ihm nichts darum, weil er ihr Feind ist. Sie läßt ihn Theil nehmen an dem ganzen Umfange ihrer Mildigkeit und Wohlthätigkeit; sie läßt kein Mittel unbenutzt, um Umwandlungen in ihm hervorzurufen, wie sie nur die Liebe schaffen und zeugen kann. Wenn daher ihr Feind hungert, so speiset sie ihn; wenn ihn durstet, so tränkt sie ihn; wenn er in Noth und Elend geräth, hilft sie im Stillen, ohne daß die Linke weiß, was die Rechte thut, und sammelt durch Liebeserweisungen der Art glühende Kohlen auf sein Haupt und beschämt ihn dermaßen, daß er entwaffnet in dem ganzen Ungrunde seine Bosheit dasteht, und, gerührt durch so viel Edelmuth, ihr um den Hals fällt und um Vergebung bittet.

Endlich, das Letzte: Bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen! Fürbitten heißt: dem Andern Gutes erflehen von Gott, und das ist die schönste und heiligste Offenbarung der Feindesliebe. Von dieser geheimsten Herzensthat ist ja Niemand Zeuge, als Gott allein; sie ist nur möglich in einem Herzen, das sich vollkommen selbst verläugnet hat, und es kann hier jedenfalls keine Heuchelei stattfinden. Wer für seine Beleidiger und Verfolger noch beten kann, dem ist es gewiß Ernst mit ihrem Wohle, der hat sie aufrichtig und von Herzen lieb, der hat einen recht tiefen, bleibenden Eindruck von ihrem innern Elend und Jammer, dem fällt gewiß kein Opfer zu schwer, wenn Gott es fordern sollte zum Dienste des Andern. Die Fürbitte ist die Probe aller und jeder Liebe. Die Fürbitte befähigt zu allen andern Erweisungen der Liebe: habt ihr gegen irgend Jemanden etwas auf dem Herzen, betet für ihn, und die Sündenlast ist euch sofort abgenommen, ihr könnt ihn wieder lieben, wie ihr ihn ehemals in bessern Tagen geliebt hattet. Die Fürbitte trägt den Beweis ihres Segens zugleich in ihrer Kraft; wenn es, was es nicht ist, möglich wäre, daß Gebet und Flehen für uns selbst unerhört bliebe: das Gebet der Liebe, die Fürbitte für Andere, dringt unaufhaltbar, mit unwiderstehlicher Allgewalt, durch die Wolken zum Throne aller Gnaden.

Sehet, so hat Christus geliebt Seine Feinde bis zum letzten Hauche; Er hat sie gesegnet, Er hat ihnen wohlgethan, Er hat für sie gebetet am Stamme des Kreuzes: “Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!” So hat Stephanus seine Mörder geliebt, als er im Augenblicke des Todes niederkniete und flehete: “Herr Jesu, behalte ihnen ihre Sünde nicht!” So hat Paulus seinen Verfolger geliebt, denn er konnte von sich rühmen: “Man schilt uns, so segnen wir; man verfolgt uns, so dulden wir’s; man lästert uns, so flehen wir.” (1. Cor. 4,12.) Und reich ist die Geschichte der christlichen Kirche an ähnlichen Beispielen großherziger Feindesliebe. – Es ist wahr, auch das Heidenthum entbehrt nicht ganz solcher glänzenden Heldenthaten; aber prüfen wir sie näher, so sind sie alle aus Kaltblütigkeit, Klugheit, stolzem Selbstvertrauen, nicht aus Herzensliebe hervorgegangen. Früchte der letztern Art hat allein der christliche Boden gezeitigt und getragen. – Und doch, Geliebte, hören wir aus demselben heiligen Munde, der am Kreuze betete: “Vater, vergieb ihnen, sie wissen nicht, was sie thun!” auch Strafworte über Seine Feinde, wie die: “Ihr Schlangen und Otterngezüchte, wie werdet ihr der höllischen Verdammniß entrinnen? Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollet ihr thun.” (Matth. 23,33. Joh. 8,44.) Und doch lesen wir von demselben Apostel, der da ermahnet: “Wenn deinen Feind hungert, so speise ihn; wenn ihn durstet, so tränke ihn; wenn du das thust, wirst du glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln; laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem” (Röm. 12,19-21.); ein andermal: “So euch Jemand Evangelium predigt anders, denn wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht. So Jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sei verflucht.” (Gal. 1,8.9. 1. Cor. 16,22.); hören ihn sprechen zum Hohenpriester Ananias: “Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand” (Ap.Gesch. 23,3.); sehen ihn schreiben an Timotheus: “Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses erwiesen, der Herr bezahle ihn nach seinen Werken” (2. Tim. 4,14.). Der Jünger der Liebe, Johannes, sogar schreibt in seinem Briefe: “So Jemand zu euch kommt und bringet diese Lehre nicht, den nehmet nicht zu Hause, und grüßet ihn auch nicht; denn wer ihn grüßt, der mach sich theilhaftig seiner bösen Werke” (2. Joh. V. 10.11.). Allerdings! So konnte der Herr, der Herzenskündiger, der allwissende Richter Seiner Feinde; so konnten die Apostel im Namen und Auftrage des Herrn sprechen – nicht aus Rache etwa für ihre Person, sondern entweder prophetisch als Verkündiger göttlicher Strafgerichte, oder aus Eifer für Gottes heilige, verläumdete und geschmähete Sache. Und daß sie so sprachen und nicht anders, daß sie in letzterem Falle scheinbar nicht segneten, sondern fluchten, nicht wohl-, sondern wehethaten und die Geißel schwangen: es geschah zuletzt doch nur aus Feindesliebe, ob vielleicht der Strenge noch gelingen möchte, was die Milde vergebens erstrebt hatte, ob die Strafe erschüttern könnte, nachdem die Gnade ihre Herzen nicht gerührt und getroffen hatte. Wie der Arzt nicht der Kranken, wohl aber der Krankheit Feind ist, und daher mitunter die unangenehmsten, schmerzlichsten Mittel wählen und dem Kranken wehe thun muß, um ihn zu heilen: so waren auch Jesus und Seine Apostel allezeit nur Feinde der Sünde, nie der Sünder; haßten das Böse an den Menschen, ihren Unglauben, ihre Bosheit, ihre Tücke, und griffen die Quelle ihres Elends an, wo sie wußten und konnten. – Insofern hat deßhalb auch dieses allgemein ausgedrückte Gebot seine Ausnahmen, wie alle frühern fünf beherzigten Fälle. Wir sollen nicht zürnen; aber doch giebt es einen heiligen Zorn. Wir sollen kein Weib ansehen, ihrer zu begehren; aber doch ist dies von der andern Seite wieder nothwendig zur Begründung eines glücklichen, ehelichen Verhältnisses. Die Ehe soll nicht geschieden werden, als kaum im Falle eines Ehebruchs; aber doch räth die Schrift selbst auch noch in andern Fällen zur Scheidung und Wiederverheirathung. Wir sollen keinen Eid schwören; aber doch muß ihn die Obrigkeit in der sündhaften Welt verlangen und er muß abgeleistet werden. Wir sollen keine Processe führen; aber doch giebt es kein anderes Mittel in dieser Welt, Streitigkeiten zu schlichten und zu entscheiden. So sollen wir daher auch unsere Feinde segnen und ihnen wohlthun; aber doch giebt es Fälle, wo wir ihnen wehe thun müssen. – Hätte Jesus von der allgemein ausgesprochenen Regel keine Ausnahme frei gelassen, so wäre allerdings durch diese Worte der Krieg schlechterdings sündhaft und verboten, und jener ganze, ehrenwerthe Stand, der seinen Arm ausschließlich darbietet für die Vertheidigung des Vaterlandes, durchaus verrufen; es wäre Frevel, ein Land im Kriegsstande, auf Angriffe von außen und zur Wehr bereit zu erhalten; und die Mennoniten hätten Recht, die darum jeden Kriegsdienst verwerfen. Denn was trägt so sehr den Charakter und das Gepräge des Feindeshasses, als Krieg und Blutvergießen, Rauben und Morden, Sengen und Brennen, Zerfleischen und Verstümmeln? Aber nein, wie unter den ersten Christen Hauptleute waren, und wir nirgends lesen, daß sie nach ihrer Bekehrung zum Christenthume aufgehört hätten, ihrem ehemaligen Berufe zu leben, so kann es auch rechtmäßige Kriege geben, Vertheidigungskriege, Befreiungskriege; - ihr kennt sie ja Alle noch die große Zeit, die vor vier und zwanzig Jahren unser Vaterland erlebte, ihr zoget ja zum Theil damals selbst das Schwerdt mit Gott für König und Vaterland. – Indeß freilich: besser ist besser! Besser Frieden, als Krieg! und jeder Staat, der ein christlicher sein will, hat daher die große Aufgabe, Kriege zu vermeiden, so viel wie möglich, sie immer seltener, immer entbehrlicher zu machen, und dahin zu streben, daß der Engelgruß: “Friede auf Erden!” je länger je mehr Wahrheit und Wirklichkeit werde, und die goldene Zeit heranblühe, in welcher die Schwerdter zu Pflugschaaren, die Spieße in Sicheln verwandelt werden und ein Jeglicher sicher wohnt unter seinem Weinstock und Feigenbaum. Die Ausnahmen sind also allerdings in einer sündhaften Welt nothwendig; aber die Ausnahmen setzen die Regel voraus, und die Heilsregel lautet doch immer: “Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.”

II.

Ihr merkt wohl, Andächtige, daß solche Aufgabe nur gelöst werden können von einem wahrhaft christlichen Herzen. Der natürliche Mensch kann sie nicht lösen und hat sie nie gelöst. Das natürliche Herz ist ein trotziges Herz und macht tausend Einwendungen, wenn es gilt, sich selbst zu verläugnen, sich zu demüthigen, vermeintliche Rechte fahren zu lassen und erlittene Kränkungen zu unterdrücken. Da ist bald die Eigenliebe zu empfindlich verletzt, bald der Stolz zu heftig aufgeregt, bald die Ehre zu schreiend beleidigt worden; da erhoben ein andermal der Eigennutz und die weltliche Klugheit ihre gebieterischen und entscheidenden Stimmen, oder es stellen sich äußere Umstände hemmend entgegen: - genug, Berge von Hindernissen steigen von allen Seiten empor, und es setzt viel Demuth voraus, wenn der Edelsinn der Feindesliebe aufkeimen und sprossen soll. Erst muß daher die Natternbrut selbstsüchtiger Gedanken zertreten, erst müssen die Nachtgespenster düsterer Zweifel und Bedenklichkeiten verscheucht, erst müssen die Höllenmächte widerstrebender Neigungen beschworen und überwunden werden, ehe diese erhabenste aller Tugenden geübt werden kann. Sie ist so erhaben, so großartig, daß sie auch in der Welt in der Regel die größte Bewunderung erregt, und diese immer gestehen muß, so oft sie Beweise derselben wahrnimmt: “Das ist mehr als menschlich, das ist wahrhaft engelartig gehandelt!” Nur der gläubige Christ also, der das Salz der Erde und das Licht der Welt sein soll, ist im Stande, den Pharisäer in der Brust zu überwinden und mit Liebe auch die zu umfassen, von denen er bisher nur den schwärzesten Haß erfahren hat. So enthülle dich denn, du großes Räthsel unserer Natur, erhabenen Feindesliebe, und schließe uns auf die Pforten deiner geheimnißvollen Geburt.

In der Eigenthümlichkeit der christlichen Nächstenliebe liegt es, meine Lieben, daß sie auch ihre Feinde lieben kann und muß. Die christliche Liebe ist durch und durch eine göttliche Liebe; sie liebt, weil Gott liebt, wen Gott liebt und wie Gott liebt. Das ist das selige Geheimniß. – Doch laßt uns lieber den Herrn hören im Texte, und die Bewegungsgründe kennen lernen, welche Er anführt.

Er sagt zuerst: Liebet eure Feinde, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel! Natürlich will Jesus damit nicht sagen: “Damit ihr durch solche Liebe Kinder Gottes werdet;” denn so wenig Jemand dadurch das Kind eines Andern wird, daß er ihm in seinem Wandel nachfolget und das thut, was er thut, sondern bloß durch Geburt und Annehmung an Kindes Statt; ebensowenig wird im Reiche der Gnade Jemand durch seine guten Werke und seine Nachfolge des Herrn ein Kind Gottes, sondern bloß durch die Gnade der Annahme des Kindes Statt, die sich in der Wiedergeburt zu erkennen giebt. Die Meinung ist vielmehr die: “Damit es offenbar werde, daß ihr Kinder eures himmlischen Vaters seid, weil ihr Dinge thut, in denen Gottes Wirkung sich vollkommen beweiset und die mit Seiner Natur und Seinem Wesen übereinstimmen, damit ihr Zeugniß ablegt von der großen, erstaunlichen Umwandlung, die in euch vorgegangen ist. Ihr waret einst allzumal Feinde Gottes und widerstrebtet für und für Seinem heiligen Geiste, und siehe, Er hat euch, Seine Feinde, zu Seinen Kindern gemacht um Christi willen; und ihr wolltet nun nicht einmal eure Feinde euch zu Freunden machen? Ihr hattet Gott auf das Entsetzlichste beleidigt, verstoßen, verachtet, und doch nahm Er euch an und sandte euch Seinen Sohn, um euch zu retten und selig zu machen: euch haben Andere nur beleidigt auf eine Weise, die gar nicht mit euren Sünden gegen Gott zu vergleichen ist, und ihr wolltet in eurer Abneigung und Widersetzlichkeit gegen sie verharren? Zehntausend Pfund hat euch der Herr erlassen, und ihr wolltet um hundert Groschen noch hadern mit eurem Mitknechte? Weil Gott euch zuerst geliebt hat, trotz eurer vielfachen Vergehungen, müßt ihr Ihn aus Dankbarkeit wieder lieben in euren Brüdern.

Denn Er läßt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Zweiter Grund. Wie Jesus, als Er auf Erden wandelte, von Seinem Verhältnisse zu Gott sagte: “Der Sohn kann nichts von Ihm selber thun, denn was Er siehet den Vater thun; was derselbige thut, das thut gleich auch der Sohn,” (Joh. 5,19.): so ist es auch Christengesinnung: “Wen Gott liebt, den liebe ich auch; Gott aber liebt alle Menschen, so liebe denn auch ich alle Menschen, selbst meine Feinde.” Er läßt Seine Sonne, die Er gemacht hat, die Ihm allein gehört, an der unter allen Lebendigen nicht Einer ein Recht hat, und über die sie Alle nichts vermögen, aufgehen über die Bösen und über die Guten: so will ich denn diese Sonne nie untergehen lassen über meinen Zorn. Er wölbt Seinen schönen Himmel über die weite Welt und läßt regnen über die Felder der Gerechten und Ungerechten: so will ich denn barmherzig sein im Kleinen, wie Er barmherzig ist im Großen, und mit Liebe auch die umschließen, die mich von ihrer Liebe ausschließen. Er, der große Herr der Welt, wird nicht müde, sich unserer anzunehmen und uns mit Langmuth zu tragen, Sein Gnadenantlitz steht immer offen über uns, und Er will, daß Alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen und Allen geholfen werde; Christus hat uns geliebt bis in den Tod hinein und sogar Sein Leben für uns gelassen: so will denn auch ich lieben die Seele, die Gott mit Langmuth trägt, die Christus mit blutigem Opfer erlöst hat, bis der feindselige Sinn besiegt ist und die kalte Brust sich erwärmt von Gefühlen der Zuneigung und Liebe.

Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? verdient ihr wegen einer solchen Liebe Dank? Ihr waret ja dazu verbunden durch die euch zuerst erwiesene Liebe. Thun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? mehr, als Andere? Thun nicht die Zöllner auch also? Die wahre Liebe ist keine parteiische, eigennützige Liebe, keine Liebe gegen Freunde und Wohlthäter, mit andern Worten, keine Selbstsucht, die im Andern sich selbst liebt; denn solche Liebe findet sich auch bei denen, bei welchen sich sonst gar keine Religion vorauszusetzen pflegt, die also nur durch selbstsüchtigen Instinkt geleitet werden, bei den habsüchtigen, hartherzigen, verhaßten, den Dieben und Mördern gleich geachteten Zöllnern. Die christliche Liebe liebt wie Gott, d.h. uneigennützig, ohne auf den Dank und die Erkenntlichkeit der Menschen zu rechnen. Gott liebt immer nur Sünder, von denen Er nie vollkommene Gegenleibe, Gehorsam und Dankbarkeit erwarten kann, die Ihn, auch wenn sie Seine Kinder geworden sind, doch immer wieder betrüben mit ihren Sünden. So liebet denn auch ihr eure Feinde, ohne je darauf zu rechnen, daß sie eure Liebe würdigen, daß sie je eure Freunde und Brüder werden können; liebet sie als Feinde und erwartet keinen andern Lohn und Erfolg, als die Versicherung des göttlichen Wohlgefallens und die Gewißheit der göttlichen Gnade. Wo solche Nächstenliebe waltet und man jeden Andern darum liebt, weil Gott uns liebt, weil Gott ihn liebt, und wie Gott liebt: muß da nicht von selbst die Feindesliebe geboren werden und in ihrer ganzen Glorie sich entwickeln? Das Geheimniß ist gelöst! Der Weg zum strahlenden Ziele ist gefunden! Gehet denn hin und thut desgleichen!

Jesus schließt nun das Ganze mit den Worten: Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Vollkommen sein heißt: wirklich und ganz das sein, was man ist. Der ist ein vollkommener Christ, der ganz, in seiner ganzen Gesinnung, nach seiner ganzen Denk- und Handelsweise Christ ist. Gott ist uns ganz, was Er uns ist; so soll denn auch unser Christenthum, unser Verhältniß zu Ihm, etwas Ganzes sein, und in dieser Ganzheit etwas Vollkommenes, wie Er vollkommen ist. Jesus hatte vorher gezeigt, wie Er nicht gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, und wie daher Sein wahrer Jünger, als das Salz der Erde und als das Licht der Welt, durch das innere Gesetz der Liebe, das ihm in’s Herz geschrieben, auch das äußere Gesetz, durch den Geist auch den Buchstaben halte, wie der wahre Christ auch ein versöhnlicher Mitmensch, ein treuer und reiner Gatte, ein gewissenhafter Bürger, ein guter Unterthan, sogar ein Freund seiner Feinde sei, und nun schließt Er das Ganze mit der Erklärung: “Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist!” Wenn wir also völlig geworden sind in der Liebe, dann sind wir vollkommen, wie Gott vollkommen ist und unsere Betrachtungen über den ersten Abschnitt der Bergpredigt wären gesegnet gewesen, wenn sie das Feuer der Liebe in uns von Neuem angeschürt und ihre Flamme neu belebt hätten. Auch Lucas, indem er die Worte der Bergpredigt in seinem Evangelio anführt, hat statt dieser Stelle die Worte: “Daum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.” (Luc. 6,36.)

Doch noch Eins, ehe wir schließen. Ueberblicken wir nun den ganzen Gang unserer bisherigen Betrachtungen: was müssen wir sagen? Als ein großer Mann des fünfzehnten Jahrhunderts, Laurentius Walla (1407 – 1457.), dieses Kapitel durchgelesen hatte, rief er aus: ”Entweder dies ist nicht wahr, oder wir sind keine Christen.” Können wir anders sprechen beim Rückblicke auf unsere Betrachtungen, meine Lieben? Entweder die Worte des Herrn in der Bergpredigt sind nicht wahr, sind übertrieben und unerfüllbar, oder, da wir das nicht wagen dürfen zu behaupten, - wir sind keine Christen, kein Salz der Erde, kein Licht der Welt, wir sind noch lange nicht vollkommen. Oder haben wir schon so unsere geistliche Armuth erkannt, gefühlt, und dem Geiste Gottes Gehör gegeben, daß uns täglich hungerte und durstete nach Gerechtigkeit? Haben wir schon so die barmherzige Liebe, das reine Herz und den friedfertigen Sinn uns angeeignet, daß wir mit Freuden leiden können um der Gerechtigkeit willen? Besitzen wir schon eine solche versöhnliche Nächstenliebe, eine solche keusche und treue Gattenliebe, eine solche Liebe zur Wahrheit und zum Frieden, eine solche Feindesliebe, daß Jesus sie könnte vollkommen nennen? Nein: wir sind noch keine Christen. Aber wir wollen’s werden, zu werden suchen. Wir wollen, wenn wir auch heute unsere Betrachtungen über das fünfte Kapitel Matthäi schließen, damit unsere Lese- und Lebeübungen dieses Kapitels nicht schließen, vielmehr wie eine Haus- und Herzenstafel sie aufhängen vor den Blicken unseres Geistes, daß ihre Vorschriften in uns Geist und Leben werden und allgemach immer mehr in Saft und Blut unseres inwendigen Menschen übergehen. Wir wollen mit aller Sehnsucht unserer Seele danach trachten, gestaltet zu werden in das Bild unseres großen Originals, gesinnt zu sein, wie Jesus Christus auch war; denn wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen. Amen.

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